12 Minuten aus 12 Tagen...

Vom Main zu den Alpen - meine diesjährige Frühlingstour führt mich erneut nach Bayern. Die Anregung dazu erhielt ich am Ende der vörjährigen Königssee-Bodensee-Fahrt, als ich in Füssen einen Radwegweiser Romantische Straße entdeckte. Ich könnte von hier direkt nach Würzburg weiterradeln, dachte ich damals. Doch meine freien Tage waren begrenzt. Aber ich wusste: Das ist was für den nächsten Frühling. Beim Stichwort Würzburg fiel mir auch gleich ein, dass ich meine Radelei 30 Kilometer östlich beginnen könnte - in Kitzingen am Main, wo sich die Ukulelen-Werkstatt der Marke Brüko befindet. Und genau so hat es mein Ukulele-Reisebüro später dann auch beschlossen und durchgeplant.



*


Himmelfahrtsdonnerstag. Bei meiner Anreise mit der Bahn habe ich einen kleinen Unfall, aber eigentlich doch Glück im Unglück. Die teils sehr kurzen Umsteigeszeiten in Hof sorgen für Hektik. Mit Radel und Gepäck von einem Bahnsteig zum anderen - Treppen runter, Treppen hoch - in vier Minuten! Wer soll das schaffen?! Beim hastigen Einsteigen in den Regionalzug nach Nürnberg unterschätze ich den ungewöhnlich großen Abstand zwischen Bahnsteigkante und Trittbrett, trete mit dem rechten Fuß ins Leere. Das weitere Geschehen ist eine Frage des freien Falls. Mein Schienbein schrabbelt am Trittbrett in Richtung Bahnschiene hinab. Mein Radl, das ich samt Seitentaschen in den Wagen bugsieren wollte, verkeilt sich dabei - und fungiert somit wahrscheinlich als rettendes Gerüst, in dem ich mich verfange. Für die zu Hilfe eilenden Mitreisenden dürfte es fatal ausgesehen haben. Aber wahrscheinlich ist alles halb so schlimm. Unter meiner langbeinigen Cargohose dürfte sich ein blutiges Schienbein finden lassen. Es schmerzt, aber ich glaube, sonst ist es heil geblieben.

Zugfahren hat aber noch weitere Überraschungen zu bieten. Man trifft viele fremde Leute, bei denen ständig das allerliebste kleine Telekommunikationswunder klingelt, zwitschert, pfeift oder gleich zur Disko wird. Die Frau eines Mitreisenden war noch mal schnell im großen Bahnhofsladen einkaufen, um Reiseproviant zu besorgen. Sprichwörtlich im letzten Moment hangelt sie ihren Corpus in den Wagon - und schon fährt der Zug an. Ihr erstaunlich gelassen wirkender Gatte freut sich über das reichhaltige Nahrungsangebot aus Wiener Würstchen und Brötchen, das sein Schatzi nun auf dem Tisch ausbreitet. Waren diese kulinarischen Höhepunkte es nicht allemal wert, den Zug zu verpassen?

Manchmal trifft man im Zug auch alte Bekannte. Martina? Sie hört meinen leisen, skeptischen Ruf, dreht sich um - und staunt ihrerseits, sich nicht verhört zu haben. Wir kennen uns seit über 30 Jahren und haben uns eine Ewigkeit nicht gesehen - da gibt es einiges auszutauschen und die Fahrzeit bis Hof verfliegt im Sauseschritt.  Beim Umsteigen in Hof widerfährt mir das erwähnte Missgeschick. Beim letzen Zugwechsel in Nürnberg - ich bin nun vorsichtiger und die Zeit zum Umsteigen ist nicht ganz so knapp - will mir eine junge Frau beim Einsteigen den Vortritt lassen. Was ich als Gentleman sofort umkehren muss. Es folgt eine Serie gegenseitiger Komplimente, dann erfahre ich einiges Neues über die alten Ägypter und über Jesus - und höre erstmals davon, dass heute der Tag der Wahrheit sei. Sososo.

Warum gerate ich nur immer wieder an esoterisch beleuchtete Frauenzimmer? Sie nennt sich tatsächlich "erweckt" - von wem und wozu auch immer. Ich schenke ihr einen Apfel - das Kauen könnte sie ein wenig beschäftigen, hoffe ich. Doch das kleine Geschenk inspiriert sie um so mehr. Hoch erfreut behauptet sie, ich hätte ihr vor genau einem Jahr ebenfalls einen Apfel geschenkt! Wirklich? Tatsächlich bin ich im Vorjahr am gleichen Himmelfahrtsdonnerstag mit der gleichen Bahn auf gleicher Strecke gefahren... Aber habe ich damals der selben Frau einen gleichen Apfel geschenkt? Jetzt wird es mystisch, ja, irgendwie unheimlich. Das müsste ich mir doch gemerkt haben, wenn ich ihr bereits voriges Jahr begegnet wäre - man wird auf seine alten Donnerstage nicht mehr ganz so oft von einem hübschen jungen Ding umzirpst.

Sie möchte, dass ich sie in Würzburg besuche. Aber wozu? Und: Möchte ich das denn auch? Eigentlich mag ich nur die Stadt kennenlernen. Andererseits: Was ist eine Stadt gegen eine Frau! Ein bisschen reizt mich der Gedanke auf ein galantes Vorspiel zur "Romantischen Straße" durchaus, muss ich gestehen. Sie schreibt mir ihre Telefonnummer auf, ihre Adresse und ihren Namen. Der beginnt mit "JE" und sie verweist mich auf die Buchtstaben S und U und S in ihrem Nachnamen: Wenn man das ensprechend zusammenstückelt, werde daraus JESUS, sagt sie... Himmelherrgott, zu welchem Jesus wird sie mich wohl bekehren wollen? Zum katholischen? Zum lutherischen, zu einem esoterisch ganzheitlichen? Ich verabschiede mich schon zwei Stationen vor Kitzingen von ihr und bereite mein Gepäck und mein Rad fürs Aussteigen vor.

Kurz vor dem Aussteigen kommt die Jesus-Schwärmerin nochmals zu mir - um mir zu sagen, es sei ihr wichtig, sehr wichtig! Ihr Lächeln ist unwiderstehlich. Aber ich zweifle am Sinn eines derartig mystisch arrangierten Wiedersehens. Wenn der Herrgott wirklich höhere Pläne mit uns beiden hätte, sage ich mir, dann würde mir der Allmächtige das reizende kleine Biest ohnehin nochmals über den Weg schicken, ein Zeichen geben, sonstwas. Meine innere Stimme sagt: Alexander! Lass dich nicht von deinem Weg abbringen! Bleibe auf deiner Strecke! Es gibt Versuchungen, die man versuchen kann, aber nicht versuchen muss. Und diese hier gehört wohl eher zur letzteren Kategorie. Ich will ihr aber von draußen noch winken. Sie sieht aber nicht zum Fenster hinaus, bemerkt mich erst, als der Zug anfährt - und winkt fröhlich zurück.




Nachdem mich meine Gastgeber in Kitzingen am Hotel Bayrischer Hof empfangen, wo ich heute übernachten werde, bummeln wir durchs historische Stadtzentrum, das vor 1200 Jahren begründet wurde. Zu den Kuriositäten unter den mittelalterlichen Bauwerken gehört der Falterturm* aus dem 15. Jahrhundert - seiner schief aufgesetzen Haube verdankt er den Beinamen Schiefer Turm von Kitzingen. Beim Kaffetrinken erzählt mir Herr Pfeiffer die Legende zur Namensgebung der Stadt, die auf einen Schäfer namens Kitz zurückgehe. Der soll an einem Weinstock im Tale jenen Schleier gefunden haben, den die Schwester des Königs Pippin der Kurze auf dem Schwanberg dem Wind übergeben haben soll - der Sage nach mit der frommen Absicht, am Fundort ein Kloster errichten zu lassen.*

Anschließend fahren wir zur Ukulelen-Werkstatt im Gewerbegebiet. Die Halterung einer meiner Radgepäcktaschen ist infolge des kleinen Unfalls angebrochen. Herr Pfeiffer schneidet mir in der Werkstatt eine Aluminiumschiene, mit der sich der Bruch in der Taschenhalterung stabilisieren lässt - das hält vorerst, sagt er, aber "ohne Gewährleistung!" Diese Anmerkung ist wichtig. Denn für seine eigentliche Handwerkskunst verspricht Herr Pfeiffer lebenslange Garantie. Das Griffbrett meiner ältesten Brüko-Ukulele hat nach beinahe einem Jahrzehnt Dauereinsatz deutliche Gebrauchsspuren bekommen und ist seit langem dienstbefreit, dennoch wäre sie gewiss weiterhin spielbar - mit ein paar neu augezogenen Saiten könnte ich die Probe aufs Exempel machen. Doch im Laufe der Jahre haben sich einige "Zweitukulelen" angesammelt, bei denen es sich einerseits um Weiterentwicklungen eines Brüko-Klassikers und andererseits um Studien- bzw. Sondermodelle handelt. Ich bin kein notorischer Sammler, aber ich darf konstatieren: Jedes Instrument hat seine eigenen Präferenzen, je nach den besonderen Ansprüchen des jeweiligen Werkes finde ich mit der Zeit die am besten geeignete Ukulele.

 

In der Brüko-Werkstatt
* schaue ich Herrn und Frau Pfeiffer beim letzten Schliff und bei prüfenden Blicken über die Schultern - und bestaune neue Schöpfungen aus verschiedensten Hölzern, darunter auch wieder welche aus Mooreiche. Das Jahrtausende im sauerstoffarmen Moor konservierte und unter dem Druck verdichtete Eichenholz sieht im rohen Zustand wie ein verkohlter Ast aus - als handwerklicher Laie wäre ich nie auf den Gedanken gekommen, dass sich daraus ein Instrument herstellen lässt.

Seit langem haben es mir die unterschiedlichen Maserungen des weißen Ahorns angetan. Was sich unter der von Wind und Wetter vernarbten Rinde eines Baumes verbirgt, ist ein Universum graziler Muster. Beim Riegelahorn formten sich quer zur Längsmaserung flammenartige Maserungen, beim Augenahorn sind augenähnliche Maserungen namensgebend. Und je nach Winkel des Einschnitts zeichnen sich andere filigrane Muster ab. Nun ja, das ist vielleicht ein Hinweis mehr auf meine Lieblingsbinsenweisheit: Das Auge hört mit! Und natürlich klingt jedes Holz etwas anders - bei ansonsten gleicher Bauweise, Form und Besaitung mögen das Nuancen sein - Feinheiten, über die man mit Anhängern des elektronischen Stimmtuners und elektrischer Verstärkung nicht diskutieren muss. Aber unter Akkustik-Puristen und Liebhabern der kleinen feinen Unterschiede können sie durchaus zu Fachsimpelei - und/oder wachsendem Sammlerinstinkt - führen.

Den Abend verbringen wir auf der Terasse der Vogelsburg, von wo der Blick über die Weinberge der Volkacher Mainschleife schweifen kann. Unten im Tal, in Nordheim, spielt eine Coverband zum bierseligen Ausklang des Vaddertachs. Ich vertraue den Empfehlungen meiner Gastgeber und halte mich an die hiesigen Weine. Zum Essen trinke ich einen Silvaner oder zwei, zum Nachspülen probiere ich einen Roten. Der Wein lockert die Zungen. Ich erzähle gern die Episode, wie es bei mir in Sachen Ukulele anfing, damals vor 20 Jahren - nämlich bei einem Konzert der Blues-Legende Taj Mahal im Berliner Veranstaltungsclub Quasimodo. Die Rythm & Blues-Besetzung seiner Band ließ der Chef durch drei hawaiianische Sopran-Ukulelisten würzen. Die Klänge dieses Background-Trios kamen unter der Dominanz von Bass, Schlagzeug und E-Gitarre jedoch kaum zur Geltung - es gab auch kein Solo, um deren Präsenz hervorzuheben. Doch der optische Eindruck blieb in mir hängen.

Als ich am nächsten Tag in einem kleinen Musikladen nur Saiten für die große 12-saitige Guild aus den 60ern kaufen wollte, die mir ein amerikanischer Musikfreund für eine Weile überließ, hing dann genau so ein kleines viersaitiges Ding an der Wand, wie ich es am Vorabend im Quasimodo gesehen hatte. Da wollte ich natürlich mal probieren, wie so was denn nun wirklich klingt - wenn man es klingen lässt. Das Resultat dieser Episode ist bekannt. Jene Ukulele (es war eine Brüko Nr. 4) prägte fortan meinen Lebenswandel, später infizierte ich meine ganze Nachbarschaft mit dem U-Virus, und heute führt mich das kleine Instrument zu seinem Entstehungsort - und in die Weinhänge am Main.

 
Unterwegs sein. Verweilen. Sich Stärken. Fortschreiten... Mit dem Besuch auf der Vogelsburg mangelt es für meine Fahrt nun auch nicht mehr an einem Sinnspruch - der ist zwar nur eine Spielart jener Allerweltsweisheit, wonach der Weg das Ziel sei, aber ergänzt um die wichtigen Aspekte des Verweilens und Kräftesammelns, pointiert mit dem Aufruf zum Fortschreiten. Mit diesen wenigen Worten könnte man um die ganze Welt radeln. Ich begnüge mich für die nächsten 10 Tage mit einer Radelei entlang des Main, der Tauber, der Wörnitz, die Donau querend, am Lech entlang bis die oberallgäuischen Alpen, wo Wasserfälle über Felsen rauschen.

Berauschend ist der Wein, an der Elbe wie am Main. Doch hier gibt es so ungleich viel mehr davon. Über den Wein und den Main wusste schon Friedrich Hölderlin zu singen. Zwar schmachtete er erst sieben Strophen lang die antiken Gestade Griechenlands an, wo süßer Wein und Pauk’ und Zithar zum labyrintischen Tanze ladet, doch in der achten Strophe seiner Ode heroisiert er endlich den schönen Mayn und seine Gestade, die vielbeglückten. Die neunte widmet er der Gastfreundlichkeit des Flusses - nicht ohne Grund, wie ich erfahren durfte.

