Ich war dann mal radeln...

Ostern und eine Woche Ferien. Seit Wochen fast nur noch Fahrrad- und Regionalliteratur am Nachttisch. Das Fahrrad mit Gepäcktaschen nachgerüstet, nach preisgünstigen Unterkünften gesucht, Bahntickets gebucht - nun gibt es kein Zurück mehr. Aufgeschwungen, der Frühling hat sich eingestellt. Nach einem milden Winter haben die Vöglein ihn so zeitig aufgeweckt, nun ist er wieder da.

19. April, Karsamstag. Die Anreise mit der Bahn verläuft ganz nach Fahrplan, ist aber dennoch ein Kapitel für sich. Wenn es mit der Bahn nicht klappt, gibt es keinen Plan B. Dieses Kapitel zu Beginn erzählen, wo es hingehört? Nein, das verdirbt den Zauber des Anfangs. Das erste Mal in meinem Leben begebe ich mich auf eine Radreise – eine Woche lang habe ich Zeit dafür. Es ist ja überall zu lesen, wie gesund Bewegung sein soll. Mehr Beweggründe braucht es also nicht.

Früh morgens, bei dickem Nebel, nur fünf Grad, mache ich mich auf den Weg zum Bahnhof. Gut, dass ich meine Handschuhe im Gepäck finde. Dreimal muss ich umsteigen, nach fünf Stunden Bahnfahrt bin ich in einer Landschaft angekommen, wo viele Ortsnamen auf hausen enden. Am Bahnhof Silberhausen steige ich aus. Der Wind treibt endlich die Nebelschwaden auseinander und macht die Sicht auf eine schnurgerade Landstraße frei. Die Abfahrt ins Dorf hinunter gibt genau den Schwung, den man beim Start einer solchen Radtour braucht. Über Landstraßen, durch Dingelstädt und Kefferhausen, eine kleine Steigung hinauf, dann erreiche die Quelle der Unstrut, in Stein gefasst. An ihr fülle ich meine Wasserflasche auf.  Es tummeln sich schon einige Radler und Wanderfreunde an den Bänken. Zur Begrüßung klart der Himmel auf, die Sonne schickt wärmende Strahlen - und? Was höre ich da? Eine Blaskapelle? Dorffest? Kirmes?

Nein, die Musik kommt von der Konserve, ein Dutzend Jugendliche bei einer Art Gartenparty. Aber immerhin: Es hätte auch Technogedöns sein können. Und lange muss ich nicht rasten, ich bin ja nur der Vollständigkeit halber hier: Eine Flusswanderung beginnt nun mal an der Quelle, warum sollte ich dies ungeschriebene Gesetz brechen. Ab hier wird der Kilometerzähler auf Null gestellt, gedanklich nur. Ab hier zählt es, ab jetzt bin ich nur noch Radler. Für die nächsten 200 Kilometer meines an Kurven gewöhnten Lebensweges werde ich einzig der Kraft meiner Beine vertrauen - und dem Gleichgewichtssinn. Der kommt von den Ohren und auf die kann ich mich 100 Prozent verlassen.

Alle Trägheit der vorangegangenen Jahrzehnte verachtend, trete ich in die Pedalen und sauge die frische Frühlingsluft in tiefen Zügen in mich hinein. Der Duft der blühenden Rapsfelder ist berauschend. Wie froh kann ich sein, dass mich keine Allergien plagen. Ich will radeln, an historischen Orte innehalten, aber keinen Bildungsmarathon absolvieren. Draußen auf dem freien Land, im frischen Fahrtwind, den eigenen Gedanken nachhängen. Mögen die Kavallerien der Schweden und Preußen hier plündernd durch die Dörfer gezogen sein, ich streife friedlich durch diese Gegend, suche in der freien Natur die Seelenruhe, die mir die lärmende Stadt so oft raubt.

Ab jetzt folge ich der Unstrut talwärts, ein Bächlein auf ihren ersten Kilometern, mal links, mal rechts des Weges, befestigte Ufer in den Dörfern. Vom Osterbrauch des Steckenpferdreitens in Dingelstädt, über den ich im Radführer las, bemerke ich nichts, noch nichts. Denn sehr wahrscheinlich findet der heidnische Mummenschanz nicht vor dem katholischen statt. Doch heute ist erst Karsamstag. Die Dorfbewohner sind mit Bauarbeiten an ihren Häusern beschäftigt, mähen Rasen, putzen ihre Autos oder ihre Vorgärten. Kein Garten ohne bunte Ostereier - sie hängen an jedem Strauche, viel mehr als ich jemals brauche. Sogar eine Magnolie in voller Blütenpracht wird von diesem Plastikplunder verunstaltet. Irgendwo bei Erfurt soll ein Kleingärtner zigtausend bunter Ostereier an einen Baum gehangen haben. Das ziehe jedes Jahr mehr und mehr Schaulustige an, las ich im Internet. Gut so, jedem Tierchen sein Pläsierchen. Meines ist eine freie Strecke, möglichst wenig Begegnungen.

Ich folge den Radwegschildern gen Mühlhausen, wo ich am späten Nachmittag eintreffe. Die Altstadt betrete ich durchs historische Frauentor, welches Bestandteil einer gut erhaltenen Befestigungsanlage ist. Nun muss ich mich entscheiden, links oder rechts weiter, einen Stadtplan habe ich nicht. Der Chauffeur eines auf Touristen wartenden Eisenbahnvehikels mit Gummibereifung erklärt mir alle möglichen Varianten, die ich nehmen könnte, was, wie ich nachher feststellen kann, länger dauert, als ich für den kurzen Weg überhaupt brauche. Dann gibt er mir sein Faltblatt, das einen Plan der Altstadt enthält. Etwas Werbung müsse sein,  erklärt er schmunzelnd. Dem kann ich nur zustimmen, zumal er wohl gerade noch Kundschaft gebrauchen könnte. Glaubt der freundliche Mann womöglich, ich hätte in meinen Gepäcktaschen Kinder versteckt, die ich ihm nun als Fahrgäste auspacken könnte?

Nur zwei Gassen weiter, einmal rechts, einmal links abgebogen, schon stehe ich vor dem Gasthaus “Zum ewigen Rath“ - dort  habe ich ein Zimmer gebucht. Die Gemäuer des Hauses könnten um einiges älter sein als der merkwürdige Name der Gastwirtschaft. Hatte Thomas Münzer in diesen Mauern den „Ewigen Rath“ versammelt, mit dem er gegen die Fürsten zog? Der hohe Raum und das Inventar der Gaststube wirken durchaus wie aus Zeiten der Reformation. Nicht ganz stilecht die modernen Gerätschaften. Auf einer Kommode steht ein Laptop, der Wirt ist in ein Computerspiel vertieft – auf dem Bildschirm sieht es nach Moorhuhn-Schießen aus. Und dabei kann es um alles gehen, wer will sich schon von gackernden Moorhühnern auslachen lassen. Da will ich lieber nicht durch banale Frage von trivialem touristischen Interesse stören.

Mein Bummel durch die Stadt führt mich zuerst an der Marienkirche vorbei, dann gelange ich wieder zum Frauentor. Ich erklimme den Rabenturm an der Stadtmauer, von wo mein Blick über die Dächer der Stadt schweift. Die zahlreichen Kirchtürme ragen aus dem Meer der roten Dachziegel empor, über allen thront die zentral gelegene Marienkirche mit ihren hellen Fassaden und spitzen, von Grünspan leuchtenden Türmen. Ich drehe mich zur anderen Seite. Auf dem Platz vor der Altsstadt reihen sich Karussells und Fressbuden aneinander. Die übliche Beschallung mit Schlagergedudel beherrscht das Geschehen, das schon weit vor der Stadt als “Frühlingsfest auf dem Blobach“ plakatiert wurde. Wie trostlos, wie primitiv, wie technisiert ist diese inhaltslose Jahrmarktskultur doch.

Ich spaziere auf der Stadtmauer entlang, die den Blick in die Höfe jahrhundertealter Fachwerkhäuser gestattet, manches restauriert und gepflegt, anderes dem Verfall überlassen. Auch auf der zentralen Achse der Altstadt findet sich noch manches Gebäude, das keinen Investor zu reizen scheint, so das einstige Restaurant “Goldener Stern“, an dem noch der Zusatz “HO“ aus DDR-Zeiten zu erkennen ist. Mit Sperrholz sind Türen und Fenster des Erdgeschosses verbarrikadiert, in den oberen Etagen laden offene Fenster und zerschlagene Scheiben die Tauben zur Hausbesetzung ein. Damit stehen dem weiteren Verfall Tür und Tor offen.

An Kirchen ist die mittelalterlich verwinkelte Stadt reich. Sie künden nicht nur von Mühlhausens einstiger Bedeutung als religiösem Zentrum Thüringens, der Obermarkt ist auch von barocken Bürgerhäusern flankiert, wie sie nur in Zeiten blühenden Handels entstehen. In den Untermarkt, den die Divi-Blasii-Kirche beschattet, verläuft sich zu dieser Abendstunde kaum noch jemand. Beim “Brauhaus zum Löwen“, ein gepflegtes Fachwerkhaus, steht ein Dutzend Tische draußen, an einigen sitzt plärrendes Volk und der Rauch von Zigaretten hängt in der windstillen Luft. Die restlichen Tische sind mit Ketten angeschlossen – nicht sehr einladend. So kommt nicht zusammen, was nicht zusammengehört - angekettete Stühlen können einen freien Menschen nicht einfangen.

Was mag sich in diesen Gassen zu Zeiten der Bauernaufstände abgespielt haben? Es muss heiß hergegangen sein, die Plätze voller Gewimmel, Streit und Tratsch, Händler und Quacksalber, Priester und Pfaffen, Bürger und Bauern – die Nachrichten gingen noch von Mund zu Mund. Jede Neuigkeit kam aus vielen Mündern und über viele Münder in die Stadt. Wer genug Verstand und Mut hatte, sah dem Volk aufs Maul und hielt den Mächtigen den Spiegel vor. Meinungsbildung fand auf der Straße statt, nicht in Fernsehstudios. Meistro Johann Sebastian Bach saß an der Orgel und komponierte. Und kein Geringerer als der Bachkenner Albert Schweitzer wirkt am Konzept der neuen Schuke-Orgel mit, die 1959 eingeweiht wurde.