Gastfreundlich nahmst du, Stolzer! bei dir mich auf
Und heitertest das Auge dem Fremdlinge
Und still hingleitende Gesänge
Lehrtest du mich und geräuschlos Leben

Werde ich jemals erfahren, ob ihn der Main geräuschloses Leben oder geräuschlos (zu) leben lehrte? Heute Nacht ganz sicher nicht mehr! Mit einer geräuscharmen Himmelfahrtsnacht wären meine Ohren bereits vielbeglückt.



*


Freitag. Das nächtliche Begängnis in der engen Gasse unter meinem Hotelzimmer blieb ruhig und der Main-Wein sorgte für tiefen Schlaf. Jetzt ein kurzes Frühstück und dann mit frischen Kräften hinaus auf den Main-Radweg nach Würzburg. Doch zuvor kommt der Schreck in der Morgenstunde! Während ich das vorzügliche Frühstück im Hotel Bayrischer Hof genieße, ruft mich von zuhause mein Nachbar an, weil in meiner Wohnung die Alarmanlage scheppert. Von meiner telefonischen Einsatzzentrale am Frühstücksbüfett in Kitzingen muss ich nun die weiteren Maßnahmen koordinieren. Wie sich erfreulicherweise herausstellt, ist kein Einrecher am Werk gewesen. Wahrscheinlich wurde der Bewegungsmelder von einer Fliege ausgelöst, vielleicht von einer Spinne. Wenn eine Reise mit so vielfältigen Eindrücken, teils aufregenden Zwischenfällen beginnt wie diese, dann ist man nach all dem geneigt zu mutmaßen, der Rest der Reise könne nur noch langweilig werden.

Ich quere den Main über die zentrale Fußgängerbrücke ans linke Ufer. Der Schmerz im leicht ledierten Schienbein bremst mein morgendliches Tempo noch ab, auf den ersten Kilometern komme ich nur langsam voran. Schon am Vormittag heizt die liebe Sonne sommerliche Temperaturen über den Asphalt. Im kleinen Städtchen Marktbreit verschnaufe ich in schattigen Gassen und gönne mir an einem italienischen Café zwei Kugeln Fruchteis. Ich steige wieder in den Sattel und passiere das Geburtshaus eines Arztes, der am Ende des 19. Jahrhunderts Patienten untersuchte, die bisweilen ihren eigenen Namen vergaßen. Wie hieß der Mann noch gleich? Moment, ich hab's auf der Zunge, irgendwas mit A am Anfang! Und irgendwas mit Eimer am Ende... Ah, ja: Alzheimer - Alois Alzheimer... Nach den köstlichen Rebensäften des gestrigen Abends kam ich nicht mehr zu Reisenotizen, doch dieser Wink mit der Zaunslatte - oder war's ein Zaunspfahl? - mahnt mich.

Wozu habe ich mir denn das kleine blaue, aus DDR-Zeiten übrig gebiebene Notizheftchen - Art.-Nr. 57 444 301, EVP 0,55 M - eingesteckt? Heute Abend muss ich mir ein paar Notizen machen, bevor sich die Ereignisse wieder überschlagen. Die Artikelnummer und die Preisangabe des Heftchens wecken in mir längst deaktivierte Gedächtnisareale. Sollte die sozialistische Planwirtschaft tatsächlich zumindest die erstaunliche Produktvielfalt von über 57 Millionen Gebrauchsgütern in petto gehabt haben? Wenn man es vergleicht: Der Endverkaufspreis (EVP) von 50 Pfennigen war bei damaligen Nettostundenlöhnen zwischen und vier Ostmark heutigen Preisen durchaus adäquat. Ich kann einfach nichts wegwerfen, was noch von Nutzen sein kann - wir hatten ja nichts...

 
Nur wenige Kilometer weiter winkt die Altstadt von Ochsenfurth zum nächsten Abstecher. Offenkundig habe ich unbemerkt den sagenhaften WW-Äquator überschritten. Gegenüber der St. Andreas-Kirche eine Ausftelltafel des Restaurants "Purzl" jedenfalls mit folgendem Angebot um Mittagsgäste: ein Paar Weißwürstchen mit Laugenbrezel und süßem Senf plus einen halben Liter frisch gezapftes Hefeweizen für 5,50 € - welcher durstige Noch-nicht-Veganer kann da Nein sagen! Für den Preis bekäme man in Island höchstens noch eine Dose Dünnbier. Eine interessante Alternative wären vielleicht auch die Fränkischen Nonnenfürzchen in feiner Weincréme... Aber ich weiß nicht... Ich beschließe: Für kulinarische Experimente der anzüglichen Sorte bin ich zu dieser jungen Tageszeit noch nicht bereit.

In einer Altstadtgasse finde ich einen Fahradladen, aber der hat gerade Mittagspause. Ich drehe noch eine Runde durch Ochsenfurth und suche den Laden eine halbe Stunde später erneut auf. Doch der Verkäufer könnte die passende Ersatztasche nur bestellen - das hilft mir nicht weiter. Dann versuche ich es eben heute Abend oder morgen früh in der Großstadt Würzburg. Ich quere wieder ans rechte Mainufer und erreiche Sommerhausen - der Ort ist so idyllisch wie sein Name. Im Gärtchen einer Frau, die vom Verkauf bunt bemalter Vogelhäuschen lebt, erfrische ich mich mit einem alkoholfreien Weizenbier. Im Tante-Emma-Lädchen auf der anderen Straßenseite bekomme ich die ersten Erdbeeren aus der Region. Kurz vor Würzburg ist beim Biergarten am Glashaus* einfach nicht vorbei zu kommen. Ich versuche der Versuchung mit ganzer Willenskraft zu widerstehen, aber sämtliche Gäste im herrlich grünen Garten rufen: Komm herein, hier ist es kühl und kein tapfer radelnder Ukulele-Lehrer soll warm geschütteltes Leitungswasser trinken, wenn es erfrischend kühles Gerstengesöff gibt!



Als ich Würzburg erreiche und im City Hotel Schönleber eintreffe, brauche ich erst mal eine Dusche - der Nachmittag war hoch- bis höchstsommerlich. Um sechs sind die drei Fahrradläden der Stadt allerdings bereits geschlossen. Ich radle über die Friedensbrücke ans westliche Ufer und entschließe mich für den schattigen Biergarten am Main, direkt unterhalb der Festung Marienberg. Ich rufe die Jesus-Schwärmerin an, frage sie, ob sie sich hier mit mir treffen möchte. Nein, sie sei schon nicht mehr ausgehfähig gekleidet und habe sich auch schon eine Shisha angezündet... Sie erklärt mir den kürzesten Weg zu ihr. Aber will ich denn eine Erweckte, die im Nachthemd Wasserpfeife dampft, besuchen? Oder will ich Würzburg an einem vorsommerlich lauen Abend? Ich entscheide mich für letzteres.

Es dauert ein Weilchen, ehe sich an meinem Tisch eine Kellnerin blicken lässt - eine ins hübsch staffierte Dirndl integrierte junge Schönheit mit südostasiatischer Blutgruppe. Sie tippt meine Bestellung in ein elektronisches Gerät, das meine Bestellung vermutlich direkt zum Zapfhahn funkt. Doch angesichts der vielen Gäste scheint der ganze Biergartenbetrieb hoffnungslos überfordert zu sein. Hat mich die Elektronik vergessen oder ist irgendwas anderes dazwischengefunkt, frage ich mich nach einer halben Stunde. Ich drehe mich nochmals und nochmals um, doch die Kellnerin macht keinerlei Anstalten, die mich hoffen ließe. Jetzt reicht es mir. Ich verlasse den Biergarten unbedient, schiebe mein Rad über die Alte Mainbrücke zurück ans östliche Ufer.

 

Straßenmusiker und Porträtmaler säumen die steinerne Fußgängerbrücke - und jede Menge Publikum. Doch diese Menge frönt der angeblich schönsten Nebensache von Würzburg, in dem man sich lange am Weinbistro anstellt, um danach einen sogenannten Brückenschoppen aufs Geländersims zu stellen. Der Blick auf den Main, die Festung Marienberg oder die Wallfahrtskirche Käppele auf dem Nikolausberg soll fürs Anstehen und Weiterstehen entschädigen. Natürlich stellen sich auch die Snobs und Snöbinnen der Stadt gern gegenseigtig zur Schau - jedem Tierchen sein Pläsierchen. Unterhalb der Brücke entdecke ich einen weiteren Ausschank - mit Biertischgarnituren, freien Plätzen, ohne Warteschlange. Das ist schon eher was für mich. Nur die Straße, auf der sich junge Männer mit ihren PS-starken Cabrios inszenieren, nervt gelegentlich. Nun ja: Großstadt im reichen Bayernstaate.



*


Samstag. Das Personal des City Hotel ist sehr freundlich und professionell, aber das Frühstücksangebot ist eher Hostel-Niveau. Beim Einchecken entschuldigte sich der Portier dafür, dass es in den fünf Wochen seit meiner Reservierung nicht möglich gewesen sei, in ein Nichtraucherzimmer umzubuchen, da einfach niemand storniert habe. Ich staune, dass es in Hostels dieser Klasse überhaupt noch Privilegien für Raucher gibt. Der Geruch war aber kaum wahrzunehmen, mit beiden Defiziten könnte man leben. Das eigentliche Problem ist die zentrale Lage. Bis früh um fünf diskutiert, streitet, lacht, schreit, labert junges Volk unten auf der Straße - in Sprachen afrikanischer oder arabischer Herkunft. Die Fenster dämpfen einiges ab, aber nicht alles. Ich muss mit der Wärme der Dachkammer klarkommen. Ich habe die Wahl zwischen zu warm und zu laut - schlafen kann ich nicht. Man sollte die Bundeskanzlerin einmal hier übernachten lassen! Sollte sie am nächsten Morgen immer noch in die Selfielinsen von Migranten lächeln können, würde ich davon ausgehen, dass sie Drogen nimmt, um diese Rücksichtslosigkeit zu ertragen.

Ich bin wahrlich alles andere als ausgeschlafen, dennoch muss ich die nächsten Stunden mit wenig Ausnahmen stetig und mitunter steil bergan. Der Radweg führt an der Festung Marienberg zudem neben der stark befahrenen
Leistenstraße bergwärts und die trifft auf halber Höhe auf die B27. Eine Sauerstoffkur ist dieser erste Abschnitt nicht. Ich muss häufig halten und verschnaufen, um die saubergerechneten Abgase von VW und Consorten nicht ganz so tief zu atmen. Bei einer Verschnauf- und Trinkpause sthe ich neben eine parkenden Auto, die Fahrerin kommt und bugsiert ein offenbar retourbestimmtes H&M-Paket auf die Hinterbank. Die Sachen haben wohl nicht gepasst, frage ich die Frau kess. Nein, es sei gar nicht ihr Paket, das sie zurückbringe, sondern von ihrer Tochte: Sie wissen ja, die jungen Leute heute, sagt sie mit russischem Akzent.

Da die Straße in Höchberg wieder horizontal wird, wiege ich mich in der Hoffnung, den namengebenden Gipfelpunkt des ersten Streckenabschnitts erreicht zu haben. Doch wie ich nach der Ortschaft feststellen darf, war da eindeutig der Wunsch der Vater des Gedankens. Ich bekommen eine paar Tropfen ab, diesmal interpretiere ich richtig und sehe mich nach einer Unterstellmöglichkeit um. Ein Carport bietet sich an - hier kann ich in Ruhe das Regencape anlegen oder erstmal nachforschen, was das überhaupt werden will: ein kurzer Schauer, Gewitter, Landregen? Die Radaranzeige der Wetter-App zeigt nur eine kleine Husche an... Oha! Der Ukulele-Lehrer hat sich mit 10 Jahren Verspätung eines dieser modernen Wunderdinger zugelegt, dass unterwegs Wettervorhersagen abrufen kann. Mein altes Klapphandy hatte vor einigen Wochen den Vollwaschgang samt Schleudern überstanden - ich konnte tatsächlich noch telefonieren! Aber nach drei Tagen hat es dann doch dauerhaft die Eingabe der Pin verweigert. Da boten sich zwei Optionen: Entweder wieder ein billiges Klappteil wie das 10 Jahre alte Motorolla - oder eben mal was Zeitgemäßeres. Das kleinste aus dem Apfelladen erhielt nach einigem Geldzählen den Zuschlag, man gönnt sich ja sonst nichts. Nun bin ich gespannt, was es neben Telefonieren, Fotografieren und Wettervorhersagen noch alles kann.

 
Als der Regen schon nach einem kurzen Weilchen nachlässt, vertraue ich darauf, dass sich die Regenwolken an die Vorhersagen der Wetter-App halten und weiterziehen, so dass ich auf das Regencape verzichten kann. Ja, das sieht ganz gut aus. Ich steige wieder in den Sattel - um kurz darauf zu der Einsicht zu gelangen, dass ich den eben angeradelten Berg doch nicht pedalierend bezwingen werde.



Über den leuchtenden Rapsblüten inmitten eines Feldes am Berghang erkenne ich ein einsames Kirchlein. Ich biege vom asphaltierten Weg in den kurzen Feldweg, der zu der Miniaturkirche führt. Durch die Glastür kann ich ins Innere blicken. Höchstens zwei Dutzend Gläubige könnten in dem kleinen Raum ihrem Gott oder ihrem Prediger lauschen. Zwei Bänke im offenen Vorgarten laden zur Rast ein - wie die weißen Kleckse auf dem Holz verkünden, macht von diesem Angebot unter der Woche vor allem das gefiederte Volk Gebrauch. Ich krame meinen letzten Apfel aus dem Gepäck - und aus der Hosentasche das in Form eines Fischleins hergestellte Miniaturtaschenmesser aus der böhmischen Messerschmiede Nixdorf.* Eine junge Mutter mit Kinderwagen hat das gleiche Ziel zum Verweilen erkoren - sie grüßt mich und verschwindet zu einer Bank hinter der Kirche. Dort kann sie in Ruhe ihr Baby stillen und den Blick in die weite Talebene schweifen lassen.

Nach den Eisinger Höhen geht es endlich ein Stück talwärts, nach Waldbrunn muss ich sogar in eine kurze Serpentine hineinbremsen. In die Talsohle hat sich die A3 gefressen. Ich quere die lärmende Autobahn über eine Brücke und muss mich dann wieder den Berg hinaufquälen - teils sehr steil, aber im Schatten eines Wäldchens. Am Straßenrand ist ein Schrotthaufen von Auto geparkt. Das gehört sicherlich dem Mann, der auf einer Bank im Wald die Ruhe genießt - und rauchend in einer Tageszeitung blättert. Im schönsten Winkel eines Wäldchens die postfaktischen Unwahrheiten der Wahrheitspresse lesen - warum nicht? Aber werden all diese Tagesschundblätter nicht vor allem dazu gedruckt, um ihre Leser zu beunruhigen? Um sie mit dem Tratsch und Klatsch der Rummelplätze zu überhäufen und mit dem Schrecken der Terroranschläge zu verängstigen, über die "Konsequenzen für die Parlamentswahlen" in Großbritannien oder Frankreich zu mutmaßen?

Für mich ist der Wald der herrlichste Ort, meinen eigenen Gedanken nachzuhängen, den Frieden mit mir selbst zu finden, zu bekräftigen, zu erneuern, zu vertiefen. Aber dazu muss ich alleine im Wald sein - allein mit lieblich zwitschernden Vögelchen und summsenden Bienchen. Auch keine andere Lektüre habe ich diesmal eingepackt. Ich könnte mir von meinem kleinen Wunderding Gedichte von Friedrich Hölderlin vorlesen lassen - oder Novalis' Hymnen an die Nacht, Eichendorfs Leben eine Taugenichts. Aber niemals im Walde, denn der Wald ist ein lebendes Buch. Weitab der Straßen ist der Wald das letzte Refugium des freien Sinnens und Denkens.



Der Weg zum Eingang der Wallfahrtskirche Liebfrauenbrunn ist mit Darstellungen der Leidensstationen Jesu dekoriert. Im Kellergewölbe des aus dem frühen 15. Jahrhundert stammenden Backsteinbaus kann ich mich mit kalten Quellwasser erfrischen, meine leeren Flaschen füllen. Das Quellwasser sei kein Trinkwasser, weil es nicht regelmäßig geprüft werde, verkündet ein Hinweisschild. Doch der alte Mann, der mich von der Heilkraft des Wassers überzeugen möchte, sagt: Das Schild ist Unsinn, das Wasser wurde erst vor einem Monat geprüft - es kommt halt aus dem Berg, und die Menschen hier trinken es seit Jahrhunderten... Doch der warnende Hinweis hat auch einen begründbaren Aspekt. Der uralten Sage nach vergiftete ein Bauer die Quelle mit Quecksilber, um die lästigen Besucher fernzuhalten, die hier ihren Durst zu stillen suchten. Nach den tragischen Folgen seiner Missgunst - sein zwöfjähriger Sohn sei als Gottestrafe in den Fluten eines Hochwassers ertrunken - soll der böse Mann schließlich reumütig geworden sein und habe an der Quelle die Kapelle erbauen lassen.*

 
Vergiftet, gereinigt, geheiligt, geprüft oder eben nicht - nach einer Stunde in sommerlichen Temperaturen hat die Radlerflasche das beste Quellwasser zu fadem H2O aufgewärmt. Da kommt das nächste Gartenlokal gerade recht. Wer nur etwas Kaltes zum Trinken bestellen und dazu seine aufgeweichten Stullen essen möchte, dem vergönnt die Tafel am Eingang: Verzehr eigener Speisen gestattet. Der auf einer weiteren Tafel angebotene Apfelstrudel passt aber durchaus zur Nachmittagstunde - und in meinen leeren Bauch.

Am frühen Abend erreiche Tauberbischofsheim, wo ich im kleinen Hotel am Schloss Quartier beziehen werde - nur einen Ukulele-Lehrersprung entfernt vom historischen Mittelpunkt der Altstadt. Ich klingle an der verschlossenen Tür, bald darauf antwortet mir eine Stimme durch die Sprechanlage - mittels dieser erhalte ich etliche Anweisungen und schließlich summt die Türverriegelung, so dass ich mein Rad ins Haus bringen kann. Der Wirt ist ein alter Mann, über 70, und seine Beine sind nicht mehr die, um mal schnell die Treppen herab zur Tür flitzen - aus diesem Umstand erklärt sich der unkonventionelle Empfang.



Nachdem der Radler geduscht, gekämmt und gebürstet ist, wirft er sich in die Abendgarderobe und flaniert durchs nahezu verkehrsbefreite Innenstädtchen. Und dazu muss er nur um eine Hausecke, schon ist er auf dem Schlossplatz, wo mitten im Wege ein Brunnen mit versteinerten Mädchen zum ersten Verweilen zwingt. Als der zeitgenössische Künstler die Figuren schuf, saßen die Jungerwachsenen offenbar noch nicht mit Smartphone Modell.

 
Am Ende des Platzes ragt der Türmersturm aus dem 13. Jahrhundert in den baluen Abendhimmel, flankiert vom Fachwerkgemäuer des Kurmainzischen Schlosses.* Vorausgesetzt, der Kellner hat einem bereits ein Getränk auf eins der Tischlein vor der Raucherkneipe Zum Turmwächter serviert, könnte man hier stundenlang einfach ins Blaue schauen oder die altehrwürdigen Dächer der Altstadt zählen.

Machen wir uns nichts vor! Nach der anstrengenden Radelei ist die beste Stadtbesichtigung diejenige, welche sich aus der Perspektive eines frisch gezapften Gerstensaftes ergibt. Ein Mann am Nebentisch empfiehlt mir etwas aus regionaler Herkunft - und ich räume der Wölbung über seiner Gürtellinie die dazu erforderliche Kompetenz ein. Ich konsultiere mein blaues Notizheftchen und beabsichtige, eine Postkarte zu schreiben.
 



Es bleibt nicht bei dem einen Krug. Der kontaktfreudige Mann rückt nach wenigen Sätzen an meinen Tisch, weil in meiner Ecke die Abendsonne nicht blendet, aber auch weil er Unterhaltung sucht. Ich erfahre einiges über Tauberbischoffsheim. Unter den berühmten Söhnen und Töchtern der Stadt gibt es ein Dutzend Olympiasieger und Weltmeister im Fechtsport. Auch Fußballtorhüter und Psychiater listet die Wikipedia für die 13-Tausend-Seelen-Gemeinde auf, lauter bemerkenswerte Persönlichkeiten. Der Stadt wurden inzwischen auch zahlreiche Mirgranten zugeteilt. Die erhielten heute von Frank - wir duzen uns inzwischen - Schwimmunterricht. Infolge der Traumatisierungen auf der Mittelmeerroute sei es gar nicht so einfach, ihnen richtiges Schwimmen beizubringen, sagt Frank. Die paddeln einfach wie Hunde drauflos, ergänzt er. Würdest du dich der Gefahr aussetzen, dich in einer hoffnungslos überfüllten Nussschale über ein Meer zu schippern zu lassen, wenn du noch nicht einmal schwimmen könntest? frage ich Frank. Die Not in Afrika sei einfach so groß, antwortet er, dass man dort jedes Risiko in Kauf nehme. Die Not ist so groß, frage ich provokant zurück, dass windige Schlepper von jedem einzelnen dieser jungen Leute Tausende von Euros für einen Platz in einem Boot kassieren können, dass nicht seetauglich ist???

Mit diesem Dialog ist die Gesprächstür natürlich weit geöffnet. All die Probleme Europas und seiner benachbarten Kontinente, die Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland, alles ließe sich anschließen. Will ich so viel diskutieren? Eigentlich nicht. Aber eines will ich klarstellen: Ich weiß nur zu gut, warum junge Leute ihrer Heimat den Rücken kehren wollen oder müssen. In jungen Jahren, nach Absolvierung der Wehrpflicht bei der NVA, war für mich klar, dass ich den Rest meines jungen Lebens nicht im Honecker-Gehege versauern wollte. Aber nicht um jeden Preis wollte ich fliehen - nicht als Leiche im Westen ankommen! An einer Stelle sind wir uns komplett einig: Die amtierenden Bundeskanzlerin hat nicht die Kompetenz, die Probleme der Welt zu lösen. Mit ihrer bei der FDJ gelernten Improvisiererei - ihrem vermeintlichen "Von-hinten-denken" - verschärft sie die Probleme dieses Landes - sie verschleißt die Gesellschaft auf unerträglich eise, irnorant, arrogant, machtgeil, lässt Geld in Milliardenbündeln zum Fenster hinauswerfen, eines Tages ist es alle. Wie es dann in diesem Lande weitergeht, möchte ich nicht mehr erleben.



*


Sonntag. Beim Frühstück erzählt mir der Wirt, dass er nach dem Tod seiner Frau eine aus Jena stammende Frau kennengelernt habe. Mit ihr würde er gern auch etwas mehr verreisen. Aber dazu müsste er erst das Hotel verkaufen. Zwei Angebote gab e schon. Der Verkauf scheiterte an der bundesdeutschen Bürokratie, die vom neuen Eigentümer strengerer Brandschutzauflagen verlange: Brandschutztüren, Notausgänge. Das aber sei in dem alten Gemäuer kaum realisierbar, so teuer, das die Interessenten wieder abgesprungen wären. Nun müsse er bis auf seine letzten Tage bleiben und das Hotel selbst weiter betreiben. Irgendwas muss man ja machen - und man lernt ja auch hier Leute kennen, sagt der gute alte Mann etwas wehmütig.

Hätte ich nicht gerade erst gefrühstück, würde es mich reizen, an einem Straßentisch des kleinen Cafés Platz zu nehmen, das einen Blick in die beschaulichen Gassen der Altstadt bietet. Doch ich sollte nicht gar so trödeln. Heute ist der erste Tag meiner Tour, an dem mir eine längere Strecke bevorsteht - die beiden ersten Etappen lagen unter 50 Kilometer.
 

 

In der 11. Stunde errreiche ich Bad Mergentheim, ein mir bekannter Name, doch ich fülle ihn erst jetzt mit Bildern. Auf einem der beiden größeren Plätze der Altstadt liegt ein schätzungsweise vier Meter langer Balken mit der Beschriftung: Diese Menge Holz wächst im Mergentheimer Wald in 35 Minuten.



Wenn man die Menge auf einen ganzen Tag hochrechnet, sähe das nach mehr aus - je nach dem, was eigentlich das Kriterium ist. Ich weiß nicht so recht, was mir diese Information sagen soll. Ist das eine Botschaft der Überlegenheit gegenüber anderen Wäldern? Verkündet sie die Hoffnung, dass genug Holz zur Restaurierung von Fachwerk nachwächst. Oder für Möbel und Kaminfeuer verfügbar ist? Oder um daraus überlebensgroße Figuren zu schnitzen.

 

Die Skulpturen auf dem historischen Marktplatz von Weikersheim kommen mir irgendwie bekannt vor. Dergleichen langbeinige Nackedeis kenne ich vom Weingut Zimmerling an den Pillnitzer Weinbergen. Das Schild unter einer der Skulpturen gibt Malgorzata Chodakowska* als Bildhauerin an.

Aha, alles klar. In dem Fall muss ich mich nicht wundern - die polnische Künstlerin lebt und arbeitet seit Mitte der 90er Jahre in meinem Nahradelrrevier, wo sie ihre Spuren hinterließ: Skulpturenspuren sozusagen. Und die fügen sich in das Ensemble der Weikersheimer Altstadtkulisse, als hätten sie schon immer hier gestanden. Passt scho', würde man hier wohl sagen.

Immer nahe an der Tauber entlang radle ich durch das nicht minder beschauliche Creglingen und erreiche gegen sieben Detwang zu Füßen von Rothenburg ob der Tauber. Wie der Zusatz ob der Tauber schon ahnen lässt, liegt das bei Touristen aus aller Welt beliebte Städtchen oberhalb der Tauber. Bevor ich mich in die stark befahrenen, von KFZ-Abgasen vergifteten Serpentinen quäle, werde ich mich im Biergarten Unter den Linden ausruhen und mit einem Bier erfrischen. Ich lehne mein Rad an einen Stuhl verweile einige Momente beim Blick auf die alte Steinbrücke, welche die Tauber hier quert. Ein weißhaariger Sänger beginnt seine letzte Runde Rootsrock zu klampfen... Ich kannte einen, der als Solist tatsächlich wie eine coole Rockband klang - jedenfalls wenn er nicht völlig betrunken über die Bühne torkelte wie bei dem Konzert, das ich in Dresden erlebte: Chris Whitley, sein erstes Album kaufte ich 1991 als Audiokassette für zwei Dollar in einem kleinen Laden in Santa Monica bei Los Angeles, ein Zufallstreffer.

Ich schaue mich nach einem Platz um, der von den Lautsprechern maximal entfernt ist, als mir von hinten jemand auf die Schulter tippt. Es ist Frank, der mir gestern Abend den Tipp für den schönsten Biergarten bei Rothenburg gab. Und nun wollte er tatsächlich nachsehen, ob ich seine Empfehlung befolge. Irgendwie hatte ich ein wenig geahnt, dass Frank hier auftauchen könnte, weil er erwähnt hatte, in Rothenburg zu arbeiten. Im schatten der Linden, am rauschenden Bach - nach tagesfüllender Kurbelei mit einigem Auf und Ab ist das hier wahrlich ein herrliche kühles Plätzchen für ein kühles Bier. Doch zuerst muss ich Frank den Grund sagen, weshalb ich nach einem Platz abseits der kleinen Bühne suche: die Mugge ist einfach nicht mein Ding. Damit ist freilich wieder ein riesiges Gesprächsthema eröffnet. Ich möge nicht so pingelig sein, es sei halt ein Biergarten und die Leute mögen Hintergrundgedudel... Das mag schon sein, aber mir gefällt es eben nicht, entgegne ich. Unweigerlich muss ich mich selbst als Musikschaffender zu erkennen geben. Warum soll ich mir das abgeleierte Repertoire eines Lokalmatadoren antun? Ich kann die ewig gleichen Ohrwürmer nicht mehr ab.