Leblos ist der Platz heute. Wo sind die Touristenheere? Trotz ausgebuchter Pensionen schlendere ich durch leere Gassen. So an die 50 Tischlein haben das Eiscafe und das Irish Pub am Obermarkt aufgestellt, nur drei sind besetzt, meiner mitgezählt. Beim siebten Glockenläuten sind auch diese verlassen. Immerhin, ein paar Kinder brettern noch auf Skateboards durch die Fußgängerzone. Die neun hölzernen Figuren, die sich aus den Fenstern eines Hauses in der Herrenstraße lehnen, sind den Menschen, die jetzt noch in diesen engen Straßen unterwegs sind, an Zahl überlegen.

Es bleibt noch eine Runde durch die unteren Stadtviertel. Mehr ist nicht los an einem sonnigwarmen Frühlingsabend, am Karsamstag. Selbst die Übertragung eines Bundesligafußballspiels auf dem Großbildschirm im Irish Pub lockt nur zwei Männer. Jeden kleinen oder auch nur vermeintlichen Fehltritt kommentieren sie lautstark, ihre von Pils und Korn geformten Körper zeugen von hoher Kompetenz – als Maulhelden.


20. April, Sonntag. Mein nächstes Quartier liegt nur 15 Kilometer entfernt, in Volkenroda. Doch vor dem späten Nachmittag will ich dort nicht eintreffen. Deshalb fahre ich zunächst den Unstrut-Radweg in östliche Richtung, nach Bollstedt führt der Weg durch grüne Felder. Der Genuss der frischen Morgenluft wird nur durch die giftig riechenden Abgase einer Industrieanlage getrübt. Ich versuche die Luft anzuhalten, doch als ich wieder atmen muss, rieche ich noch immer die Dampffahne - und steige ab, damit ich nicht zu viel davon inhaliere.

Dann geht es durchs Dorf Altengottern, wo die Bänke in einem kleinen Park zur Rast einladen. Links eine alte Kirche, von einem Baum bricht ein großer Ast ab, just in dem Moment, als ich hinschaue. Hinter mir ein großes altes Gebäude, das ein Wohnheim sein könnte. Zwei Mädchen kommen heraus, beäugen mich und gehen tuschelnd weiter, kehren bald zurück und fragen mich schüchtern, ob ich ein Feuerzeug hätte. Ich weiß, dass ich eins habe, finde es aber nicht. Ich frage sie nach der Nutzung des Gebäudes. Sie verraten mir, dass es sich um ein Kinder- und Jugendheim handelt. Dass darin das Rauchen verboten ist, versteht sich von selbst. Sie wollen wieder ins Heim und so bitte ich die Mädchen, ob sie mir meine Wasserflasche auffüllen könnten. Als sie wieder herauskommen, habe ich das Feuerzeug gefunden, so dass sie sich ihre Zigaretten anzünden können. Sie bedanken sich und wünschen mir eine gute Fahrt - und frohe Ostern.

Weiter entlang grünen Feldern. Am Wegesrand zwischen Großgottern und Seebach gerät ein Gedenkstein in meinen Blick, er soll an den Absturz eines amerikanischen Piloten während der Berliner Flugbrücke von 1948 bis 1949 erinnern. Der Bauer, der ihn anlässlich des 50. Jahrestages 1999 errichten ließ, kommt zur gleichen Zeit mit seinem VW-Transporter an und ruft mir zu, ich möge doch vor dem Foto noch warten, damit er den im Wege liegenden Ast noch beiseite räumen kann. Auch ein Papiertaschentuch liest er auf, empört über die Respektlosigkeit des einstigen Besitzers. Ich erkundige mich nach den Zusammenhängen des Unglücks und erhalte ausführlich Auskunft. Alles gründlich recherchiert, versichert er mir, auch das Fernsehen sei zur Einweihung hier gewesen. Manche der hier vorbeikommenden Leute wüssten ja nicht mal, was die Berliner Luftbrücke war und dass die mit den Bombardements auf Dresden gar nichts zu tun hat. Als ich mich als Dresdner zu erkennen gebe, geht der alte Mann zum Du über - auch er stammt aus Sachsen.

Ziel meines Tagesausfluges ist das urwaldartige Waldgebiet Hainich, von der Unesco in den Stand des Weltkulturerbes erhoben. Leider bleibt mit keine Zeit, tiefer in das Naturschutzgebiet einzudringen, denn es ist bereits Nachmittag und der Weg nach Volkenroda ist nun doch lang, geht zudem überwiegend bergan. Über Höngeda und einen Berg vor dem Dörfchen Grabe gelange ich wieder auf den Radweg.

In der Kirche von Volkenroda will ich das Konzert der Arcis-Vocalisten aus München erleben, doch bis 20 Uhr ist noch viel Zeit. Wahrscheinlich wäre das reservierte Heuhotel auch ohne Anmeldung noch frei gewesen. Jedenfalls bin ich der einzige Nutzer eines der vier mit Stroh ausgelegten alten Bauwagen, die um einen Feuerplatz gruppiert - schön im Grünen - stehen. Alle anderen Unterkünfte in den Gästehäusern sind ausgebucht. Es sei noch ein Bett in einem Gemeinschaftsraum frei, offeriert mir die charmante junge Frau von der Rezeption. Ich ziehe das romantische Nachtlager dem Schlafsaal vor. Da gibt es keine Schnarcher und es kostet fast gar nichts, aber vor allem gibt es eine authentische Vorstellung von dem bescheidenen Komfort, den der arme Pilgersmann früherer Zeiten hatte: ein trockenes Lager im Stroh - und gut. 

Zum Abendbrot tummeln sich einige Dutzend Kinder in den Speisesälen, das Geklapper von Besteck und Geschirr ergänzt das Stimmengewirr. Ich lächle den Kindern zu, die mich Einzelgänger nicht zuordnen können, doch einer der Väter scheint meine Gedanken lesen zu können: “Ganz schön was los hier!“ sagt er zu mir. Oh, ja, die Geräuschkulisse in den großen Räumen entfaltet ihren eigenen akustischen Charme. Schnell etwas gegessen und dann hinaus. Da treffe ich wieder die junge Frau von der Rezeption, sie hat ein verführerisches Lächeln. Wahrscheinlich sollte ich etwas zu ihr sagen, falls ich mehr davon sehen wollte.

Noch eine knappe Stunde bis zum Konzert, da treffe ich meinen einstigen Schulkameraden, der hier in der Verwaltung arbeitet. Es bleibt noch Zeit für einen Rundgang durchs ehemalige Kloster und so erfahre ich einiges über die Geschichte der Anlage. Das Mitte des 12. Jahrhunderts gegründete Zisterzienserkloster kann auf eine wechselvolle Geschichte zurückblicken. Im Laufe der letzten Jahrhunderte verfiel das Kloster, in DDR-Zeiten hätte es beinahe das Schicksal anderer Sakralruinen geteilt, der Abriss war im Gespräch. Was nach der deutschen Wiedervereinigung dort an Aufbauleistung erfolgte, verdient Respekt. Ab 1994 übernahm die Jesus-Bruderschaft des Klosters Gnadenthal in Hessen den Wiederaufbau. Durch die Öffnung der Gebäude für den Fremdenverkehr und als kultureller Treffpunkt erfuhr das Kloster eine starke Neubelebung.

Ursprünglich gingen von hier vier weitere Klostergründungen aus, einige der Pilgerwege zwischen diesen Klöstern sind bis heute erhalten. Einer führt nordwestlich zum Kloster Loccum in Niedersachsen, der andere in den Süden zum Kloster Waldsassen in Ostbayern. Anfang des 16. Jahrhunderts war der politische Einfluss des Klosters Volkenroda auf seinem Höhepunkt. Die Äbte missbrauchten ihre Macht, indem sie den Bauern immer härtere Abgabenlasten aufgebürdeten. Auch in Mühlhausen, wo sie durch Zukauf von Höfen Handelseinfluss gewannen, wuchs ihr Einfluss. Dazu kamen Ablasshandel und Willkürurteile gegen Bauern - mit der Folge: Schon vor den historischen Bauernaufstände griffen die Bauern das Kloster an, brannten Gebäude nieder, zerstörten Devotionalien, plünderten, was ihnen nützlich erschien.

Durch einen modernen gläsernen Anbau flutet das warme Abendlicht ins Innere der Klosterkirche und lässt den Altar wie in einem Scheinwerferlicht aufleuchten. Gleich darauf schweifen die Strahlenbündel der Sonne durch das übrige Gewölbe. Nach einer kurzen Ansage des Pfarrers beginnt das Konzert. Der Leiter des Münchner Chores erläutert jedes einzelne Lied aus den Werken von Bach, Schütz und Bartholdy - und warum er es für dieses Osterkonzert ausgewählt hat. Insofern ist das Konzert auch ein musikgeschichtlicher Vortrag. Wie in den meisten Gewölbebauten erschwert starker Hall das Verständnis der Worte. Der Text des als Duett vorgetragenen Liedes “Unser Leben währet siebenzig Jahr“ veranlasst den Chorleiter zu der Bemerkung, dass die durchschnittliche Lebenserwartung wohl auch vor Zeiten des demographischen Wandels nicht geringer war: “Und wenn’s hochkommt, sind’s 80 Jahr.“ Wie wahr, wie wahr... Gezählt ist jeder Frühling, jeder Sommer! Ich habe dieses Osterwochenende und ein paar Tage Ferien, also nutze ich sie – hier und jetzt.

Nach dem Konzert trinken wir eine Flasche roten Unstrut-Wein. Eine Neige genieße ich noch allein in der  Abgeschiedenheit meines Navchtlagers, dann lege ich mich ins Stroh, sinke in tiefen Schlaf. Als ich morgens mit den Vögeln erwache, merke ich, wie hart so ein Strohbett ist, wenn man es schlecht vorbereitet hat. Mit gut übereinander geschichtetem Stroh lässt sich ein weicheres Nachtlager herrichten. Aber daran sollte man denken, bevor man sich in Bacchus Arme legt.

21. April, Ostermontag. Mit den Pilgern von einst verbindet mich allenfalls, dass ich für meine Wanderung schon die Morgendämmerung zum Aufbruch nutze. Bis zur nächsten Unterkunft, dem Kloster Sankt Wigberti in Werningshausen, ist ein weiter Weg zu radeln - und ein am Horizont grummelndes Gewitter verheißt Regen. Ich beobachte den Himmel und stelle fest, dass die dunklen Wolken, unter denen Regenschleier hängen, langsam in meine Richtung ziehen. Also krame ich das Regencape hervor, um es griffbreit zu haben. Gleich nach dem Rollen ins Tal nach Körner hinab treffen mich die ersten Tropfen - das knallrote Regencape muss nun seine erste Probe bestehen. Zum Glück zieht das Gewitter vorbei, der Regen lässt bald wieder nach und hört schließlich auf.