Frank schwärmt für die Lieder von Reinhard May, da kann ich mitreden - über wie unter den Wolken, erst recht in der Luftaufsichtsbaracke. Am Ende schenke ich ihm eine meiner eigenen CDs. Frank ist mit seinem Wohnmobil hier - er bietet mir an, mich samt meines Rades nach Rothenburg hinauf zu fahren. Das nehme ich gerne an. Nicht schlecht, so ein Schlafzimmer auf Rädern! Bei Bedarf lässt sich ein zweites großes Doppelbett aus dem Dach herabsenken. Durch Irland ist er so schon gefahren, erwähnt Frank. Ja, war ich auch schon - mit dem Radel einmal ringsherum... Es gäbe noch einiges zum Quasseln, aber in fünf Minuten sind wir den Berg hinauf - mit dem Rad hätte ich eine schweißtreibende Stunde lang geschoben. Am Nordtor der mittelalterlichen Stadtmauer verabschieden wir uns.




Erst in der neunten Stunde komme ich zu einem Bummel durch die altehrwürdigen Gemäuer Rothenburgs. Die Busladungen voller Reisegruppen sind da längst fort, aber die verbliebenen Abendspaziergänger sind dennoch ein buntes Gemisch aus aller Herren und Damen Völker. Englisch mit amerikanischem Akzent dominiert. Doch auch Russisch ist oft zu hören. Spanisch, Italienisch und Ungarisch kann ich auseinanderhalten - die ostasiatischen Sprachen bleiben mir ein Rätsel. Trotz der vielen Spaziergänger am zentralen Marktplatz herrscht eine lauschige Atmosphäre. Da hat es der als mittelalterlicher Nachtwächter verkleidete Touristeneinsammler nicht schwer, sich Gehör zu verschaffen - zahlungswillige Passanten folgen seiner Nachtführung.

 
Mein belgischer Musikfreund Herman Vandecauter empfahl mir die urwüchsige Weinschenke "Zur Höll". Doch ein kleines Schild im Fenster der Tür verkündet: heute geschlossen. Ich kehre zurück zum großen Marktplatz, wo trotz der zahlreichen Spaziergänger eine wunderbare Ruhe herrscht - kein Straßenmusiker, keine Konservenmusik, nur gelegentlich ein Macho im Cabrio.



Von einer Sitzbank am oberen Ende des Platzes beobachte ich das entspannte Treiben. Neben mir sitzt ein alter Mann mit einigem Reisegepäck, er trinkt aus einer Wasserflasche, beißt in eine Stulle. Schweigsam beäugen wir uns gegenseitig. Ich vermute, er hat kein Quartier gefunden und wartet die Dunkelheit ab, um sich dann eine verstecktere Ecke für die Nacht zu suchen. Ich könnte ihn fragen. Aber von keiner Antwort würde ich klüger werden - und helfen könnte ich ihm auch nicht.
Auch die nobleren Herbergen sind im weiltweit bekannten Rothenburg zeitig ausgebucht.

Ich bin seit vier Tagen unterwegs und habe an jedem Abend so entspannte Menschen kenngelernt. Sind die Leute hier einfach aufgeschlossener als in meiner Heimat? Oder ist das nur der subjektive Eindruck des Urlaubers. Frank jedenfalls empfand bei seinem früheren Dresden-Besuch die Ureinwohner meiner Heimat als bemerkenswert freundlich. Sicherlich schlägt die ländliche Entspanntheit, die der Hektik der großen Stadt entgegensteht, positiv zu Buche - zu viele Menschen auf einem Haufen, zu viel Lärm, da lässt die Kontaktfreudigikeit nach. Doch ich bin nicht das erste Mal südlich des Weißwurscht-Äquators und mein Eindruck, dass die Leute hier ingesamt gesehen, deutlich zufriedener und freundlicher sind, wird daher nicht gar zu sehr trügen.



*


Montag. Der Radweg nach Süden führt eigentlich durchs Tal, doch ich bleibe ob der Tauber, denn auf meiner Karte sieht es so aus, als ob es wenige Kilometer weiter ohnehin wieder bergan geht. Zwar zeigt die Karte keine Anstiege an, doch meine Vermutung bestätigt sich - und spart mir einige Kräfte, die ich dann ab Diebach brauche, wo es zunächst mäßig, aber ab Bellershausen steil hinauf nach Schillingsfürst geht. Nach Archshofen folge ich dem Radweg entlang eines Bahngleises, das ich dann ostwärts in ein Dörfchen namens Bonladen quere - ein Dutzend Häuser. An der einzigen kleinen Kreuzung klärt mich ein Mann auf, dass ich in den geschotterten Weg nach rechts abbiegen könne, um mir die ansteigende Straße und den Umweg über Oberdallersbach zu sparen. Der Weg soll künftig ohnehin der offizielle Radweg werden, ergänzt er. Den Rat nehme ich dankend an. Einige Kilometer weiter erreiche Feuchtwangen, wo die Turmuhr auf 3 zeigt. Am Horizont formieren sich Quellwolke - sie veranlassen mich, die Gewitterwarnungen ernst zu nehmen und nicht zu ausgiebig zu verweilen. Denn bis Dinkelsbühl, wo ich meine nächstes Quartier gebucht habe, liegen noch 25 Kilometer vor mir. Wo es der Weg erlaubt, beschleunige ich meine Fahrt. Die Wolken werden dunkler und mächtiger.

Kurz vor fünf erreiche ich das Städtchen Dinkelsbühl. Um dem angesagten und am Himmel sich zusammenbrauenden Gewitterguss zu entkommen, suche ich als erstes die Pension auf - die sich, wie ihr Name ahnen lässt, Weibs' Brauhaus, seit Alters her auch mit dem Lieblingsgetränk durstiger Germanen befasst oder einst befasst hat.
 

 
Der Tresen ist die Rezeption - da liegt es äußerst nahe, umgehend einen kühlen Schluck Brautradition zu studieren. Der Bildungsbürger in mir bildet sich mittels eines Aushanges und weiß nun, worauf es den Brau-Meistern 200 Jahre, bevor mein eigene Kehle den Durst der Welt erkannte, aufrichtig ankam: 1) Ein gutes Bier brauen und erhalten. 2) Guter Essig aus Bier in großer und kleine Quantität mit Profit zu bereiten. 3) Sowohl aus Getreydig als bloßen Bierhefen guten Brandwein brennen und von solchen hernach allerhand köstliche Aqua Vitae verfertigen...



Als wollten sich die schweren Regenwolken meiner Wenigkeit erbarmen, ziehen sie  plötzlich vorüber und ermöglichen mir so einen Abendbummel durch die gepflasterten Straßen und Gassen der schönen kleinen Stadt. Ach, stünden doch nur nicht überall die mobilen Blechkarossen herum... Man könnte sich wie in einer vorindustriellen Stadt fühlen und die Schwärmereien der romantischen Dichter viel intensiver aufnehmen. Je älter ich werde, je entschleunigter ich durch die Welt fahre, desto stärker ergreift mich die Sehnsucht nach der Poesie der Romantik. Die mag alberne patriotische Verklärungen im Schlepp gehabt haben, doch wenn ich versuche, diese Epoche zu verstehen, kommt es mir vor, als hätte ich damals schon einmal gelebt.

In den versteckteren Winkeln findet sich dann noch etwas von der Idylle, die ich suche, und manch verspieltes Kleinod fängt den Blick eines jeden Fotografen ein, der den Abstecher in die Seitengassen nicht scheut. All diese reizvollen Ansichten verdanke ich einer mächtigen Gewitterwolke, die sich kurzum entschloss, ihre nasse Fracht erst später oder an anderer Stelle abzuladen. Für den dämmerlichen Teil des Abends widme ich mich dem weiteren Studium der Brauereikunst.
 

 

 

*

 



Dienstag. Beim ersten Blick aus dem Fenster ist der Himmel grau, aber es regnet nicht - noch nicht... Beim Frühstück aber fängt es an - und holt dann mit aller Wucht nach, was gestern bereits angedroht war. Was sagt die Wetter-App dazu? Wie lange wird es regnen? Das Regenradar zeigt eine Regenfront, die in einer Stunde vorüber ist, danach wird sogar eine hinter Wolken hervorlugende Sonne angezeigt. Na gut, dann kann man sich beim Frühstück also Zeit lassen, sagt sich auch das Radlerpärchen, das gestern Abend noch eingeflogen war. Ich krame die Postkarten aus dem Gepäck und schreibe ein paar Sätze an Mutti. Der männliche Teil des Radlerpärchens findet es bemerkenswert, dass es noch jemand gibt, der Postkarten schreibt.

Wir haben Zeit, etwas übers Radlerwetter zu palavern. Ich erwähne meine Irland- und Island-Erfahrungen und dass ich mich von daher für auf alles vorbereitet halte, aber dennoch lieber im Trockenen radeln würde. Zustimmendes Gelächter. Nun müssen die diversen Wetter-Apps sich vergleichen lassen, den Praxistest bestehen und wiederholen. Noch vor einigen Wochen spöttelte ich über die digitalen Spielereien des Mobiltelefon-Zeitalers, in dem Leute so fasziniert von den kleinen Gerätschaften sind, dass sie kein Auge davon lassen können und lieber gegen Laternenmasten laufen. Aber eines muss ich diesen neumodischen Erfindungen schon jetzt zugestehen, die Wettervorhersagen sind immer aktualisiert, regional spezifiziert, insgesamt eklatant präziser als die Wetteraussichten in den konventionellen Medien. Nach einer Stunde Geplätscher lässt der Regen nach, exakt wie vorhergesagt. Ich trete auf den Balkon hinaus und mache mir ein eigenes Bild vom Himmel über den Dächern Dinkebühls: Es wird wieder heller.

Auf geht's. Zwar ist der Regen hier erst mal vorüber, doch bis Donauwörth gibt es um die 80 Kilometer zu pedalieren und andernorts ist mit weiteren Güssen zu rechnen. Am frühen Nachmittag erreiche ich die Altstadt von Nördlingen, hier lässt es sich im Schatten altehrwürdiger Gemäuer ausruhen. Eine Postkarte nach einem Gemälde aus der Vorblechkarossen-Epoche reizt mich, sie mit ein paar Zeilen an meine Nachbarn daheim zu füllen. Punkt zwei öffnet ein Lädchen, das mit einem Straßenschild für Bio-Eis wirbt. An so was komme ich nicht mehr vorbei, seit meine Zunge den Glimmstengeln entsagt hat: Zitronen-Sorbet, hausgemacht, feinstens.

Einige Kilometer vor Harburg schwenkt der Radweg nordwestlich ab, um vor Heroldingen die Wörnitz zu queren und am anderen Ufer südöstlich über Ronheim nach zu führen - ein beachtlicher Umweg, der meines Erachtens nur für Radler interessant ist, die den dort eingetragenen Campingplatz aufsuchen. Ich wähle den direkten Weg, der mich teils nahe an der stark befahrenen B25 entlang und über den schweißtreibenden Hühnerberg führt. Die Vermeidung dieser Unannehmlichkeiten könnte ein Argument für die abschweifende Streckenführung des Radweges gewesen sein. Aber was soll's? Ich hab's hinter mir und nach jedem Berg kommt ein Tal.



Ich rolle hinunter ans Ufer der Wörnitz, durch schattige Gassen zu Füßen der Schlossburg von Harburg, quere den Fluss über die nächste Brücke, verfahre mich etwas, weil ich Radwegweisern folge, die mich im Kreise herumführen. Wegen einer Baustelle gibt es auch Radweg-Umleitungen, aber die sind leider nicht konsequent beschildert. Das Hin und Her an der stark befahrenen Hauptstraße nervt. Ich frage mich durch. Eine Gruppe von Mädchen kommt vom Schulhof, ich spreche sie an. Hübsch und freundlich sind sie, nur leider nicht besonders radweg-kundig. Ich halte an einer kleinen Apotheke an. Die junge Verkäuferin begleitet mich auf die Straße hinaus und erklärt mir den Weg bestens. Was für schöne, reizend lächelnde Gesichter hätte ich verpasst, wäre die Beschilderung korrekt gewesen!

Gegen sieben erreiche ich Donauwörth, mein Quartier liegt ein Stück hinter der Altstadt. Die Zufahrtstraße hat zwar etwas von Gewerbegebiet, aber das kleine B & B liegt herrlich am Ufer der Donau. Ein junger Japaner öffnet mir die Tür, zeigt mir die Fahrradgarage. Beim Abnehmen der Gepäcktaschen klemmt die lädierte Tasche. Ich kann ziehen und drücken und biegen und zerren, kriege sie einfach nicht ab. Auch der junge Mann bemüht sich redlich - mit dem gleichen Misserfolg. Nach 10 schweißtreibenden Minuten gibt die Verriegelung dann endlich nach und ich kann die Tasche vom Rad nehmen. Spätestens hier sollte ich erwägen, ob das reparierte Provisorium an seine Belastungsgrenzen gekommen ist oder aber unabhägig davon ein Makel an der Verriegelung besteht - oder beides. Der Janpaner weiß von einem Radladen, gleich auf dem Weg in die Altstadt, nur heute ist er schon geschlossen.

Mein Zimmer ist sehr komfortabel. Und das Bad erst! Nur zwei Gästezimmer hat das kleine Haus - ein Schild an der Außentür erklärt, dass heute beide belegt sind. Über den Trampelpfad am Ufer entlang komme ich ins historische Zentrum, wo ein Kanal den Stadtteil Ried an der Wörnitz umströmt, die ihrerseits keine 100 Meter weiter in die Donau mündet.
 

Die scharzen Wolken, die schon seit meiner Ankunft über der Stadt hängen, künden Regen an. Im Wetterbericht war die Rede von starken Gewittern, die in Norddeutschland einige Überschwemmungen und Schäden angerichtet hätten. Eine einheimische ältere Frau weiß jedoch: Wenn die Wolken von Norden heranziehen, bleibt es bei Drohgebärden. Und ich weiß längst: Auf die Erfahrung älterer Einheimischer kann man vertrauen. Sie wird recht behalten. Und ich werde trocken bleiben.

 
Ich sitze auf der Terasse des italienischen Restaurant Raffaelo, wo die Kellner umhereilen und Komplimente unter den Stammkunden verteilen. An mir laufen sie immer wieder vorbei, weitaus später gekommene Gäste werden schon bedient. Die inszenierte Routine der Italiener täuscht mich nicht darüber hinweg, dass das Personal hier zu dieser Zeit völlig überfordert ist.