Der Weg zu meinem nächsten Etappenziel führt mich zunächst durch einige Dörfer, die ich bereits gestern durchfuhr: In Altengottern raste ich wieder kurz an der Bank beim Kinder- und Jugendheim.  Nach Großgottern geht es wieder durch grüne Felder, nochmals muss ich an der giftigen Dampffahne vorbei, die mich schon gestern die Luft anhalten ließ. Es schließen sich Auenlandschaften an, die Wiesen dampfen vom Regen. Am Horizont kündet die Spitze eines Kirchturms von Zivilisation - und die Masten von Windstromanlagen und Überlandleitungen nehmen die Illusion, auf paradiesische Wildnis zu treffen.

Doch inmitten der weiten Auen eine umzäunte Weide, die einer Herde Heckrinder als Refugium dient. In meinem Radführer werden die scheuen, nach ihren Züchtern benannten Rinder als Nachfahren der ausgestorbenen Auerochsen erwähnt, was allerdings weniger als die halbe Wahrheit ist. Vielmehr handelt es sich um den Versuch einer “Rückzüchtung“ durch Kreuzung robuster Rassen, wie sie etwa in den Pyrenäen oder im rauen Klima Schottlands noch vorkommen. Die Brüder Heck hatten dabei das Idealbild des athletischen Auerochsen vor Augen, der bereits im 16. Jahrhundert ausgerottet war und den sie also selbst nur von alten Gemälden her kannten. Nur in sehr strengen Wintern dürfen Heckrinder etwas Futter erhalten, damit sie nicht verweichlichen wie’s deutsche Stallvieh.

Den Krieg und seine Nachwirren überlebten nur verstreute Herden, die sich teils wieder ohne züchterischen Eingriff fortpflanzten. Heutige Heckrinder sind demnach selbst bereits als Nachfahren eines Zuchtversuchs zu betrachten, ihr Erscheinungsbild ist so heterogen, dass sie sich gern mit anderen Exoten verwechseln lassen. Gemein dürfte ihnen die Scheu vor fremden Menschen sein. Ich nähere mich sehr vorsichtig dem Zaun, mit Neugier und großer Vorsicht verharren die Kälber in meiner Nähe. Während ich ein Foto machen will, rutsche ich im Schlamm und muss ausbalancieren – meine ruckartige Bewegung erschreckt sie und treibt sie in die Flucht, lässt sie an der Seite ihrer Eltern Schutz suchen, die mich aus sicherer Distanz im Auge behalten.

Einige Kilometer weiter erreiche ich Thalmsbrück, das auf einem Hügel liegt. Von den Feldern am Ausgang des Dorfes kann das Auge über die weiten Flächen des Thüringer Beckens schweifen. Mit dem Fernglas sind am Horizont die Dächer von Bad Langensalza erkennbar. Etwa halb 11 erreiche ich das historische Zentrum der Blumenstadt, Rosen zieren die Plätze. Doch nicht nur heimische Gewächse schmücken die Straßen. An einer Kreuzung wird der Blick von zwei ausgewachsenen Palmen eingefangen – nicht diese Kübelpflanzen, die vor manchen teuren Hotels stehen, nein, richtige Bäume, als befände man sich in mediterranen Gefilden.

Der Kellner eines Straßencafés deckt gerade die Tische – ich frage, ob schon geöffnet sei. Erst um elf, antwortet er, aber wenn ich nur eine Tasse Kaffe wollte, das ginge schon. Also setzte ich mich an einen der drei Tischlein, was schnell Nachahmer findet.  Eine Frau betritt eiligen Schrittes das Café, kurz darauf das Personal zur Räson rufend. “Wir öffnen um 11 und nicht halb 11.“ Dann, inzwischen beschürzt, kommt sie heraus, legt schnell ein Lächeln auf, nimmt an den anderen Tischen Bestellungen entgegen. Drinnen hört man sie wieder poltern und schimpfen. Der freundliche Kellner serviert mir den Latte macchiato, ich frage ihn nach der Stimmung im Haus... „Was will man machen...“, antwortet er: “So sind Frauen eben manchmal.“

Der Kaffee war gut und gibt mir neuen Schwung. Mit dem verlasse ich die Stadt, denn draußen auf freier Strecke fühle ich mich am wohlsten. Die Sonne scheint und wärmt inzwischen, das lockt Ausflügler und Radler hinaus. Kurz hinter Nägelstädt beginnt ein Naturschutzgebiet, nicht weit hinein ins Grüne und schon findet sich ein Gartenlokal mit Selbstbedienung, der Grill räuchert schon, Wandergruppen pfeifen sich die ersten Biere ein. Für mich die Gelegenheit zum Brunch. Nach dem Ausflugslokal beginnt die Strecke idyllisch zu werden. Immer enger wird der Pfad im Unstruttal. Kommen Radler oder Wanderer entgegen, muss ich manchmal anhalten. Doch weiter entfernt sind die Begegnungen nur selten. Bis zum Dorf Großvargula führt der Weg nahe am Ufer der Unstrut entlang, eine Kette von Hügeln zu beiden Seiten des Flusses schirmt den Lärm der Außenwelt ab. Schon dafür hat sich der weite Weg gelohnt. Dann geht es wieder durch Dörfer, teils über Landstraßen mit wenig Verkehr, tendenziell bergan.

Im Naturschutzgebiet Haßlebener Ried werden einstige Moorlandschaft renaturisiert. Informationstafeln erläutern die Flora und Fauna – und kaum dass ich wieder im Sattel sitze, erlebe ich die eben gelesenen Informationen mit eigenen Augen. Ich will einem Zweig ausweichen, der sich plötzlich bewegt – eine Ringelnatter. Vielleicht wollte sie sich auf dem warmen Asphalt aufwärmen, wahrscheinlich war sie selbst überrascht. Ich muss bremsen und schaffe es rechts an ihr vorbeizukommen, sie kann nach links in Gras entwischen. Schilf und Gestrüpp bietet zahlreichen Arten Schutz, besonders Vögeln. Doch nichts kann sie vor dem Lärm der Zivilisation schützen. Ist der Straßenverkehr auch weit und die Rasenmäher und Traktoren nur von fernen Dörfern zu hören, ein Flugzeug ist immer am Himmel.

Am Ortseingang von Werningshausen kommen mir Reiter entgegen, gefolgt von einer Kutsche,  Autos und Fußgänger im Tross. Das sogenannte Osterreiten ist demnach schon im Gange oder vorbei, die Segnung der Pferde durch die Mönche des Klosters St. Wigberti habe ich also verpasst. Als ich im Dorfkern ankomme, brechen die letzten Reiter mit ihren Pferden auf. Auch viele Hunde sind vor Ort – wie ich nachher mitbekomme, sind auch sie segnungsfähige Geschöpfe, jedenfalls dürften ihre Herrchen und Frauchen davon überzeugt sein. Für die Benediktiner, die das Segnungsritual vollziehen, ist es eine Geste: Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes, Amen – und alles Gute! Möge der Weg in die Kirche über Hund und Katze führen. Einer der Mönche, erkennbar an seiner schwarzen Kutte, sitzt noch mit den Dörflern am mobilen Bierausschank. Um die aufgestellten Tische tummeln sich wohl hundert Leute, die meisten scheinen sich gut zu kennen, Dorf eben.

Das Kloster betrete ich zunächst von einem Seiteneingang. Zuerst bemerke ich die “Wetterstation“, ein Stein an einer Kette und ein Schild mit Erläuterungen - Ironie auf den Vorhersagewahn: “Ist der Stein nass, hat es geregnet. Bewegt sich der Stein hin und her, stürmt es.“ Dann betrete ich die Kirche, deren helles Innere mich überrascht. Weiße Wände und Decken, eckige Säulen, aufgemalte Marmormaserung, überwiegend einfache, fast modern anmutende Verzierung. Hier schaut dich nicht aus jeder Ecke ein ganzes Heer von Engeln an. Keines dieser übervollen Gemälde mit biblischen Mythen, nur eine große, stilisierte Jesusfigur thront an der Wand hinterm Altar - in der Pose des Gekreuzigten, aber ohne Kreuz: die ausgebreiteten Arme können auch als einladende oder Schutz versprechende Geste wahrgenommen werden.

Wie kann eine alte, Mitte des 18. Jahrhunderts gebaute Kirche so frisch wirken? Zu Zeiten der SED-Diktatur war sie dem Verfall preisgegeben. Der Sprengmeister, der im Nachbardorf Vehra bereits sein unumkehrbares Handwerk getan hatte, mochte sich schon auf den nächsten Auftrag gefreut haben. Doch dem kamen in den frühen 1970ern Benediktinermönche und andere Werningshausener zuvor. In nur neun Monaten gelang ihnen die rettende Renovierung, wohlgemerkt aus eigenen Mitteln und zu finstersten Zeiten des Stasiregimes! Nicht minder beachtenswert ist der Bau einer Marienkapelle im Jahre 1984, einer Zeit, als der wirtschaftliche Verfall des Realsozialismus weder zu verbergen noch aufzuhalten war, als sich in den Behörden der DDR die Ausreiseanträge stapelten.

Als Höhepunkt des fleißigen Schaffens darf der Bau eines im Fachwerkstil errichteten Klostergebäudes gesehen werden, gekrönt von einem golden glänzenden Zwiebeltürmchen. In Verbindung mit dem alten Pfarrhaus zu einem Dreiseitenhof ausgebaut, dessen offene Seite eine künstliche kleine Teichanlage integriert, assoziiert das Areal mediterrane Verspieltheit. In einer Voliere springen exotisch bunte Vöglein umher, mein Erscheinen regt sie auf.