Am Nebentisch diskutiert ein sendungsbewusster Mann mit seiner angeheirateten Russin über den Sinn nobler Karossen als Wertanlage. Er geht sogar so weit, Autos mit Frauen zu vergleichen, indem er argumentiert: Schöne Frauen sind selten, deshalb sind sie begehrt - und somit teuer... Wie Autos eben. Auch die Kellnerin, die mir endlich meine Pizza serviert, hat einen russischen Akzent - sie erwidert mein Danke mit einem konsequenten Prego. Fürs Personal im Ristorante sind italienische Floskeln gewiss obligatorisch. Einen Tisch weiter wird spanisch gesprochen, englisch höre ich auch - keine Zweifel: Hier schlägt das Herz der kleinen Stadt, die nach der schönen blauen Donau benannt ist, obgleich ihr historisches Zentrum von der nicht minder schönen blauen Wörnitz umspült wird.



*




Mittwoch. Nach einem vorzüglichen Frühstück mache ich mich auf den Weg zum Radladen. Eine Ersatztasche könnte auch hier nur bestellt werden - und das ist für mich keine Option. Der ausgewiesene Radweg führt eigentlich zunächst an der Donau ostwärts bis Marxheim - dort nächigte ich bei meiner ersten größeren Radwanderung - entlang der Donau von ihrer Quelle bis Wien - im Sommer 2014. Von da ginge es dann südwärts bei der Mündung des Lech über die Donau und dann südestwärts - ein riesiger Umweg. Ich quere die Donau gleich in Donauwörth über die Brücke bei der Wörnitz-Mündung und fahre nach Kompass, Nase und mit Durchfragen südwärds, bis ich südlich von Mertingen, bei Druisheim, wieder auf die beschilderte Strecke treffe - dadurch spare ich schätzungsweise gut 20 Kilometer ein:

Zu Biberbach sticht die Burg Markt mit dem weißgetünchten Onoldsbacher Turm ins Auge, der sich die barocke Gesellschaft der Schlosskapelle St. Johannes der Täufer leisten kann. Ab 1525 ließ der neue Besitzer des Anwesens, Jakob Fugger, das Anwesen zum Schloss für gelegentliche Wochenendausflüge ausbauen, weshalb es den einprägsameren Beinamen Fuggerschloss erhielt.*
 

 
In Biberach folge ich dem Schild zum Huckerwirt, wo ich mir das Stillen meines nach einigen Steigungen gestiegenen Durstes verspreche. Doch heute ist Ruhetag. Gleich nebenan zieht mich die außergewöhnlich gestaltete Kreuzigungsgruppe am Aufgang zur Wallfahrtskirche St. Jakobus und Laurentius in ihren Bann.* Neben Jesus winden sich die zeitgleich hingerichteten Verbrecher unter den unbeschreiblichen Qualen der Tortur. Maria, Maria Magdalena, Johannes trauern um Jesus, ein berittener römischer Soldat beherrscht den Vordergund.

Bei Langwied geht es nach Stunden gen Süden ein Stück ostwärts bis auf eine Brücke, die den Lech und einen parallel angelegten Kanal quert. Rechts geht es laut Karte zwischen dem natürlichen Flusslauf des Lech und dem Kanal in südwärtiger Richtung nach Gersthofen - falls man so sagen darf: ein Vorort von Augsburg. Doch das Radwegschild weist direkt in die entgegengesetzte Richtung, was mich an meiner Karte zweifeln lässt. Ich frage einen einheimischen Radler: Das ist mir noch nie aufgefallen, antwortet er: Nein, das Schild ist falsch, verlassen Sie sich auf Ihre Karte!



Glasklares Gebirgswasser strömt durch das wilde Kiesbett des Lech, nur an wenigen Stellen hat man einen Blick durch das Gestrüpp am Ufer. An einem der Trampelpfade weist ein von Wind und Nässe verformter Zettel auf den Schutz des Flussregenpfeifers, eine seltene und gefährdete Vogelart, der von Anfang April bis Ende Juni auf den Kiesbänken zu brüten versuche. Daher möge man bitte die Schutzzone in dieser Zeit nicht betreten. So weit so gut. Doch liegt es wirklich an den zwei oder drei Naturfreunden, die hier pro Tag innehalten und dem Gezwitscher der sonstigen Vögel ebenso gern lauschen?

 
Auf der gegenüberliegende Seite, hinter dem Kanal, ist das endlose Lärmen der autobahnähnlich ausgebauten B2 zu hören, gleich daneben führen die Gleisanlagen in eine riesige Industrieanlage: Rohre, Silos, Container soweit das Auge blicken kann, giftige Abgase soweit die Nase riechen kann! Ist das nicht der eigentliche Grund für das Aussterben der Singvögel?

Was für eine absurde Mahnung ist diese auf einem Zettel gedruckte Bitte der Vogelschützer! Nach einem anständigen Gewitter ist dieser Zettel ohnehin unlesbar, fliegt in Einzelteile zerissen durch die Gegend, schwimmt im Fluss, klebt im Gestrüpp... Ich schätze, dass auf jeden Wanderer und Radler, der hier entlangkommt, wenigstens hundert Fahrzeugführer am anderen Ufer entlang donnern. Wenn das mal reicht! Und dann noch die umweltverdreckende Industrie, welche diese wahnsinnige Mobiltät schafft und erfordert: Unmengen von Rauch, Feinstaub, Stickstoff und sonstigem Gift für Lungen aller Art. Ein desatröser Kreislauf, den die Damen und Herren aus der Volksvertretungsbranche Volkswirtschaft, bisweilen gar Schaffung von Arbeitsplätzen nennen...

In Augsburg liegt meine heutiges Nachtlager am nördlichen Rand der Altstadt, von wo ich die Stadt erreiche. Daher suche ich als erstes das kleine Garni-Hotel Georgsrast auf, das nach der gegenüberliegenden Kirche St. Georg benannt ist. Am Eingang im Hof spuckt der Schlüsselautomat wie vereinbart meinen Schlüssel aus. Kaum bin ich in meinem Zimmer klingelt das Telefon. Ich nehme ab, aber es klackt nur in der Leitung. Es klingelt wieder, dann ist der Betreiber, Herr Lerch, persönlich am Apparat - und fragt, ob ich denn auch meine Ukulele dabei hätte... Ich staune, denn ich bin mir sicher, bei der telefonischen Buchung nichts dergleichen erwähnt zu haben - wozu auch! Ich frage ihn, woher er von meiner Mission weiß. Der alte Mann kennt sich mit dem Internet aus, hat aus meiner Email-Adresse auf den Domain-Namen meiner Internetpräsentation geschlossen und meine Webseiten studiert. Eine Minute später treffe ich mich mit ihm in seinem Büro, wo er mir obligatorisch einen reklamefinanzierten Stadtplan aushändigt und
Tipps für die Stadtbesichtigung gibt. Ich erzähle ihm, dass ich das erste Mal in Augsburg bin - und dass mir die Erwähnung der Stadt vor über 30 Jahren einmal mehr Ärger einbrachte, als ich mir damals denken konnte.

Rückblende: Wir schreiben das Jahr 1982, Anfang November, die beiden Militärblöcke des Kalten Krieges rüsten sich gerade mittels handlicher Mittelstreckenraketen und Stationierung nuklearer Sprengköpfe in gegenseitige Abgründe - und ich werde zum Grundwehrdienst bei der NVA eingezogen! Mal eben ins rekrutierungsbefreite Westberlin umziehen, war nur für Bundesmänner möglich. Für Zonenmänner hatte die deutsche Geschichte leider nur die Arschkarte übrig gelassen. Zur Begrüßung in der Kasermne liest mir ein Offizier, der sich auf frisches Kanonenfutter freute, meine Heimatadresse vor: Aus Dresden kommt er also, Ausgburger Straße... - Ich wollte nicht so dreist sein, ihm zu antworten, ich wüsste, wo ich wohne... Einen kleinen Seitenhieb konnte ich mir dann aber doch nicht verkneifen. Und so hielt ich ihm entgegen, dass es mir umgekehrt lieber sei... Tja, so war das damals: Man wurde mir nichts dir nichts aus dem sächsischen Tal der Ahnungslosen zum Grundwehrdienst ins traditonsreiche preußische Heer eingezogen - und war so naiv zu glauben, so viel Humor könnte ein verkappter Potsdamer Postkutschenpostkastenputzer beim Postkutschenpostkastenputzen vielleicht noch haben...



Dann frage ich den Wirt, ob es in Augsburg denn überhaupt eine Dresdner Straße gäbe. Nicht dass er wüsste, aber er sucht im Interent und wird fündig. In der Nähe des Bahnhofs gibt es tatsächlich eine Dresdner Straße. Doch die liegt nicht ganz am Wege, ich ziehe das historische Stadtzentrum vor. Und natürlich ist jene Anekdote auch nicht genug Anlass zur Vertiefung nostalgischer Anwandlungen.

Obgleich sich das altehrwürdige Augsburg längst zur modernen Großstadt gemausert hat, kommt das Stadtzentrum zu dieser frühen Abendstunde doch vergleichsweise ruhig daher. Man versteht sogar in den Hauptstraßen noch mehr als nur das eigene Wort. Eine Straßenbahn quietscht um die Kurven, ein Fahrrad klappert übers Straßenpflaster der Altstadt. Ein junger Mann voller Tattoos und Piercings diskutiert entspannt mit einer komplett in Schwarz gehüllten jungen Frau, beide haben sehr individuelle Frisuren und Lebensentwürfe - oder auch keine. Ausländische Touristen und Migranten sind kaum zu unterscheiden, im Vergleich zu meiner Heimatstadt ist das multikulturelle Ambiente hier weit mehr ausgeprägt.

 
Auf einem kleinen Platz in einer Nebenstraße vernehme ich das Zupfen von Saiten und spitze meine Ohren. Der junge Mann, den ich dann entdecke, spielt eine sogenannte Guitalele der Marke Yamaha. Das Instrument ist zwar klein wie eine Ukulele, der sie ihr Namensanhängsel verdankt, spielt sich aber prinzipiell wie eine Gitarre und könnte mit einiger Berechtigung ebenso Ukutarre genannt werden.

Große Finger bekommen zwischen den sechs Saiten und den schmalen Bünden einige Probleme und ich kann nur staunen, wei der junge Man damit zurechtkommt. Auch für ihn sei es bei einigen Griffen ziemlich eng, räumt Dennis ein. Dann erzählt er mir, dass er gerade erst nach Augsburg gezogen sei, neben musikalischen Angelegegenheiten sei er auch beruflich und generell noch auf der Suche nach seinem Platz im Leben. Er fragt mich nach dem meinem - und ich erzähle, was man so in 10 Minuten über seinen Jahrzenhnte längeren Lebenswandel sagen kann.

 

 

Die Fuggerei gehört zu den bekanntenn Sehenswürdigkeiten Augsburgs und ist in den Abendstunden dennoch alles andere als eine geschäftige Touristenmeile. Wie zu Robert Fuggers Zeiten leben hier noch heute Menschen, die mit wenig Geld auskommen können, müssen oder wollen. Für 88 Cent Jahreskaltmiete und drei tägliche Gebete ist man dabei - könnte man dabei sein. Ich kann mir gut vorstellen, dass es für die 142 Wohnungen sehr viele Bewerber gibt.* Die Auserwählten müssen zu frommen Abendzeiten heimgekehrt sein, denn um 22 Uhr schließen die Tore dieser Stadt in der Stadt. Zum Ausgleich genießen sie das unschätzbare Privileg, in einer idyllischen, vom Straßenverkehr abgeschrimten Siedlung des Stadtzentrums wohnen zu dürfen. Eine kleine Hofwirtschaft am Eingang der Siedlung bietet den Besuchern des Kleinods gastronomische Einkehr - ein Zugeständnis an den Kommerz, mit dem die Fuggers einst so unverschämt reich geworden sind, dass sie am Ende nicht mehr wussten, wohin mit all der Knete...

Kein Auto und kein Motorrad stören Ohren, Augen und Nasen - man kommt sich vor wie in einer Zeitreise ins Vorblechkarossenzeitalter. In den letzten Sonnenstrahlen an einer Hausecke schwatzen ein paar alte Frauen in Küchenschürzen - wie auf dem Dorf und doch mitten in der Stadt. Ein paar Kinder spielen am Ende der ruhigen Gasse. In der Abendsonne orange aufleuchtendende Fassaden gauckeln den Charm einer Ära vor, die nicht minder raffgierig war als die heutige. Im Dresdner Stadtteil Laubegast, wo ich wohne, haben sich noch einige Gässchen versteckt, die fast den gleichen Reiz besitzen, mit ganz ähnlich kleinen Reihenhäusern in ganz ähnlich gelblichen Farben. Die Kleinstwohnung für arme oder alleinstehende Leute ist historisch gesehen also kein Augsburger Unikum. Heute werden die städtischen Wohneinheiten übereinander gestapelt, samt Bewohnern - und das bringt leider viele neue Probleme mit sich.

Noch vor Schließzeit der Fuggerei kehre auch ich zurück in mein Quartier. Doch nicht um den Rest des Abends vor der Glotze abzuhängen. Sondern um meine Ukulele zu holen und das Neruda aufzusuchen, eine nur wenige Straßenecken entfernte Kneipe, in der es täglich Musikertreffen mit Schwerpunkt auf Latinoklängen geben soll. Dennis, der mir den Tipp gab und mit dem ich hier unverbindlich verabredet bin, treffe ich nicht an. Dafür eine Gruppe Dilettanten, deren Präferenzen in den Hits der späten 60er und frühen 70er liegen - und für immer liegen werden. Ich grüße die Runde, packe meine Uke aus und begleite sie zu seinem der alten Gassenhauer, doch bei Blowin' in the Wind steige ich endgültig aus - aus Respekt vor Bob Dylan.