Am Eingang des Hauptgebäudes mit seinem kleinen Säulengang steht eine Bronzestatue, die den Heilige Wigbert darstellt. Der Namenspatron des Klosters ist mit einer Weintraube und Kelch dargestellt, Attribute, die sich auf eine Legende beziehen. Dieser zufolge habe der Mönch zu seinen Lebzeiten aus Mangel an Messwein das Wunder vollbracht, eine frisch gepflückte Traube mit bloßen Händen in einen Abendmahlskelch auszupressen - und siehe da: Der Saft war schon vergoren! Wunschdenken durstiger Mönche? Ora et labora! – so lautete das Motto der Benediktiner. Mit Gebet und Arbeit lässt sich so mancher Berg versetzen. Was die fleißigen Mönche hier auf die Beine gestellt haben, verlangt allen Respekt.

Nur sechs Mönche leben hier derzeitig, erklärt mir Bruder Bodo. Zwei, drei mehr könnten es ruhig sein, um das Kloster am Leben zu erhalten. Der Gründer des Priorats, Pater Franz ist eigentlich im Ruhestand, nichtsdestotrotz spürt man: Er ist der Chef - und alles andere als altmodisch oder weltabgewandt. Sogar einen Youtube-Kanal hat er, in dem lassen sich sowohl einige Predigten in der Kirche als auch Gespräche zur Geschichte des Klosters abspielen. Auch die Webseite des Klosters kann sich sehen lassen.

Vom Fenster meines Gästezimmers im alten Pfarrhaus kann ich den Hof überblicken, ein Weilchen sitze ich am Schreibtisch davor, schreibe die Eindrücke des langen Tages – vom Aufbruch in Volkenroda bis zu dieser frühen Abendstunde auf. Ich lese auch etwas  in der bereitgelegten Bibel, doch nach der langen Fahrt dirigiert mich die Müdigkeit in Richtung Bett. Auf dem Kopfkissen liegt ein Täfelchen Rittersport. Dem kann ich nicht widerstehen. Und selbst vom Bett aus kann ich noch in den idyllischen Hof blicken, über den gelegentlich noch einer der Mönche läuft, nun auch in Freizeitkleidung. Ein paar Seiten kann ich noch lesen, dann wird es duster – und ich schlafe mit dem Untergang der Sonne ein.

22. April, Dienstag. Der Wecker ist auf halb sieben gestellt, da ich der Einladung folgen will, dem Morgengebet der Mönche beizuwohnen. Doch ich wache ganz von selbst mit den ersten Sonnenstrahlen auf - und mit dem Gurren der Tauben, die ihren Verschlag gleich am Giebel gegenüber haben. Seit dem Beginn meiner Reise bin ich Frühaufsteher, mein Biorhythmus hat sich umgestellt. Zwei der sechs Mönche sind schon im Oratorium, andächtig schweigend erwarten sie die anderen, die einzeln eintreffen - jeder mit der Verbeugungsgeste, die dem Betreten jenes Refugiums gebührt, in dem alle Eitelkeit der Welt zu schweigen hat und nur die Lobpreisung Gottes sich Gehör verschaffen soll. Die Psalmen werden nach fest eingeübten Regeln rezitiert oder einstimmig gesungen, die letzten auf lateinisch. Nach einer halben Stunde verlassen die Mönche das Oratorium. Ein Wink von Bruder Bodo zeigt mir an, dass ich mich anschließen soll. Im Korridor zur Reihe aufgestellt, wünscht mir jeder einzelne der fünf Mönche einen gesegneten Morgen. Damit endet das Ritual und jeder geht seines Wegs.

Im Speisesraum des Pfarrhauses bin ich der einzige Gast. Die Mönche nehmen ihr Frühstück gleich in der Küche und besprechen dabei auch anstehende Arbeiten. Nach dem Essen gieße ich mir eine Tasse Kaffee ein, als es an der Tür klopft. Bruder Bodo leistet mir noch etwas Gesellschaft. Wir unterhalten uns eine Weile über den Klosteralltag. Mönche seien auch nur Menschen - mit Fehlern und Schwächen, sagt er: “Einer unserer Brüder hat heute verschlafen, deshalb waren wir nur zu fünft im Oratorium.“ Vielleicht war es derjenige, der mir seinen Wecker geliehen hat – den ich dann doch nicht brauchte...

Ich frage mich, was wohl so ein Mönch am Abend in seinem Zimmer tun mag. Nach den vier Gebetszeiten jedes Tages dürfte es sich dann vielleicht genug gebetet haben. Werden Sie auch nach getanem Tageswerk noch die Bibel studieren oder theologische Literatur wälzen? Oder gucken sie einfach etwas in die Glotze? Letzteres kann ich mir nicht vorstellen, denn da läuft ja fast nur unfrommer Schrott, würdelose Volksverblödung. Das passt nicht zum Ideal der christlichen Liebe. Auf jeden Fall leben die Männer, auch wenn das altertümliche Mönchsgewand dies suggerieren könnte, alles andere als weltabgewandt. Sie nutzen die modernen Medien, das Internet.

Die ökumenische Ausprägung der hiesigen Benediktiner, als Priorat in einer evangelischen Landessynode, mag luftdurchlässiger als die katholische Hierarchie wirken, aber ganz ohne Reibungsflächen geht es in gemeinschaftlich gestalteten Lebensräumen nirgends. Der Kultus steht immer über dem Sinn. Der eherne Arbeitsethos der Mönche mag mit dem Lebensalltag des Dorfes Hand in Hand gehen, doch die Unschuld im Garten Eden, die beim österlichen Segnen von Pferd und Reiter vielleicht wieder hergestellt werden soll, ist ein für alle Mal verloren. Da kann der kleine Pudel noch so lustig mit dem Schwänzchen wedeln, wenn er vom Pater gesegnet wird. Ich kann nicht nachvollziehen, wie aufgeklärte oder doch wenigstens entzauberte Menschen des 21. Jahrhunderts, denen in diesem Lande sonst nichts fromm ist, darauf hoffen können, dass eine schlichte Handbewegung Wunder oder Heilung bewirkt. Wahrscheinlich sagen sie sich einfach: Es kann nicht schaden, die anderen machen es ja auch alle.

Mit einer besonderen Erfahrung verlasse ich das Kloster und seine gastfreundlichen Bewohner. Nun fährt es sich ein längeres Stück rechts des Unstrutufers entlang, auch hier wiederbelebte Auen und alte Flussarme, wo gelegentlich ein Graureiher auf Beute lauert. Zu der gehören vor allem Fische, weshalb er auch als Fischreiher bekannt ist. Doch der einzelgängerische Jäger hat selbst allen Grund, auf der Hut zu sein. Obgleich sich seine Art seit Jahrzehnten wieder vermehrt und, begünstigt durch die Klimaerwärmung, ausbreitet, scheint das kollektive Gedächtnis dieser Spezies die Erinnerung an gefährliche Zeiten gespeichert zu haben. Sobald ich mein gemächliches Tempo auch nur geringfügig verringere, erhebt sich der argwöhnische Vogel, der bis vor 30 Jahren Freiwild war, in die Luft. Mit wenigen Flügelschlägen steigt er auf und segelt am Fluss entlang, um Hunderte von Metern entfernt einen anderen Standposten anzufliegen. Um den langhalsigen Vogel unbemerkt beobachten zu können, müsste man seine Jagdreviere gut kennen und vor seiner Landung in einem Versteck auf ihn warten. Doch auch der flüchtige Anblick des scheuen Gesellen bietet dem einsamen Wanderer ein Bild der Anmut. Was sind wir Menschen - Gesicht zu Gesicht mit diesen geflügelten Lebenskünstlern  doch für armselige Würmer! Der Graureiher mag ängstlich sein und beim geringsten Verdacht auf Gefahr das Weite suchen. Er hat Gründe dafür. Vor allem aber: Er kann es. Er kann fliegen!

Kurz vor Sömmerda ändert die Unstrut ihre bisher überwiegend östliche Richtung gen Norden. Ich erreiche die Kreisstadt über eine überdachte Holzbrücke und setze mich im Stadtpark auf eine Bank, wo ich ein Weilchen das Getümmel spielender Kinder beobachte. Nur einige Pedaltritte weiter liegt der Marktplatz, weitere Fußgängerpassagen schließen sich an. Ein viergeschossiger Plattenbau aus DDR-Zeiten, dessen Fassade mit Fresken ländlicher Idylle dezent aufgemotzt wurde, flankiert eine Seite des Platzes – im Parterre reihen sich Läden aneinander, die darüber angebrachten Leuchtbuchstaben von WOOLWORTH  lassen keinen Zweifel daran aufkommen, dass der Sozialismus den Wettbewerb der Systeme verloren hat. Nach den Osterfeiertagen herrscht nun auch einige Geschäftigkeit in den Straßen, die brauche ich nicht und so zieht es mich nach kurzem Verweilen wieder hinaus aufs Land.

Bei Leubingen kreuzt ein weiterer Wanderweg. Ich halte Ausschau nach einem Wegweiser zum Dorf Weißensee. Denn ich möchte einen Abstecher zur nur wenige Kilometer entfernten einstigen Wirkungsstätte berühmter Minnesänger machen. Immerhin ist Walter von der Vogelweide ja quasi ein Kollege von mir. Wenngleich der berühmte Sangesbarde wohl besser schmeicheln konnte - oder musste. Den Mäzen der Verseschmiede, Landgraf Heinrich I., hofierte er immerhin als “Blume Thüringens“. Beim Abzweig nach Griefstedt merke ich jedoch, dass die Kreuzung zur Sängerfestung schon etliche  Kilometer hinter mir liegt. Noch einmal umkehren? Kommt nicht in Frage.

An historischen Orten hat die Strecke noch anderes zu bieten. Ich folge der Lossa, einem Nebenarm der Unstrut, durchs Dörfchen Büchel nach Etzleben und erreiche bald die Thüringer Pforte bei Heldrungen. Zwei Burgruinen beherrschen den Berg am anderen Ufer, die Hakenburg und auf dem Gipfel die Sachsenburg, nach welcher auch der kleine Ort im Tal benannt ist. Mit dem Fernglas kann ich hoch auf der Burg Besucher erkennen. Der Blick von dort könnte reizvoll sein, doch der erforderliche Anstieg reizt mich gerade weniger. Ich überquere die Bogenbrücke und begnüge mich mit einem Blick in die großflächige, von Gräsern und Sträuchern bewachsene Flutmulde, in die sich die Unstrut bei Hochwasser ergießen darf.

Ein Stück weiter erreiche ich die sogenannte Wasserburg von Heldrungen. An der Steinbrücke, die den Wassergraben zur Festung quert, wartet ein Schwanenpaar auf fütterwillige Besucher. Doch es ist erst Mitte April, Vorsaison, Dienstagmittag, selbst das Burgcafé ist noch nicht auf Besucher eingestellt. Aus irgendeinem Grund, scheint mir, ist eine offene Tür immer das erste, wonach man in einer Festung sucht. Kein Museum, kein Souvenirladen, nur ein paar Handwerker zeigen Präsenz. Also bleibt mir nur, die Festung zu umrunden. An dem Gedenkstein, der an die Kerkerhaft Thomas Münzers erinnert, halte ich inne. Hier musste er die grausame Rache der Fürsten erleiden. Wurde ihm der Brief, der die Bauern zur Aufgabe des Kampfes überzeugen sollte, vom Folterknecht diktiert?

Sein eigenes Leben konnte der tapfere Mann nicht retten. Vor den Toren Mühlhausens wurde er enthauptet, der abgeschlagene Kopf zur Abschreckung ausgestellt. Was war doch gleich noch sein Verbrechen? Ach ja, er hatte es gewagt, für etwas Gerechtigkeit zu kämpfen, nicht nur mit Worten. Weniges fürchten die Mächtigen mehr als eine aufgebrachte Menschenmenge. Und keine Gnade darf der Anführer eines Aufstandes erwarten - das war damals so, das ist immer so.

Im unscheinbaren Dorf Bretleben gelange ich an eine Straßengabelung. Ich suche danach, aber dort fehlt definitiv ein Wegweiser. Als ich die Bergstraße schon ein ganzes Stück hinauf bin und die Landschaft mit meiner Karte vergleiche, merke ich, dass man sich intuitiv nicht nur richtig, sondern auch mal intuitiv falsch entscheiden kann.  Aber jeder Berg hat einen Gipfel, sage ich mir, und von da kann es nur talwärts gehen. So bleibe ich auf der steilen Straße, überquere bald eine Autobahn, um werde dann, nach einem Kreisverkehr, mit einer langen, schnurgeraden Talfahrt belohnt. Bei knapp 50 Sachen erinnere ich mich an meine Selbstverpflichtung, auf 30 abzubremsen, um mich nicht in Gefahr zu bringen - die stark befahrene Zubringerstraße ist ohnehin ein riskanter Abschnitt.

In Reisdorf biege ich links ab, um zurück zum Radweg zu finden.  Obgleich ich, Pi mal Daumen, schon nahe beim Radweg sein müsste, halte ich an, eine mir entgegenkommende Joggerin nach dem Weg zu fragen. Natürlich hat mein geschultes Männerauge schon von weiten erkannt, dass die junge Läuferin eine kurze Pause vertragen könnte. Als sie näher kommt, sehe ich, dass auch ihre Ohren Erholung vertragen können. Sie nimmt die Ohrhörer ab und ich spreche sie an. Sie atmet sehr ruhig, wie jemand, der regelmäßig lange Strecken läuft. Ihre freundliche Art und ihre Stimme übertreffen meine Erwartungen. Ohne Umschweife erklärt sie mir den Weg, streckt dabei den rechten Arm in die Richtung aus, wo ich abbiegen soll. Ihre Ausdünstungen kitzeln meine Nase. Ich bedanke mich, wie verabschieden uns.

Was hatte sie gleich gesagt? Nach 50 Metern, an der nächsten Ecke, rechtsrum? Ja, das sieht gut aus. Und da bin ich auch wieder auf dem ausgeschilderten Weg, der nun durch eine weite Ebene führt. Zweimal unterquere ich die Autobahn, bis ich nach Artern komme. Einen Abstecher in die kleine Stadt mache ich. Wozu? Das frage ich mich dort eine Minute lang, dann bin ich, ohne die Antwort abzuwarten, wieder draußen und folge der Unstrut, die sich hier wieder nach Osten wendet.

Nach etwa 10 Kilometern erreiche ich mein nächstes Quartier, ich muss nur noch die Brücke nach Schönewerda überqueren. Die Gastgeber wiesen auf ihrer Webseite daraufhin, dass die Anreise erst ab 17 Uhr vorgesehen ist, bis dahin ist noch eine Stunde. Im Dorf finde ich einen kleinen Laden, doch der hat nur vormittags geöffnet. Ein Gasthaus gibt es nicht. Aber einen schönen Teich entdecke ich, mit einer Insel in der Mitte. Bänke ringsherum laden zum Verweilen ein. Ein Schwan erkennt, dass ich das Angebot annehme, gemächlich schwimmt er mir entgegen. Doch ich muss ihn enttäuschen: Euer Dorfkonsum hatte leider schon geschlossen, tut mir leid... Er versteht auch ohne Worte und dreht nach einer Weile wieder Richtung Insel ab.

So romantisch wirkt das Fleckchen auf mich, dass ich ein Foto machen möchte. Und ich will auch selbst mal auf einem Foto sein, bin aber zu faul, das Stativ aufzubauen, lege stattdessen den Fotoapparat auf mein griffbereites Fernglas, so dass das Objektiv aus dem Gras herausragt und drücke den Auslöser, der mir 10 Sekunden anbietet, das reizvolle Motiv noch durch meine eigene Schönheit zu bereichern.  Anschließend kontrolliere ich das Ergebnis. Sieht okay aus: Ich auf der Bank sitzend, mein Rad angelehnt davor, im Hintergrund der Teich mit dem Schwan. Da war noch irgendwas, vielleicht fällt es mir später wieder ein.

Ein Bierchen als heutige Zielprämie wäre jetzt nicht schlecht, aber woher nehmen? Bis zum nächsten Dorf sind es nur einige Kilometer, doch der Weg geht bald in einen Trampelpfad über. Und auch dort, in Bottendorf, ist kein geöffneter Laden zu finden. Drei junge Frauen sitzen vor einem Haus und trinken, was meine Zunge seit einer Stunde begehrt. Woher bekommt man denn hier was kühles Blondes, frage ich. Vielleicht oben am Sportplatz. Oben? Soso...

Meine Gedanken zu lesen war ihnen nicht gegeben, denn sonst hätte sie gesagt: Komm her, wir haben noch eins übrig! Also muss ich weiterstrampeln, eine holprige Straße bergan. Kein Mensch weit und breit, das sieht nicht nach geöffnet aus. Ein Mann und eine Frau harken im Garten herum. Ich frage nach dem Lokal. Geschlossen. Ein Bier vielleicht? Ein Bier, okay, das geht. Ich folge dem Wirt ins Haus, an den Tresen. Erst mal die Pumpe angeschaltet, der Kühler brummt, das erste Gezapfte gehört dem Abfluss, viel Schaum folgt noch. Eine Viertelstunde vergeht, in der erfahre ich sämtliche Maleisen des Wirtes, vom Schlaganfall bis zur Schwierigkeit, Personal zu finden, dass auch am Wochenenden arbeitswillig ist, mal so als Kellner. Drei Schachteln Zigaretten habe er früher geraucht, täglich, mitunter auch vier. Aber das habe ihm der Arzt inzwischen verboten. Endlich ist mein Bier fertig – der erste Schluck verdampft auf meiner Zunge, schnell ist das Glas ausgetrunken.  Mit den zwei Flaschen zum Mitnehmen dürfte der Abend gerettet sein.

Hinunter zum Ortsteil Kupferhütte. Dort ist ein Zeltplatz, allerdings wird er noch von niemand genutzt. Daneben geht es über die Brücke und so kann ich für die Rückfahrt nach Schönewerda den gut asphaltierten Radweg nutzen. An der Pension Unstrut-Gut werde ich inzwischen erwartet. Der Hausherr hat sich im Internet über mich schlau gemacht, an seinem Transporter befindet sich Reklame für Hörgeräte. In einem gewissen Sinne, sage ich, “haben wir mit den selben Dingen zu tun...“ Stimmt, antwortet mein Gastgeber: “Nur dass ich mich eben um diejenigen kümmere, deren Gehör schon hinüber ist.“ Das mag sarkastisch klingen, die Realität ist aber ist, so ergänzt er, dass die Nachfrage stark wächst, und zwar nicht nur bei alten Leuten – die Generation Walkman zieht nach.

Der Lärm von Maschinen aller Art, die Dauerberieselung aller Orten, das Brummen der Bässe und das ständige Piepsen elektronischer Geräte, all das fordert, da sind wir uns schnell einig, einen Tribut – und sei es Gewöhnung, also Abstumpfung.  Was mich betrifft, füge ich hinzu, habe ich das Gefühl, dass meine Ohren mit den Jahren immer empfindlicher werden. Deshalb sind auch Zeltplätze für mich keine echte Alternative. Nur in der freien Natur, fern von Reisverschlussgezirps und Plastiktütengeraschel, kann ich gut kampieren.

Das alte Bauernhaus, das heute Nacht meine Herberge ist, war bis vor Jahren in einem sehr verfallen Zustand, erklärt mir mein Gastgeber. Jetzt ist es so originalgetreu als möglich restauriert und geschmackvoll mit altem Mobiliar eingerichtet. Als wir uns im Garten unterhalten, kommt seine Freundin von der Arbeit und gesellt sich zu uns. Da ich die rustikale Gestaltung von Hof und Haus rühme, werde ich auf eine etwas versteckt liegende Besonderheit hingewiesen. Am Ende des Hofes, hinter einer Sandsteinmauer, befindet sich ein kleiner, künstlich aufgeschütteter Weinberg – 40 Rebstöcke. Das reiche gerade für den Eigenbedarf, wird mir versichert. Aber nun haben sie mir den Mund wässrig gemacht: Eine Kostprobe hätte ich schon ganz gern.

Der Rotwein schmeckt ganz außerordentlich, völlig anders als alles, was ich bisher kenne, muss ich aufrichtig komplimentieren. Vielleicht liegt es an der seltenen Traubensorte, dass sich der Geschmack so sehr von anderen Weinen unterscheidet: Muskat bleu. “Wir hatten eigentlich überhaupt keine Ahnung von Weinbau, sondern haben einfach die Vorschläge eines Fachmanns angenommen. Das Keltern und die Weiterverarbeitung überlassen wir auch den Profis.“

Nach diesem köstlichen Trunk braucht man nichts mehr. Noch ein Spaziergang über die Brücke ans andere Ufer, von wo Blick über die Ebene vor dem Kyffhäusergebirge schweifen kann. Durch Wolkenfetzen hindurch wirft die Sonne bizarre Lichtkegel. Doch bevor sich Helios Gespann über den fernen Berg herabsenkt, auf dem das Kaiser-Wilhelm-Monument thront, verschlingt eine Wolkendecke die letzten Strahlenbündel - als sollte der Glorifizierung von einst nicht noch ein schnödes Postkartenmotiv von heute hinzufügt werden.