In einer anderen Ecke der gemütlichen kleinen Kneipe sitzen zwei junge Gitarerros, doch die kommen nicht zum Zuge, weil die alten Säcke ihnen keine Gelegenheit geben. Selbst während einer kleinen Pause, als ich die beiden ermutige, die bereits auf ihren Schößen im Standby verharrenden Gitarren zum Kingen zu bringen, erstickt der Versuch zu etwas Abwechslung, weil die tauben Nüsse der 60er Fraktion rücksichtlos genug sind, dennoch einen ihrer alten Ohrwürmer anzustimmen! An einem Couchtisch neben mir spielen zwei jungen zentralfrikanische Migranten Schach. Der Kneipenwirt animiert eine junge Stammgästin zum Rauchen, indem er ihr eine Zigarette zwischen die Finger schiebt. Sie folgt ihm hinaus vor die Tür, wo sich an diesem lauen Mittwochabend sämtliche Raucher versammelt haben.

 
Das gegenüberliegende Alters- oder Pflegeheim hat in der Zwischenzeit den freien Parkplatz vor der Kneipe zur Entrümpelung veralteten Mobiliars genutzt, darunter fahrbare Stühle mit einem großen Loch in der Sitzfläche. Dessen Zweck beschmunzeln die bierseligen Kneipengäste zu gern. Dabei dürfte es bei den jüngeren Gäste kaum zwei Jahrzehnte her sein, dass sie ähnliche Bestuhlungen nutzten - nur in etwas kleinerer Form.

Die älteren Gäste könnten womöglich eher wieder davon Gebrauch machen müssen, als ihnen recht ist, flüstere ich dem rauchenden Wirt zu. Und der alte Junge, der diesen Laden schmeißt und dessen grau meliertes Haupt Che Guevarras Baskenmütze überdeckt, ist welterfahren genug, mir zuzustimmen. Ich frage ihn nicht, aber sein Akzent lässt darauf schließen, dass er aus dem Lande Nerudas stammt, zu dem er mit dieser seiner Kneipe in nostalgischer Verbundenheit steht... Ich kann mich aber auch irren ud vielleicht ist er nur ein alter Möchtegern-Latino - quién sabe!



*



Donnerstag. Vom Ausburger Stadtzentrum schwenkt der ausgewiesene Radweg ostwärts und über eine Brücke ans andere Ufer ab, wo er unbedingt den Stadtteil Friedberg mitnehmen möchte. Nach einer Schleife durch den Stadtteil führt er ans hiesige Ufer zurück - ein Umweg von sicher 10 Kilometern, den ich entschieden ablehne. Stattdessen steuere ich südlich des Stadtzentrums auf den Botanischen Garten zu und passiere danach den Zoo, befinde mich sogleich in einer großen, wilden Parkanlage, treffe nach wenigen hundert Metern wieder auf den nicht ganz konsequent beschilderten Radweg der Romantischen Straße. Der Park geht in waldiges Terrain über und bisweilen an blühenden Mohnfeldern entlang.



Ein kleines handgefertigtes Schild gemahnt den über Schotterwege rasenden Ukulele-Lehrer zu Achtsamkeit: Vorsicht, Wanderer kreuzen. Nur vereinzelte kommen mir andere Radler entgegen, eine junge Mutter zieht einen Anhänger mit Kleinkindern hinter sich her, eine Seniorenwandergruppe klappert mit zwei Dutzend Nordic Walking-Stöcken entgegen. Von der lädierten Gepäcktasche habe ich mich bereits in Ausgburg getrennt, nunmehr den enthaltenen Rucksack mit der Ukulele darinnen auf dem Gepäckträger befestigt - mit dem einen Spanngurt, den ich sonst nur zum Festzurren des Rades in den Zügen benutze, sichere ich den kleinen Rucksack an der Sattelstange. Von der entsorgten Gepäcktasche habe ich zuvor die Schnallen und andere Verschleißteile enfernt, die mir eventuell als Ersatz für die andere Gepäcktasche noch nützlich sein können. Zwar musste ich meinen Rucksack nach dem Geholper über Augsburger Pflastersteinstraßen noch etwas nachziehen, aber sonst scheint die Sache ganz gut zu halten.

Östlich von Königsbrunn geht es ein Stück am Mandichosee entlang, ein vom Lech gespeister Stausee. Welche exotische Phantasie mag bei der Namensgebung des künstlichen Sees Pate gestanden haben? Der geschotterte Weg führt weiter an einem vom Lech abgezweigten Kanal entlang, stellenweise gibt er sich als ein natürliches Flüsschen mit kleinen Wasserfällen aus - da hatten die Landschaftsgestalter wahrlich ein glückliches Händchen. Eine schattiges Fleckchen mit Sitzbänken lädt zum Rasten ein. Doch lange will ich nicht verweilen - bis Landsberg, wo mein nächstes Quartier ist, sind es noch 25 Kilometer.

immer weiter geht es herrlich durchs Grüne, der Abschnitt von Augsburg bis Landsberg ist der bisher waldigste. Mal geht es links, mal rechts des Lech entlang. Ab Kaufering hat der Homo sapiens die Landschaft wieder voll unter seine Kontrolle gebracht. Und mehr als das! Zwar liegen die Ufer des Lech zwischen bewaldeten Hügeln versteckt, doch über mir kreisen zwei Kampfjets der Bundeswehr und verursachen dabei einen Höllenlärm. Ein Stück weiter landen und starten riesige militärische Transportflugzeuge der Marke Transall - im 3-Minuten-Takt! Hat irgend ein Staat Deutschland den Krieg erklärt und ich weiß noch nichts davon? Oder ist das hier Alltag?

In jedem Fall verschlingt dieser militärische Wahnsinn, selbst wenn es nur Übungsflüge sind, unheimliche Mengen an Ressourcen und Steuergeldern. Diese Luftverpestung! Diese Lärmbelastung! Diese vervielfachte Absturzgefahr! Warum werden über so dicht besiedelten Gelände überhaupt militärische Übungen abgehalten? Wozu braucht Deutschland solche Kampfmaschinen? Kommen die meisten Gefahren nicht eher zu Fuß? Die Geschichte des Fliegerhorst bei Penzing reicht in die Aufrüstungsjahre des Nazireiches zurück. Im Mai 1940, nach Beginn des 2. Weltkrieges, bombardierte ein von hier gestartetes Bombergeschwader die Stadt Freiburg im Breisgau, weil die Flieger, welche eigentlich eine französische Stadt verwüsten sollten, die Orienttierung verloren hatten.

Dumm gelaufen, könnte man verharmlosend sagen, hätte der militärische Navigationsfehler nicht 57 unbeteiligte Menschen ihr Leben gekostet - die Propaganda der Nazis schob die "feige" Bombardierung Freiburgs später dem Kriegsgegner Frankreich in die Schuhe.*
Die Wahrheit ist bekanntlich das erste Opfer jedes Krieges - damals wie heute. Zum Glück können solche Fehler heute nicht mehr passieren - schließlich gibt es jetzt GPS. Und außerdem wird die amtierende Bundesverteidigungsministerin ja wohl bei eventuellen Bombardierungen hoffentlich nicht nur die amtierende, bisweilen von hinten denkende Bundeskanzlerin konsultieren, die zur Irritierung ihrer Gegner entweder Orientierungsschwierigkeiten sehr authentisch vortäuschen kann oder aber die Geografie-Stunden, als die Sowjetunion dran war, verpasst hat...*



Gegen 5 erreiche ich Landsberg am Lech. Über eine Brücke führt der Radweg ans rechte Ufer und direkt in die Fußgängerzone der Altstadt. Am Obst- und Gemüsemobil eines südländischen Händlers frage ich, ob er den Weg in die oberhalb der Altstadt liegenden Straßen kennt, wo sich mein heutiges Quartier befindet. Nein, kennt er nicht, aber er aktiviert sein Phone, um nachzugoogeln. Schlechter Empfang, keine Chance hier. Ich kaufe ein paar Aprikosen, dann frage ich weitere Leute, unter anderem einen Kellner, der an der Ecke des Wirtshaus am Spitalplatz eine Zigarette raucht. Auch der Mann ist sehr freundlich und möchte mir gern weiterhelfen. Ich vermute allerdings, er war noch nie oberhalb dieser kleinen Straßenkreuzung. Statt weiter zu fragen, schiebe ich mein Radel die Alte Bergstraße hinauf. Und die wird ihrem Namen durchaus gerecht - sie ist gepflastert und sehr steil. Es mag eine weniger beschwerliche Anfahrt zu meinem Quartier geben, aber um den Anstieg komme ich so oder so nicht herum.


Den schwerverdienten Schweiß spüle ich eine Viertelstunde später in die Dusche des Gästehaus Vortanz, wo ich mein Gepäck ablade. Anschließend rolle ich gleich wieder talwärts, doch nun über die asphaltierte Neue Bergstraße, von wo ich auf halber Strecke einen Abstecher zum Schlossberg mache, der mir den Blick über die alten Gemäuer und Dächer von Landsberg und über den Lech öffnet.
 


Zuerst suche ich erneut den Obststand mit dem freundlichen Händler auf. Ich muss lange warten, da eine Frau vor mir hohe kulinarische Ansprüche hat, die der geschickte Verkäufer nicht nur gern erfüllt, sondern durch weitere Angebote schmackhaft macht. Ich möchte nur einige weitere der saftigen Aprikosen und halbe Schale der ausgestellten Erdbeeren. Weniger, antwortet er auf meine Frage nach einer halben Schale. Er scheint erst abzulehnen, aber korrigiert dann: also weniger als die volle Schale? Ja, klar...

Neben der Kirche Maria Himmelfahrt haben die Stadtplaner etwas Platz für einen Brunnen und die Tische eines Restaurants gelassen. Dort nehme ich Platz und bestelle mir ein Weizen und Gyros. Kaum habe ich bestellt erhalte ich Gesellschaft: Alle Tische sind frei, aber gleich am Nebentisch platzieren sich drei Hüpferchen. Eines der Mädchen sehe ich nur von hinten - sie hat eine schwarze Mähne, die den halben Georg-Hellmair-Platz verdeckt. Aber die anderen beiden Teens kann ich gut beäugen - eine von ihnen hat hellblau lackierte Fingernägel, die so lang sind, dass man sie als künftige Ukulele-Schülerin ausschließen kann.

 

Die Kellnerin sticht mit blonden Zöpfen und einer großen Puppendoktor-Pille-Brille hervor - sie ist mit ihren Gästen befreundet oder gut bekannt. Als sie die Bestellung entgegennimmt, krabbelt eine Spinne am selbst ersponnenen Seil vom Sonnenschirm herab. Das anschließende Quieken stammt aus einem Film über Spinnenphobie.

Nach kurzer Diskusion ziehen die Teenager an einen vermeintlich spinnenfreien Tisch um - das minimiert meine voyeuristischen Aussichten, schont aber meine Ohren und fördert meine Toleranz für kosmetische und sonstige Tussie-Themen. Was lehrt mich die Begebenheit? Ich sollte nichts, aber auch gar nichts auf mich und meine magnetische Wirkung beziehen, sofern ich nicht direkt angesprochen werde. Merke: Die Mädchen haben sich weder gezielt in meine Nähe gesetzt noch haben sie den Spinnenbesuch vorgetäuscht, um sich von mir entfernen zu können. Dazu fehlt den hübschen Biestern einfach noch das Selbstbewusstsein. Das einzige Startkapital, das ihnen niemand streitig machen kann, sind ihre langen Haare und die schöne glatte Haut.



Nach dem schweigsam unterhaltsamen Abendessen schlendere ich die Gassen und Plätzchen beim Lech-Ufer eintlang. Der Abendhimmel ist noch unentschieden, ob die Wolken heute den Regenzuschlag erhalten. Auf dem Weg zurück zu meinem Quartier liegt wieder die steile Alte Bergstraße vor mir - von der biege ich auf halber Höhe in die romantische Von-Helfenstein-Gasse ein. An einer Hauswand fängt das emporrankende Geblätter des Weines die letzten Sonnenstrahlen ein und an einer anderen Hauswand teilt ein blühender Rosenstock seinen betörenden Duft aus.

 

 

Am Duft der Rosen kann ich mich nur kurz berauschen, denn der Zigarettenqualm von drei Frauen, die sich auf den Bänken in der Gasse gegenüber sitzen, mengt sich dazwischen. Die Themen der Mittvierzigerinnen unterscheiden sich altersgerecht von jenen, die sich vor einer Stunde in meine Ohren bohrten. Mit einer angetüdelten Portion Selbstironie witzeln sie über die Folgen genussreicher Gaumenfreuden und trösten sich mit einer Flasche kühlem Weißwein darüber hinweg, dass sie sich nicht trauen, den stolzen Pedalritter, der gerade sein Klapprad an ihnen vorbeischiebt, auf ein Gläschen einzuladen. Worauf warten sie? Zumindest eine der drei hat sich die entscheidenden Fragen des Lebens offenbar schon selbst gestellt - auf einem Schild im Fenster lese ich ein kurzes Gedicht:

stehen und
warten
      warten auf
wen           auf
was
   
      warten auf
      mich

warten

Sag ich doch: warten auf mich! Doch keine traut sich. Ich bin einfach zu beeindruckend - das ist das leidige Schicksal der Schönen, der Reichen und der einsamen Pedalritter. Man wird zwar vom gesamten Weibervolk angehimmelt, aber das Naheliegende, die Einladung auf ein Glas Wein, fällt den wenigsten ihrer Gattung ein. Dabei wäre es so einfach: Komm her! Hier ist immer ein Platz frei für einen großen starken Mann! - Ich käme zu einem Glas Wein. Und die Spenderinnen auf andere Gedanken.


*




Freitag. Nach einem zeitigen Frühstück - die Wirtin ist extra eine halbe Stunde früher für mich aufgestanden - mache ich mich in die Spur, denn es liegen heute wenigstens 90 Kilometer vor mir. Und von den hiesigen knapp 600 Metern über Meerespiegel bis zu den 900er Gipfeln bei Litzau und Wies sind einige Hügel zu erkurbeln. Den ersten Anstieg spare ich mir, indem ich (wie nach Rothenburg ob der Tauber) gleich auf der Hochebene bleibe, anstatt erst zum Radweg ins Tal hinab zu rollen. Im Dörfchen Stoffen treffe ich schon wieder auf den ausgeschilderten Radweg. Leider zeigt die wegen ihrer Handlichkeit sonst sehr zweckmäßige Radwegkarte des Kompass-Verlages keinerlei Steigungen, nur ein viel zu ungenaues Streckenprofil der Gesamtstrecke. Doch der erfahrene Radler hat sich die Streckenprofile der Einzeletappen anderweitig ergoogelt und kann so besser abschätzen, was er noch vor sich hat. Und heute ist das noch viel.

 
Das Dorf Reichling begrüßt mich mit einem in Holz geschnitzten Grüß Gott, desweiteren mit der Einladung zum 94. Lechgautrachtenfest und zum 6. Oberbayerischen Böllertreffen. Wenn ich mich entscheiden müsste, würde ich mich für Ersteres festlegen, denn Trachten sind hier gewiss Dirndl, und wenn die appetitlich gefüllt sind, sieht das immer gut aus. Was ich von einem Böllerfest zu halten habe, kann ich nur erahnen - wahrscheinlich was mit viel Lärm. Und davor müsste mich ein liabs Herrgöttle bewahren. Beide Großveranstaltungen sind jedoch erst zum nächsten Wochenende geplant - Gott sei dank.

Nach Reichling geht es talwärts bis an den Lech hinunter, den ich über eine Brücke nach Epfach quere. Das Dörfchen hat ein Römermuseum, denn es hat eine römische Historie, für die mir in Anbetracht der noch vor mir liegenden Strecke kein bildungsbürgerliches Zeitbudget zur Verfügung steht. Selbst das Nymphäum, das mit dem Torso einer nackten Römerin um Aufmerksamkeit wirbt, muss ich links liegen lassen. Auf dem urbanen Abschnitt der via claudia augusta hockt ein Trupp alter Germanen vor einer Bäckerei. Die lassen ihre schweren Elektro-Esel verschnaufen, doch ihre Helme lassen sie vorsichtshalber auf dem Kopf - denn man weiß nie, ob hinter einem Baum vielleicht doch noch ein Überlebender der Varus-Legionen lauert.

Aus einem Tal geht es erfahrungsgemäß alsbald wieder hinauf ins Grüne, zu den Höhn, fallera. Die erste dieser Höhen heißt geschichtsträchtigerweise Römerau. Drunten - im tiefen, tiefen Tale - mäandert der Lech. Droben am Himmel kumulieren dunkle Regenwolken und ich sollte erwägen, ob ich den zu erwartenden Guss, möglicherweise ein Gewitter, in der Nähe eines Daches abwarte. Dazu bietet sich das Dorf Hohenfurch an, wo die Erbinnen von Simone de Beavoir das traditionelle bayrische Patriarchat abgeschafft haben...



Während der Bauer und der Knecht sich mit einer Ecke im Stall begnügen müssen, geht es zur links ins Haus zur Cheffin! Rechts auf der Straße findet sich ein Gebäude mit einem weit überhängedem Vordach - uund unter diesem findet sich gar die Bank einer Biertischgarnitur. Auf der breite ich gedanklich schon mal ein imaginäres Beach- und Pool-Frottierhandtuch aus, denn noch regnet es nicht, so dass ich noch eien Abstecher in die Bäckerei Michl auf der Hauptstraße wage. Dort gibt es, was es auch in Tante-Emma-Lädchen gibt und ich suche mir gerade etwa für eine mittägliche Brotzeit zusammen. Doch die Verkäuferin bietet mir an, ein Brüötchen nach meinen Bedürfnissen zu belegen. Welcher einsame Pedalritter könnte da Nein sagen! Eine Flasche Sprudelwasser wechselt auch noch den Besitzer.

Als ich das Lädchen verlasse, fallen die ersten Regentropfen. Binnen Sekunden wird daraus genau das, wonach es schon vor einer halben Stunde aussah: ein stürmiger Guss. Ich schaffe es noch einigermaßen unfeucht bis zu dem schützenden Dach, hinter dem Bächlein Schönach. Ein Wanderer versucht sich unter dem Baum auf der anderen Straßenseite eine Art Regencape überzustreifen - er versuchte es...
 

Und wenn er mich nicht irgendwann sorglos unter dem Dach mein Mittagsbrötchen mampfend gesehen hätte, würde er wohl noch heute versuchen, bei Windstärke 12 eine hauchdünne Plastikfolie über sich zu streifen. Endlich eilt der rüstige Rentner zu mir herüber - ich rücke ein wenig, damit er sich setzen kann. Es folgt der übliche Smalltalk übers Wetter. Doch überwiegend ist er mit seinem elektronischen Spielzeug beschäftigt - seine Wetterapp verrät ihm, dass es hier regnet. Kaum lässt es etwas nach, macht sich der Wandersmann wieder auf die Socke, bis Schongau will er heute. Ich bin noch beim Kauen und Schlucken und warte auch die letzte Landung des letzes Regentropfens noch ab, ehe ich mich wieder auf den Sattel schwinge.

Eine Stunde später erreiche ich Schongau. Irgendwie gleichen sich die alten Städtchen: der zentrale Marktplatz - mit alten Laternen und neuen Sonnenschirmen, ein Kirchlein - mal kleiner mal größer, spitze Dächer alter Häuser, gepflegte Fassaden, blank geputzte Ladenschaufenster. Nur eines ist hier anders: Es fehlt der blaue Postkartenhimmel. Den haben auch hier die Cumuluswolken erobert. Da werden die Tische und Stühle der Straßencafés besser gar nicht erst aufgestellt.

Zeit zum Trödeln habe ich eh nicht, es liegen noch 50 Kilometer vor mir. Ein Gefälle von 18% hinabzurollen, erfordert gute Bremsen und Risikobewusstsein - beides setzt Mutti Staat bei Radlern offenbar nicht voraus und hat die steile Abfahrt daher mit einem Verbotsschild für Fahrräder versehen. Sein Radel samt Gepäck eine derartiges Gefälle hinunter zu "schieben" ist allerdings mit nur einer Vorderradbremse auch nicht einfacher. Danach führt der radweg über die brücke ans andere Ufer und alsbald geht es weider bergan.

In Peiting verfahre ich mich in Ermangelung sichtbarer Wegweiser. Ich frage einen älteren Mann, der seinem weiblichen Souvenir aus Thailand das Schneiden seiner Gartenhecken beibringt, nach dem Weg. Der Mann ist freundlich, kann sich aber zunächst nicht so ganz in den Grund meiner Frage hineindenken. Ich zeige ihm meine Karte mit dem eingezeichneten Radweg. Er stimmt mir zu, dass der eingezeichnete Radweg, der über Rottenbach und Wildsteig streckenweise an der B23 entlangführt, ein Umweg ist, für den es keinen erkennbaren Grund gibt. Wäre die ziemlich geradlinige Straße nach Steingarden eine Alternative? frage ich zurück. Auf alle Fälle, aber die führt an der B17 entlang und hat keine Radspur. Dann empfiehlt der Mann mir eine andere Möglichkeit: westwärts nach Kreut und von dort mehr oder weniger parallel zum Lech übers Hochland.

 
Dieser Empfehlung folge ich und bemerke später, dass die Strecke sogar als Alternativstrecke mit entsprechenden Schildern ausgewiesen ist. Leider hat sich der Kartenverlag nicht die Mühe gemacht, diesen Kartenabschnitt vollständig abzubliden - vielleicht ein Grund, weshalb es sich hier in herrlichster Einsamkeit pedalieren lässt. Dieser Abschnitt erweist sich, was die Verkehrsruhe und die Landschaft betrifft, als eine Traumstrecke, die jedes Radlerherz tanzen lässt. Auf breiten Asphaltwegen geht es durch Felder und Wälder, moderaten Steigungen folgen lang gestreckte Abfahrten. Vielen Dank für diesen guten Tipp!

Einziger Wermutstropfen sind die gelegentlichen Regentropfen, die nach kulminierenden Versammlungen am Nachmittagshimmel immer wieder mal auf meiner Nasenspitze und auf anderen herausragenden Körperteilen landen. Gelegentlich findet sich ein Baum , wo ich mich unterstellen kann, manchmal sogar ein Bank darunter.
 


In Steingaden treffe ich wieder auf den motorisierten Menschenrest. Ein Traktor aus den goldenen Wirtschaftswunderjahren mag manchem Oldtimer-Liebhaber nostalgische Anwandlungen erzeugen - als mich der Stinker nachher am Berg überholt, erinnere ich mich daran, dass früher auch nicht alles besser war. Ein Blick zum Himmel zeigt: Die Sonne hat wieder die Regie übernommen. Das griffbereit gehaltene Regencape kann ich wieder verstauen.

 
Im Garten Zur Taverne wird mir eine Tasse Kaffee und eine veganfreie Zwischenmalzeit serviert wird. Ich frage die Kellnerin, ob sie nach Schwangau die Abkürzung über die B17 nehmen würde oder den ausgewiesenen Radweg, der nochmals kräftig ansteigt. Sie weiß, dass die Wallfahrtskirche Wies sehenswert ist, aber nicht, was kräftige Anstiege bedeuten...



Kurz vor Wies darf der Pilgersmann noch einmal verschnaufen, innehalten, beten, ein Kruzifix auf seine Stirn zeichnen - der Turm der Wallfahrtskirche ist bereits in Sicht. Die hügelige Landschaft grünt so lieblich grün, dass kein Maler, dem dem Vorwurf der Verkitschung entgehen möchte, sie zu malen wagt.

 

Über der Wieskirche öffnet sich der Himmel, der den größten Teil des Tages eine Orgie  in Grautönen zelebrierte. Hier und jetzt beteligt er sich plötzlich am Harmlostun und Schäfchenmalen. Hoc loco habitat fortuna, hic quiescit cor, schrieb der Bauherr Abt Marianus II Mayer seinerzeit: Hier wohnt das Glück, hier findet das Herz seine Ruh'*




Die Wies, so der Kurzname der Rokoko-Kirche, ist ein Stück Himmel auf dieser leidvollen Erde, habe der schwäbische Dichter Peter Dörfler geschwärmt. Und es würde mich nicht wundern, wenn die Wiesen der Umgebung als Namenspate dienten. In der Tat bin ich nun auch ganz leiblich dem Himmel am nächsten, denn nach einer kleinen Steigung
habe ich den höchsten Streckenpunkt des gesamten Radweges Romantische Straße erreicht, etwa 900 Meter sind es hier dem Streckenprofil zufolge.



Nicht nur allem Anfang wohnt ein Zauber inne... Auch und ganz besonders diese letzten 20 Kilometern der Romantischen Straße sind ein süßer Traum für jeden Velophilisten: Kein Traktor und kein Moped stört die abendliche Idylle. Die Vögel zwitschern ihre Ode an die Freiheit. Leichtes Gefälle lässt mich minutenlang talwärts rollen, gibt mir das Gefühl von Schwerelosigkeit. Hier bin ich Radler, hier darf ich's sein.



Diesen Anblick kenne ich schon vom Vorjahr. Vor der Kulisse der Ostallgäuer Alpen fängt die im 17. Jahrhundert dem irischen Wandermönch Coleman gewidmete Kirche die Abensonne ein. Und auch das Märchenschloss des bayrischen Königs Ludwig II. leuchtet schon von den Felsen herab. Morgen früh werde ich Schloss Neuschwanstein besuchen, nachdem ich voriges Jahr zu menschenscheu und zeitgeizig war, diesen massentouristischen Höhepunkt der Romantische Straße aufzusuchen.

In der neunten Stunde erreiche ich das Gästehaus Moarhof, wo ich bereits letztes Jahr nächtigte.* Wegen meiner späten Ankunft checke ich nur telefonisch ein: Zimmer 2, ansonsten alles wie voriges Jahr, sagt mir Frau Huber, die Wirtin, in der mir bereits vertrauten Kurzbündigkeit. Der Hinweis aufs vorige Jahr bezieht sich unter anderem auf die kleine Selbstbedienungstheke, an der sich der durstige Radler ein Gerstengetränk aus dem Kühlschrank nehmen kann. Dank eines kleinen Getränkehandels, den die Familie als zweites oder Standbein im Haus betreibt, ist die Selbstbedienungstheke immer gut aufgefüllt. Darüber kann sich auch der Liebhaber gut sortierter Weinregale freuen.

Bevor ich mein müdes Haupt dem Bacchus überlasse, muss aber noch ein kurzer Spaziergang zur St. Maria und Florian-Kirche am Foggensee sein, der voriges Jahr noch leer war, aber heute, vom jungen Lech geflutet, im Sonnenuntergang glitzert. Hoch über dem Gotteshaus ist der Mond aufgegangen und bald werden auch die goldnen Sternlein prangen...
 



*



Samstag. Ich bin nicht der erste Frühaufsteher, der um halb acht in der Frühstücksveranda sitzt. Spätestens eine Stunde vor einer gebuchten Führung muss man seine Eintrittskarte fürs Schloss Neuschwanstein im Ticket-Center von Hohenschwangau abgeholt haben, sonst verfällt der Anspruch. Von meinem Quartier am Foggensee bis dorthin radelt es sich ein gutes Viertelstündchen - leicht ansteigend. Am Schalter für die reservierten Karte steht nur ein Abholer vor mir, an den drei oder vier anderen Schaltern stehen sich schätzungsweise 500 Leute die Beine in den Bauch - weit auf die Straße hinaus ziehen sich die Warteschlangen.

Das war sehr klug, großer Alexander, dass du vor deiner Reise die Webseite des Tourismagneten Hohenschwangau gründlich studiert und die dortige Empfehlung, die gewünschte Besuchszeit reservieren zu lassen, ernst genommen hast.* Ich frage den Ticketverkäufer, ob es eine Möglichkeit gibt, sein Gepäck einzustellen, das Rad sicher abzustellen. Der junge man empfiehlt mir, nebenan im Hotel Müller zu fragen. An einem Seiteneingang läuft mir ein älterer Mann in einer Hausmeisterkluft über den Weg - ihn spreche ich auf die Empfehlung vom Ticketcenter an. Umgehend begleitet er mich hinters Hotel, zum Personaleingang, wo bereits einige Räder geparkt sind. Die unkomplizierte, freundliche Art der Leute begeistert mich immer wieder.