23. April, Mittwoch. Wieder bin ich zeitig aufgewacht. Noch vor dem Frühstück packe ich meine Sachen – und staune, dass in meiner Lenkertasche, die sonst dicht gepackt ist, noch etwas Platz bleibt. Aha, da fehlt ja noch mein Fernglas. Hm, wo ist das eigentlich? Hier liegt es nirgends herum. Wann hatte ich es zuletzt in der Hand? An den Burgen bei Heldrungen? Nein, gestern Abend, am Teich, als ich es unter meinen Fotoapparat legte, um ein Selbstauslöserfoto zu machen. Nichts wie hin! Sicher liegt es noch dort im Gras.

Die Wiesen sind von der Nässe des Morgennebels getränkt, meine Sandalen saugen das Wasser auf. Meine Augen suchen den Boden um die Bank herum ab, wo ich gestern Abend saß, vergeblich. In der Ferne sehe ich einen Mann mit Hund, der nur von hier gekommen sein kann, doch er verschwindet im Nebel. Und dieser Nebel da am Teich mit seiner Insel und dem Schwanenpaar wirkt so märchenhaft, dass ich schnell zurück zur Pension laufe, meinen Fotoapparat zu holen.

Bevor ich mich auf die letzte Etappe meiner Unstrut-Wanderung mache, drehe ich noch eine Acht durchs Dorf. Im Lebensmittelgeschäft, das wie ein Relikt aus DDR-Zeiten wirkt, frage ich die Verkäuferin, ob jemand ein Fernglas abgegeben hat. Nein, bisher nicht. Gut, falls sich ein Finder melden sollte, könnte der sich doch bitte an die Pension wenden, dort sei auch meine Anschrift bekannt. Ich fahre auch noch den Weg entlang, wo ich den Mann mit Hund sah, der dann im Nebel verschwand. Etwa an der Stelle ist eine Baustelle, ich frage die Arbeiter. Doch die waren erst später hier zugange, sie können mir auch nicht weiterhelfen. Mehr kann ich nun nicht tun, es bleibt also nur noch die Hoffnung auf einen ehrlichen Finder.

Ein Stück vor dem Abzweig nach Wiehe bemerke ich einen sportlich gekleideten Radler im Rückspiegel. Schnell holt er mich ein, ich weiche nach rechts aus, winke ihn vorbei. Doch auf meiner Höhe angekommen, spricht mich der Mann, der sicher gut über 60 ist, wegen meines Rades an - so was Extravagantes habe er noch nie gesehen. Meine Gepäcktaschen lassen mich unschwer als Fernwegradler erkennen. Auf welchen Strecken ich sonst schon gewesen sei, will er wissen. Das ist meine erste größere Tour,  gestehe ich: Ich sei also im Grunde ganz unerfahren. Irgendwann fange eben jeder einmal an – und schon sind wir bei den nächsten Themen. Noch ein Weilchen radeln wir nebeneinander her – und haben von Yoga über vegetarische Ernährung, alternative Medizin, Naturschutz und Abstinenz vom krankmachenden Medienrummel so manches gestreift, bevor sich unsere Wege trennen.

Ich verlasse den Radweg, um einen Abstecher zur angeblich größten Modellbahnanlage der Welt zu machen. Zwischen gelb leuchtenden Rapsfeldern führt ein holpriger Plattenweg hinüber nach Wiehe. 10 Euro Eintritt kostet der Eintritt – ganz schön teuer. Na, was soll’s, nun bin ich einmal hier. Und will sehen, was ich hätte basteln können, hätte ich als Neunjähriger statt eines Quadratmeters im Kinderzimmer ganze Fabrikhallen mit meinen heilen Spielwelten füllen können - so wie es hier geschehen ist. Und um ein ehemaliges Werksgelände handelt es sich bei diesem Ausstellungsareal in jedem Fall. Was mag hier mal produziert worden sein, damals, in DDR-Zeiten? Die Gaststätte in der ersten Etage versprüht noch heute den Scharm fensterloser Betriebskantinen. Doch all das ist nichts gegen die ostalgische Gestaltung der Hauptanlage, zu der man zuerst gelangt.

Die H0-Anlage - 10 Meter breit, 40 lang! - kann den kompletten Modellfuhrpark des Ostblocks aufbieten: von Trabis und Wartburgs bis zu W50-Lastern und Ikarus-Bussen ist alles da, was das Straßenbild des Ostblocks prägte – nur gut, dass wenigstens der Abgasgestank der Zweitaktmotoren nicht imitiert wird. Auch an Panzern und anderem Militärgerät mangelt es nicht. Wachtürme und Grenzanlagen runden das Zeitfenster in die Ära von Mauer und Stacheldraht ab. Gehe ich also von meinem eigenen Spielkonzept aus, einem Stück bunte heile Welt, die im Kontrast zum grauen Alltag des Realsozialismus stand, dann drängt sich hier der Verdacht auf, ein ewig Gestriger wünscht sich “gute alte Zeiten“ zurück. Doch der Investor, der diese Modellwelten Mitte der 1990er errichten ließ, ist mitnichten ein Kind der DDR. Die Hauptanlage dürfte eher die Handschrift des mit der Gestaltung beauftragten Modelbahnclubs zeigen.

Auf den Gleisen der riesigen Anlage begegnen sich Dampflokomotiven aus den 1930ern und moderne Intercity-Züge. Sogar ein Flughafen fehlt nicht, die Lande- und Startbahn umfasst zwar nur drei oder vier Flugzeuglängen, aber wer wird sich schon an solchen Verkürzungen stören? Es sind Phantasiewelten, so oder so. Und deshalb muss es den Besucher auch nicht sonderlich wundern, wenn er im nächsten Raum Nachbildungen der Moai-Skulpturen der Osterinsel oder die chinesische Terrakotta-Armee vor Augen hat. Auch an die Freunde der Neuen Welt hat der Aussteller gedacht: Wildwestromantik im Eintracht mit der Moderne. In der USA-Anlage finden sich die Wahrzeichen New Yorks in trauter Nähe zum Mount Rushmore – doch der ist schon um zwei Präsidentenköpfe erweitert! Unschwer zu erkennen ist das Gesicht von Bill Clinton. Dass jedoch der rundliche Kopf mit dem abstehenden linken Ohr Barack Obama darstellen soll, entnehme ich erst der Beschreibung. Aber gut, der US-Konsul, der zur feierlichen Eröffnung des Modells kam, lese ich auf einer Tafel, zeigte sich ergriffen und führte beim Klang der US-Hymne seine rechte Hand ans Herz.

Es gibt keine Steigerung? Doch, gibt es! Die Gänge führen auch in die unterirdische Welt des Berges, wo sich noch ein ganz besonderes Stück Eisenbahngeschichte finden lässt. Nämlich der Stall, in dem Maria und Joseph den Besuch der drei heiligen Könige empfangen, tief in einem Berge. Wem ist das Abbild der Krippe nicht vertraut? Im Minutentakt fahren Züge aus der amerikanischen Pionierzeit in den unmittelbar benachbarten Tunnel ein. Das lässt nicht nur jedes Patriotenherz höher schlagen. Hier wäre auch ein Abgesandter des Heiligen Stuhles in die Knie gegangen.

Gut, ich denke mal, das war die 10 Euro wert - mein kleiner Beitrag zur Erhaltung einiger Arbeitsplätze in Wiehe. Als da wäre die Kassiererin, die ihre Schicht fern von Tageslicht in einer engen Kabine absitzt, die einem alten Fahrkartenschalter nachempfundenen wurde. Da sind zudem die Köche und das Kantinenpersonal, die unter Neonlicht Kartoffeln garen und Spülmaschinen befüllen. Handwerker, Elektriker, Putzfrauen. Sie alle haben nun Arbeit - oder Beschäftigung, na, jedenfalls ein beitragpflichtiges Einkommen. Zu den edlen Zielen zugewanderter Unternehmer gehört es ja immer, Menschen, die sonst vielleicht Langeweile hätten, andernfalls aber einfach den Tag genießen könnten, in Lohn und Brot zu bringen. Wie sagte vor einigen Jahren doch gleich ein Bekannter, dem die freie Zeit wichtiger als Arbeit war? “Hartz IV, der Tag ist mir.“ Inzwischen leiht er seine kessen Sprüche der FDP – na klar doch: Arbeit muss sich wieder lohnen.

Eine knappe Stunde später komme ich zur Burg Wendelstein. Der Radweg führt über eine Serpentine hinauf zum Eingang der Festung. Die ist in privatem Besitz, aber zugänglich. Ein Schild mahnt den Respekt der Privatsphäre ein, und das ist auch das einzige Gebot. Die im Burghof geparkten Fahrzeuge deuten nicht auf neureiche Eigentümer hin, es riecht auch sonst nicht nach überschüssigem Geld. Hier bleibt noch einiges an Arbeit zur Erhaltung der Bausubstanz zu tun. Gelegentlich scheinen auch Festivitäten stattzufinden, eine bühnenähnliche Überdachung lässt mich das vermuten. Der Blick ins Tal ist mir nur an einer schmalen Stelle möglich. Sonst gibt es hier kaum etwas, das zu einer Rast einlädt, nicht einmal eine Bank. Aus dem Haus neben mir kommt eine Frau, die mich freundlich grüßt.

Ich verlasse die Burg und treffe unten an der Straße eine Radlerfamilie mit viel Ferntourengepäck, zwei Kinder, Mutter, Vater. Mal wieder wird mein Rad begutachtet. Ob es einen Elektromotor habe, werde ich gefragt. Was ist so seltsam an meinem Rad? Die ledernen Gepäcktaschen mögen an eine Harley und viel PS denken lassen, gut, aber auf einen Elektromotor wurde ich noch nie angesprochen. Sicher hätte ich, wenn vorhanden, an diesem Berg davon Gebrauch gemacht, aber gelegentliches Schieben ist auch eine angenehme Abwechslung. Und nach jeder Burg und jedem Berg kommt wieder ein Tal, in das es sich hineinrollen lässt, wie von einem stillen Motor getrieben.

Nach einer schmalen Landstraße, die an Wäldern entlang führt, geht es über eine Brücke nach Memleben hinein, wo die alten Mauern und Gebäude eines Klosters den Blick einfangen. Ich umfahre das Klostergelände und gelange zum Eingang. Der aber ist ein Kassenhaus, das Kloster demnach nur noch ein Museum. Das Eintrittsgeld kann ich mir nicht nur sparen, ich muss es sogar! Denn mein Bargeld ist soweit geschrumpft, dass ich nur noch wenige Euro einstecken habe, meine Reserve für Getränke oder Essen. Eine große Informationstafel führt aber die Eckpunkte der Geschichte auf, die sich mit der Dynastie der Ottonen am Ende des 10. Jahrhunderts verknüpft. Anlässlich des  Todes seines Vaters, Otto der Großen, stiftete Otto II. hier demnach ein Benediktinerkloster, das in den Bau einer monumentalen Kirche mündete, von der heute nur noch der Grundriss erhalten ist. Auch vom Neubau des 13. Jahrhunderts sind nur noch Ruinen übrig - die aber wirken dank der im 19. Jahrhundert aufkommenden Denkmalpflege imposant genug.

Wieder zurück zur Brücke und hinüber ans andere Ufer führt der Radweg zwischen der Unstrut zur Rechten und einer mächtigen Felswand zur Linken durchs Naturschutzgebiet Steinklöbe, benannt nach den alten Steinbrüchen, die bereits vor tausend Jahren so riesige Kirchbauten wie im Kloster Memleben oder Festungen wie die Burg Wendelstein möglich machten. Eine langgestreckte Kurve führt nach Kleinwangen, wo man auf die Gleise der Unstrut- und Burgendlandbahn trifft. Von dort ist der Weg zur “Arche Nebra“ ausgeschildert, jenem modernen Museumsgebäude, das - wie die biblische Arche Noah in den Wogen des Meeres - über die Hügel des Mittelberges zu schaukeln scheint. Ein großer Parkplatz zu seinen Füßen lässt ahnen, dass auch hier einige mehr oder minder sinnvolle Arbeitsplätze geschaffen wurden. Und die drehen sich um die berühmte bronzezeitliche Himmelsscheibe, die nach ihrem Fundort auch Scheibe von Wangen oder Scheibe von Ziegelroda benannt sein könnte. Doch wie viel einmaliger, wie biblisch, wie prägnant klingt “Himmelscheibe von Nebra“!

Und wie biblisch klingt Arche Nebra! Ein Museum um die Geschichte eines prähistorischen Artefakts, das vielleicht nichts Geringeres als eine astronomische Darstellung ist. Das braucht in jedem Fall ein Museum – und weitere Erforschung. Schade nur, dass im Museum nicht das Original zu bestaunen ist - das liegt im Landesmuseum für Vorgeschichte in Halle, das sich von hier aus über einen eigens eingerichteten, gut 70 Kilometer langen “Himmelscheibenradweg“ erreichen ließe. Zumindest vor mir ist das wertvolle Stück dort heute erst mal sicher. Bei 100 Millionen Euro liegt die Versicherungssumme der Scheibe seit 2006,  davon hätten die Schatzsucher, die den Fund 1999 aus dem Erdreich hackten, nicht zu träumen gewagt. Hier, in der Arche Nebra, wird eine am mutmaßlichen Originalzustand orientierte Kopie ausgestellt, die war bestimmt auch noch teuer genug.

Ich spare Eintrittsgeld und Zeit, denn beides brauche ich noch für meinen Weg ins gut 30 Kilometer entfernte Naumburg. So begnüge mich mit dem kostenlosen Anblick des imposanten Museumsbaus und rolle wieder hinunter zum Unstrut-Radweg. Der führt mich nach einer Viertelstunde in jene Stadt, die bei der Namensgebung der Himmelsscheibe Pate stand. Um in die Altstadt zu gelangen, heißt es: Absteigen. Zu steil und zu holprig sind die Straßen hinauf zur Burgruine.

Ich komme zu einem Sandsteinbrunnen, den eine lebensgroße Bronzefigur ziert. Diese soll ein sogenanntes Büttenweib darstellen. Ob die Frauen bis zur Erfindung der Wasserleitung solch eine anstrengende Schlepperei zur Trinkwasserversorgung Nebras jemals barbusig vollzogen haben werden, wie es die romantisierende Darstellung glauben machen möchte, darf bezweifelt werden. Hier dürfte dem Künstler (oder seinem Auftraggeber) die Phantasie durchgegangen sein. Wahrscheinlich ist nach Vollendung der schönen Figur noch ein klein wenig Bronze übrig gewesen - das daraus gefertigte kleine Schild am Steinbrunnen, auf dem ich Angaben zum Werk vermutete, sagt: “Kein Trinkwasser“. Damit wäre das also auch geklärt.

Zum Schloss hinauf ist es mir zu weit und zu steil, ich lasse mich den Berg hinab zum Ortsausgang von Nebra rollen. Nach wenigen Kilometern übers Land passiert der Radweg Reinsdorf und führt dann über eine ausgedehnte Ebene von Auen, die von einer kilometerlangen, neuen Brücke überspannt wird. Unter einem Baum stehen zwei rustikale Holzbänke und ein Tisch – Gelegenheit für eine Rast. Von den beiden älteren Radlerinnen, die sich zu mir gesellen, erfahre ich, dass die Brücke in etwa zwei Jahren als ICE-Strecke zwischen Erfurt und Halle eingeweiht sein soll. Ein toller Ausblick könnte das für die vorbeirasenden Fahrgäste einmal werden – sofern deren Augen in den 20 Sekunden, die der Schnellzug zur Querung dieser Ebene brauchen wird, nicht gerade an einem jener kleinen Gerätchen kleben, die heute alles unter 50 in autistischer Entrückung fesseln.

Das nächste Dörfchen ist vor allem eine riesige Zementfabrik, die den halben Horizont verdeckt, die andere Hälfte nimmt eine Kläranlage ein: Karsdorf.  Von welcher der beiden Gelände der penetrantere Geruch kommt, lässt sich im Vorüberfahren schwer ausmachen. Doch wegen der leichten Steigung kommt beides nur langsam aus Riech- und Blickfeld. Erst ab Burgscheidungen geht es wieder talwärts - in überwiegend grüne Gefilde. Und die Unstrut scheint hier nicht so recht zu wissen, wohin sie will – erst wendet sie sich von ihrer südlichen Richtung nach Osten und Nordosten, dann wieder nach Süden und westlich, bis sie in Laucha erneut nach Osten wechselt. Doch die unterstellte Ratlosigkeit hat vielleicht natürliche Gründe. Geologische Besonderheiten drängen den Fluss hier in Biegungen, die er sich sonst vielleicht nicht aufzwingen ließe. Eine Tafel informiert über den geologischen Aufschluss Glockenseck, ein Naturschutzgebiet, durch das sich der Weg nun zwischen Fluss und Hang schlängelt. Ein dicker Polder zwingt dem Radfahrer zum Absteigen, aber ein Verbotsschild für Fußgänger sagt generell: Hier ist Schluss.

Mir entgegenkommende Radler bestätigen mir aber die Passierbarkeit des gesperrten Abschnittes. Gut zu erkennen sind hier die zentimeterdicken Sedimentablagerungen am Prallhang. Die versteinerten Schichten stammen aus aufeinanderfolgenden Epochen des Trias, mal von Meeres-, mal von Seen-, mal von Flusssedimenten gebildet, so unterscheiden sich die Schichten in ihrer Färbung und werden als Buntsandstein bezeichnet. Im Verlaufe von Jahrmillionen haben sich haushohe Hänge aufgeschichtet– und die erodieren ausgerechnet jetzt so renitent, da der erst seit einigen Jahren durchgängig beschilderte Radweg an der Unstrut den Tourismus der Region beleben soll. Große und kleine, auf den schmalen Weg herabgestürzte Gesteinsbrocken künden davon, dass jeder, der trotz des Verbotes hier entlang spaziert, ein unbelehrbarer Optimist ist: Es wird ja wohl nicht gerade dann losbröckeln, wenn ich hier bin, hält jeder dem uralten Fels entgegen.

Der nach dem gesperrten Gebiet sich anpreisende “Boy’s Gutsauschank“ könnte im Sommer um den Umsatz durstiger Wanderer gebracht werden. Er könnte natürlich auch schon heute die trockene Kehle manches Radfahrers erfrischt haben, wenn er an diesem sonnigen Mittwochabend doch einfach mal geöffnet gewesen wäre. Da dem nicht so ist, muss ich weiter. Nach einem schnurgeraden Asphaltweg schiebe ich mein Rad bei Weisschütz über eine schmale Holzbrücke. Unter mir die nicht mehr ganz so schlanke Unstrut und vor mir die Liegewiese eines zur Pension ausgebauten Weingutes namens Rittergut. Spätestens hier ist kein Zweifel mehr: Die unter Liebhabern des Rebentrunkes weithin bekannte Weinstraße Saale-Unstrut ist nahe. An der Zeddenbachmühle quert der Weg den Fluss und schickt mich bei Freyburg wieder hinüber ans andere Ufer.

So durchstreife ich die schöne Stadt mit ihrem großen gepflasterten Plätzen, dominiert von den Doppeltürmen der Marienkirche. Doch die historischen Sehenswürdigkeiten sind mir zweitrangig. Am wichtigsten ist mir, einen Geldautomaten oder eine Postfiliale zu finden. Denn mit nur noch drei Euro Bargeld in der Tasche verliert auch das schönste Städtchen seine Reize. Indem ich mich etwas durchfrage, finde ich einen kleinen Laden mit Postschalter. Die Verkäuferin bedient einen Jugendlichen - sie ist per Du mit ihm und es gibt da offenbar einiges zu besprechen. Hinter mir bildet sich eine Schlange. Eine Viertelstunde dürfte es gedauert haben, bis ich, wieder mit Bargeld ausgerüstet, den Laden verlassen kann.

Die Geschäfte im Zentrum von Freyburg sind eher auf Besucher eingestellt, denen schnell die Zeit lang wird und die genügend große Koffer haben, um diese mit neuen Textilien oder sperrigen Andenken füllen zu können. Einen Laden mit wirklich nützlichen Dinge, etwa eine Flasche Wasser, kann ich nicht finden. Also entschließe ich mich schnell zur Weiterfahrt ins größere Naumburg.

Die Sonne lässt die Weinberge im frühabendlichen Rosé flimmern. Obgleich ich sehr bemüht bin, Vergleiche zu meiden, hier kann ich der abgeleierten Allegorie des Reiseführers nicht widersprechen: Ein Hauch von Toskana lässt sich diesen Südhängen einfach nicht absprechen. Zwischen den Terrassen von Rebstöcken reihen sich schlichte Laubengrundstücke und barocke Villen aneinander. Am abendlich beschatteten Wegesrand winken einige Straußenwirtschaften zur Einkehr. Und so sehr es mich jetzt reizt, einen Schoppen zu kosten, direkt beim Winzer, ich sage: Nein – jetzt noch nicht, erst am Ziel!

Noch sind es zehn Kilometer bis zum letztem Quartier dieser Unstrut-Wanderung. Dort will ich es mir gut gehen lassen. Immer wieder schweift mein Blick zurück, zu den Weinbergen und den Villen, die ich mir gut als meinen eigenen Wohnsitz vorstellen könnte. Blütengrund nennt sich dieses letzte Tal der Unstrut, bevor der Fluss in die Saale mündet. Die Abendsonne färbt die Felswand in ein sattes Orange und verstärkt den Kontrast der Reliefs, die ein Bildhauer vor zwei Jahrhunderten in den Fels schlug. Wie steinzeitliche Höhlenmaler ihre bevorzugte Jagdbeute zum Motiv machten, so steht hier der Wein im Mittelpunkt. Das macht insbesondere eine Darstellung deutlich, welche die biblische Erzählung über Lot und seine Töchter zitiert. Hintergrundinformationen zum eigentlichen Zweck des Besäufnisses finden sich im Alten Testament der Heiligen Schrift.

Auch Noah, dem legendären Erbauer des nach ihm benannten Rettungsfloßes, setzte der Künstler ein Denkmal, doch nicht als Erbauer der Arche, sondern als Winzer, mit einem Weinstock in der rechten und dem Winzermesser in der linken Hand ist er dargestellt. Nachdem somit das biblische Fundament des Weinbaus ein für alle Mal geklärt ist, könnte ich mir im idyllischen Gartenrestaurant an der Unstrut-Mündung doch tatsächlich ein winzigen Schluck gönnen. Leider ist das Lokal, das, von den üblichen Geschmacklosigkeiten unserer Zeit abgesehen, sehr romantisch wirkt, bereits geschlossen. Und vielleicht wäre die Wirkung auch eine andere, hätte das Lokal noch geöffnet. Denn Gäste würden mit ihren elektrischen Geräten hantieren und aus Lautsprechern womöglich Popgedudel plärren.

Die letzte Fähre legt gerade am hiesigen Ufer an. Wäre mir klar gewesen, dass sie den Weg nach Naumburg beachtlich verkürzt, hätte ich den jungen Mann, der nun alle Seile festzurrt, um eine letzte Fahrt bitten können – die zehn Meter bis hinüber wären ein Klacks gewesen. Doch nun bleibt mir nichts, als im weiten Bogen der Saale folgend, die nächste Brücke an der Naumburger Wein- und Sektmanufaktur zu nehmen. Steil geht es am anderen Ufer hinauf zur Stadt. Auf keiner Reise zuvor wurde mir die etymologische Verwandtschaft von Burg und Berg so plausibel wie auf dieser.

Die Sonne steht schon tief, als ich im Zentrum der Domstadt ankomme. Ich passiere die Mohrenapotheke und das Mohrencafé - wahrscheinlich gibt es in Letzterem auch noch Negerküsse. Nur noch für wenige Minuten, aus flachem Winkel, kann die Sonne ihre Strahlenpakete in die Gassen werfen. In den Fenstern spiegelt sich und funkelt und flackert ihr Abbild. Direkt am Marktplatz liegt mein Hotel, nach einer Partnerstadt “Stadt Aachen“ benannt. Eine Kellnerin quert die Straße zu den Tischen. Noch auf dem Rad sitzend frage ich sie, wo ich einchecken kann. Es ist wahrscheinlich nicht mehr so ganz üblich, gleich hoch vom Rosse herab Verhandlungen zu führen – jedenfalls reagiert sie sehr heiter und als habe das gesamte Personal des Hotels nur noch auf mich gewartet.

Eine Runde zum Dom, dem Wahrzeichen Naumburgs, drehe ich noch. Nur die Türme leuchten noch in der Abendsonne. Wie viele fleißige Handwerker müssen hier wie viele Jahrhunderte zum Ruhme Gottes geschuftet haben? Zum Ruhm des Vaters oder des Sohnes oder des Heiligen Geistes. Und zum Ruhme ihrer Stifter. Der Glaube ist eine unheimlich starke Macht, die Religion der alles Bisherige übertreffen wollende Baumeister. Staunen soll der kleine Mensch und Ehrfurcht soll er bekommen. Furcht vor den „Ehrwürden“, den „Obrigkeiten“, den Obersten und Ersten, den Fürsten. Eines ist gewiss: Ohne derartig imposante Bauten hätte den Orgeln ein Dach über den Pfeifen gefehlt.

Da komme ich an ein Haus, das mit güldenen Lettern auf blauer Tafel stolz verkündet: „Dr. Martin Luther wohnte hier vom 18. bis 21. Januar 1542.“ Bald stehe ich auch wieder vor dem Haus, in dem ich heute Nacht wohnen werde, vom 23. bis 24. April 2014.  Erneut den Stadtplan studierend, den mir die Kellnerin vor einer Stunde in die Hand drückte: “Sie sind ja noch nicht weit gekommen!“ neckt sie mich, als sie mich da stehen sieht. Verdammt, das Weib hat ein kesses Mundwerk - da möchte ich mich am liebsten gleich an einen der Tische setzen und von ihr bedienen lassen.  Doch nein, noch ist es hell genug, um noch ein wenig durch die alte Stadt zu flanieren.

Der Weg zum “Nietzsche-Haus“ ist mit Wegweisern angezeigt. Direkt an der Stadtmauer liegt das unscheinbare Häuschen, in dem der Denker, von seiner Mutter gepflegt, Kindheit und Alter verbrachte. Grün gestrichene, verschlossene Fensterläden an frisch getünchten Wänden, so finde ich das Haus heute vor. Der Dichter, dessen philologischer Tiefgang mich seit der ersten Lektüre mitriss, stirbt im Alter von 55 Jahren. So alt werde ich in diesem Jahr... Und darf mich guter Gesundheit erfreuen - und der Kraft meiner Beine, die mich über Wege führen, auf denen berühmte Männer, tausendmal besser gebildet und mutiger als ich, wandelten und stritten und käpften.

Was mich nicht umbringt, macht mich stärker... Auch ohne Hunger, essen werde ich jetzt, und vom Feinsten will ich bestellen. An diesem Abend wird nicht gegeizt. Die Laternen sind eingeschaltet, nur wenige Menschen schlendern noch über die Pflastersteine des alten Marktplatzes. Eine Karaffe roter Unstrut-Wein wird serviert. Besser konnte es nicht gelingen. Meine Euphorie ist auf dem Höhepunkt: Alles lief wie am Schnürchen, ohne jede Panne, ohne jeden Ärger. Was ist schon der Verlust meines teuren Fernglases gegen fünf Tage so heilsamer Wanderfreuden! Das kann es eigentlich noch nicht gewesen sein.

Spät in der Nacht, oder besser: zeitig am Morgen, als ich den schön angesäuselten Tiefschlaf längst hinter mir habe, wecken mich Männerstimmen vor meiner Tür. In welcher Sprache reden sie? Nach einigen Minuten ein lautes Plumpsen. Ich stehe auf, öffne meine Tür, und was sehe ich?  Zwei volltrunkene Männer. In bequemen Jogginganzügen, mit denen sie jetzt vermutlich nicht vom Joggen kommen, hängen sie vor ihrer Tür. Stockbesoffen versuchen sie abwechselnd das Schlüsselloch zu treffen. In ihrem Zustand offenbar ein Glücksspiel - und das finden sie so lustig, dass sie dauernd lachen. Sie geben nur lallendes Gebrabbel von sich. Nach einer Weile endlich ist der Schlüssel im Schloss, einer der beiden bemüht sich um eine “’ntschullldigung“. Noch nie habe ich erwachsene Männer, kräftig an Statur, so hilflos, so erbärmlich, so betrunken gesehen. Man hätte sie mit dem kleinen Finger anstupsen können und sie wären umgefallen wie ein nasser Sack.

Wegen diesen Suffköpfen bin ich also um meinen Schönheitsschlaf gebracht. Ich höre sie noch immer im Nebenzimmer poltern, kann deshalb nicht wieder einschlafen, das macht mich wütend - und so finde ich erst recht keine Ruhe. Meine Lektüre, Max Stirners Essay über den einzig wahren Individualismus, bietet mir auch keine Ablenkung, im Gegenteil: Die Gedanken des Autors, seine Lebensideale, wühlen in mir die Frage auf, wie ich in einer Welt bestehen kann, die so voll von Blödianen ist? Von rücksichtslosen, herdengetriebenen, drogengesteuerten Rudelwesen. Dann machen mich meine schwermütigen Gedanken doch noch müde - und so nicke ich sogar wieder ein.

24. April, Donnerstag. Das Frühstücksbuffet bietet alles, was ein Hotelfrühstück so ausmacht. Alles ist so appetitlich kredenzt - man möchte von allem etwas kosten. Ich schaufle mir vom Rührei auf. Am Nebentisch sitzen zwei pensionierte Pfarrerspaare, die unterhalten sich über ihre einstige Arbeit. Die sei besonders dann hart gewesen, wenn sie jemand auf dem letzten Weg begleiten mussten, den sie auch schon bei einem der ersten Wege, etwa bei der Taufe, begleitet hätten. Immer wieder bekommt man die begrenzte Spanne des Lebens vorgehalten. Ich muss an meinen Onkel denken, der erst vor wenigen Wochen starb. Und an Rainer, dessen Herz vor vier Jahren einfach stehen blieb - wie eine Standuhr, die man vergaß aufzuziehen. Für Sentimentalitäten ist jetzt nicht die Zeit. Wie geht es weiter? Ich fühle mich, als könnte, als müsste ich jetzt den Rest der Welt umradeln...


Oder wenigstens erstmal bis nachhause?

Fortsetzung folgt - vielleicht...

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