Die Entscheidung, mein Rad hier zu lassen, erweist sich spätestens nach den ersten 50 Metern auf dem steilen Weg hinauf zum Schloss als ebenso vernünftig. Selbst ein sportlicher junger Mann mit einem sportlichen Rad und in einer sportlichen, azurblauen, atmungsativen Ganzkörperverpackung gib an der nächsten Serpentinekurve auf. Für den verbrennungsmotoriserten Verkehr ist die Straße erfreulicherweise gesperrt. Eine Gruppe Männer in Motorradfahrerklüften geht die Sache ganz entspannt an - man sieht ihrem trägen Schritt an, dass sich ihre Freizeitbewegungen sonst auf das Drehen des rechten Handgelenks beschränken. Dann überhole ich halb Südostasien, nicht weil ich es eilig hätte, aber meine Ohren enfliehen dem penetranten Gemecker der Stimmen.

 
Ein Stück vor dem Eingang gibt es einen Aussichtspunkt, von wo der Blick nordöstlich nach Schwangau zum Foggensee schweifen könnte - wenn sich einem nur nicht dauernd Selfies fotografierende Touristen in die Quere stellen würden! Neben mir lichtet sich eine Kleinfamilie mit südtexanischem Zungenschlag gegenseitig ab, es können aber auch Kalifornier gewesen sein

Ich verstehe gut, was ihre großen Probleme sind - eines ist, dass der während des gegenseitigen Knpsens auf dem Boden abgestellte Coffe to go nicht von den eigenen oder gar fremden Füßen umgestoßen wird. Dann holt mich die südostasiatische Fraktion ein. Ich drehe kurz bei und lasse sie dann achtern zurück. Doch am Eingang, wo vor den gesperrten Drehkreuzen eine elektronische Anzeige die Führungsnummer im Fünf-Minutentakt anzeigt, wimmelt es schon wieder.



9.49 Uhr zeigt die Tafel - vor der deutschen Führung, die punkt 10 Uhr beginnt, sind noch zwei andersprachige angezeigt. Dann stelle ich mich gleich als Erster ans Drehkreuz und schwätze etwas mit der jungen Frau, die hier drauf zu achten hat, dass alles sein richtigen Gang geht. Wie lange sie hier denn so stehen müsse, frage ich sie: ... so am Stück, meine ich! Sie nimmt die Gelegenheit dankbar auf, ein paar Kniffligkeiten ihres Jobs zu erwähnen. Die Leute verstünden es leider nicht, warum sie ihre Rucksäcke nach vorn schnallen sollen. Warum sollen sie das denn? frage ich zurück. Wegen der vielen Leute, antwortet sie mit osteuropäischem Akzent. Was sie aber eigentlich meint, ist: Weil die Leute hinten keine Augen haben.

Natürlich ist es nicht ganz einfach, einer durcheinander quackernden japanischen oder chinesischen Reisegruppe, die einerseits überall Augen hat, selbige aber andererseits permanent in ihre elektronischen Gerätschaften versenkt, zu erklären, wozu es für beide Seiten von Vorteil sei und auch möglich ist, seinen Rucksack als Bauchsack tragen. Ich schnalle meinen Rucksack mit vorauseilendem Gehorsam nach vorn und stelle fest, wie angenehm es ist, den angeschwitzten Rücken auf diese Weise zu lüften. Und ja, man hat alles besser unter Kontrolle. Dann ist es 10 und die Drehkreuze werden entsperrt. Am Eingang ins Gebäude gibt es Hörgerätschaften - ach, eine Führung mit vom Band gespielten Ansagen! empört sich eine gelernte Bildungsbürgerin, die für ihr Geld eine mundgeführte Begleitung erwartet. Nein, nein, beruhigt die Gruppenführerin: Das sind nur Hörverstärker, damit auch die Besucher der hinteren Reihen noch gut verstehen können. - Ach so. Na, dann ist ja alles gut.

Tatsächlich klingt die junge Frau, die sich den saisonalen Job vermutlich als Studentin aufgehalst hat, bei ihren Ansagen wie eine vom Band gespulte Aufnahme, die montonen Hebungen und Senkungen der Stimme sind das Resultat eines komplett auswendig gelernten Textes. Wenigstens kann sie dank der zur Verfügung gestellten Hörgerätchen leise sprechen Ich bleibe gleich neben ihr und kann auf das technische Hilfsmittel verzichten. Seltsamerweise nutzen aber alle anderen Besucher, auch die in der ersten Reihe, die Hörgeräte trotzdem. Ich frage mich, ob das an der bis zur Absudität entglittenen Technikaffinität der Menschheit liegt oder aber daran, dass der Lärm der Welt das Gehör der meisten Leute schon so abstumpfen lassen hat, dass sie diese Geräte tatsächlich benötigen?

Fotografieren darf man im Inneren des Schlosses nicht - und das ist auch gut so! Man stelle sich das Klicken und Klacken der elektronischen Gerätschaften vor, wenn eine Gruppe von 50 Personen in den weiten und hohen Sälen des Schlosses zu fotografieren begänne. Und das Blitzen und Selfieposieren vor königlichem Mobiliar erst: Und jetzt noch mal mit Muddi, mach gleich ein paar, falls eins nichts wird... Meistens wird ja selbst von 100 keines, weil der bedauernswerte Meschenrest schön längst das Sehen verlernt hat. Was ich selbst tatsächlich gern abgelichtet hätte, ist das prunkvolle königliche Himmelbett. Wie viele Nächte meines Lebens habe ich davon geträumt, in solch einem herrlichen Möbel schlafen zu können. Und da steht es so gut wie ungebraucht vor mir, das Bett Ludwigs von Bayern. Allein am Baldachin muss ein Dutzend Zimmermänner hundert Jahre geschnitz haben! Auch ringsum filigranstes Schnitzwerk, wohin das Auge auch blickt. So ein Aufwand, so ein Prunk, so eine Vergeudung von Lebenszeit, damit ein einzelner durchgeknallter Mann in seinen Phantasien schwelgen kann!

Wegen der vielen Menschen, deren ermattete Beine nach dem Anstieg zum Schloss übers schicke Mamor schürfen, verstehe auch ich nicht jedes Wort der Museumsführerin deutlich. Was ist ein Anreibe-Raum? frage ich sie... Ach, ein Ankleide-Raum, verstehe. Nicht schlecht, so groß ist meine ganze Wohnung nicht, kommentiere ich ihre Antwort. Meine auch nicht, scherzt sie zurück. Die anderen Leute konnten unsere kleine Konversation offenbar über ihre Hörgerätschaften mithören, jedenfalls lachen plötzlich alle. Noch etwas will ich wissen: Drei seltsam mit Spiralkabeln verbundene Glühampen haben mein Interesse geweckt, doch darüber hat die Hübsche gar nichts erzählt. Damit habe der König seinen Dienern signalisiert, erklärt sie mir, in welchen Räumen er jeweils Bedienung wünscht - man sei hier damals auf dem höchsten technischen Stand der Zeit gewesen.

Am Ende der Führung applaudieren die 50 Führungsteilnehmer, als hätten sie soeben den geistreichen Gedanken eines antiken Rhetorikers gelauscht. Die schöne Museumsführerin verneigt sich brav, hat sich ein Päuschen verdient - und führt in 30 Minuten gewiss die nächste deutschsprachige Gruppe - achtmal täglich? Durch die riesige Küche des Schlosses dürfen die Besucher ohne Führung - eine lange schwere Eisenkette sorgt dafür, dass zwischen den vielen großen Kupfertöpfen und den Fingern der Museumsbesucher genügend Abstand bleibt. Selbstverständlich mündet der Gang in einen großen Souvenirladen. Als radelnder Gepäckminimalisierungskünstler geht mein Bedürfnis nach Mitbringseln für die lieben Daheimgebliebenen gegen Null, aber ein paar der großen Postkarten, die das Schloss in der grandiosen Naturkulisse der verschiedenen Jahreszeiten zeigen, erwerbe ich gern. Besonders die herbstlichen und winterlichen Panoramen haben es mir angetan.



Wieder im Freien folge ich dem Wegweiser zur Marienbrücke, auf halbem Wege eröffnet sich der Blick in die Berge hinter dem glasklaren Alpsee und zum Schloss Hohenschwangau, unter dem sich das Ticketcenter und das Hotel befinden, wo ich mein Rad abstellen durfte. Doch bevor ich talwärts abbiege, ist der Gang auf die Einsenbrücke obligatorisch, von der man das Schloss Neuschwanstein in seiner ganzen Gestalt bewundern kann - sofern man sich auf die mittels Busladungen voller Weltenbummler
geprüfte Brücke traut, die eine 50 Meter tiefe Schlucht quert.



Zwischen den Gelädern der Brücke mögen zwei Meter liegen, es wimmelt von Asiaten mit Cowboyhüten und anderen albernen Kopfbedeckungen - so Kappen mit Katzenohren an den Seiten scheinen bei jungen Frauen derzeitig besonders angesagt zu sein. Nun, ja, was soll's? Ich bin tolerant und weltoffen, mache mich auf den Spießruten aus hundert Selfiesticks. Gegen die öffentliche Zuschaustellung des Bauchnabels hatte ich noch nie etwas, ein heißer Tag deutet sich an.



Der Postkartenblick - mit am Himmel schwebenden Watteknäueln - entschädigt so ziemlich für alles. Ich war bereits vor 25 Jahren einmal hier oben, damals gab es außer mir auch schon anderes reisefreudiges Volk. Doch ich kann mich nicht an solche Massen erinnern. Insgesamt hat die Vermarktung jeglichen Kulturerbes extrem zugenommen, der organiserte Tourismus brummt auf Höchstniveau, die Globalisierung Bayerns ist perfektioniert. Und es kann nur noch besser werden: Wenigstens eine Milliarde Chinesen sparen darauf, einmal mit eigenen Fingern ein richtiges Märchenschloss anfassen zu können.

Ich entfliehe dem Gewimmel. Auf dem Weg talwärts hält ein Shuttle-Bus - ich nutze die Gelegenheit, meine Kniegelenke zu schonen und ein wenig der Zeit einzuholen, die mich der Besuch der Wochendvilla des prunksüchtigen Bayernkönigs gekostet hat. In fünf Minuten ist der Bus die Serpentinen hinab. Nachdem ich mein Rad abgeholt habe, reizt mich noch ein Abstecher zum Alpsee, den ich von den Höhen des Schlosses sehen konnte. Ein einzelner Schwan putz sein Gefieder, ein Kleinkind klagt schreiend über die Ungerechtigkeit der Welt. Für einen Besuch im Museum der bayrischen Könige stellt mir mein Reiseführer - nach Rücksprache mit dem Bildungsbürgerministerium - leider keine Zeit zur freien Verfügung. Bis Oberstaufen habe ich, das weiß ich vom vohrjährigen Radeln, noch eine anstrengende Ganztagesetappe mit bemerkenswerten Anstiegen vor mir.



In der Schoppingmeile von Füssen halte ich nach einem Eisstand Ausschau, werde fündig, doch drei anstehende Kunden vor mir sind mir zwei zu viel. Am Ende des Boulevards betanke ich die bereits geleerte Wasserflasche. Von nun an muss ich mich an diverse Apps für Radfahrer halten, darunter Bayernnetz für Radler. Alles gut und schön, soweit man auch außerhalb der Städte eine brauchbare Mobil-Verbindung ins Internet zustande bekommt. Eine richtige Radwegkarte ist halt eine richtige Radwegkarte und die funktioniert immer - aus der vom Vorjahr habe ich mir zwar die Seiten der letzten Etappe abfotografiert und in die Cloud kopiert. Leider lässt sich auf den Fotos nicht erkennen, ob sich eventuell auch eine Abkürzung machen ließe - angesichts der vorgerückten Mittagsstunde wäre das durchaus sinnvoll.



Die Sonne brütet bereits schweißtreibende Temperaturen in die Täler, am liebsten täte ich es zwei Mädchen gleich, die sich abwechselnd auf dem Rücken eines kleinen Pferdes tragen lassen und gelegentlich in das kühle Nass des Hopfensee hüpfen. Doch ich bezweifle, dass sie mit mir tauschen und mit meinem Drahtesel Vorlieb nehmen würden. Statt einem Bad im Hopfensee begnüge ich mich beim öffentlichen Strand in Hopfen am See mit einem kühlen Hopfengetränk - den Erfindern des alkoholfreien Weizenbiers kann gar nicht genug gedankt werden, das trübe Gesöff hält meinen Verstand ungetrübt - und stillt den immer neuen Durst doch wesentlich angenehmer als das lauwarme Blubberwasser aus meinen Alutanks.

Eine Weile sehe ich Sonnenabeterinnen aller Konfektionsgrößen beim Sonnenanbeten zu und belausche trinkfreudige Urlauber bei ihren Trimkfreuden. Das erste Mal seit meinem Queren des WW-Äqquators vernehme ich heute den allseits geschmähten, bisweilen übertrieben nachgeäfften Zungenschlag meiner sächsischen Heimat. Dann reiße ich alle meine Willenskraft zusammen, steige auf mein Radl und kämpfe mich die teils sehr steilen Straßen hinauf bis an eine Kreuzung vor Pfronten. Sengende Hitze! Kaum ein Bäumchen spendete mir Schatten. Die in Füssen aufgefüllte Wasserflasche ist schon wieder leer. Ich stehe der Kreuzung und dampfe in der Nachmittagshitze, studiere die Straßenschilder, vergeliche den Standort auf meiner Radler-App. Und stelle fest: Ich bin noch weit vom Ziel, unter den jetztigen Bedingen würde ich Oberstaufen nicht vor den dämmerlichsten Dämmerstunden erreichen. Und besonders das letzte Stück auf der abgasverpessteten B308 am Staufener Berg ist reinste Tierquälerei.

Was sagt eigentlich die DB-App dazu? Die sagt, dass in einer halben Stunde von Pfronten Ried eine Bahn nach Kempten geht und von dort eine andere nach Oberstaufen. Gibt es da noch Fragen? Ich glaube nicht. Ich bin in neun Tagen gut über 500 Kilometer geradelt, habe allen Anstiegen getrotzt, dem Sonnenbrand auf meinem Armen, der Hitze des Vorsommers. Ich muss mir und niemand sonst beweisen, dass ich ein tollkühner Pedalritter bin. Geschwader an Pedelecs haben mich auf dem Tauber-Radweg überholt - ein sehr dicker Radler auf einem Falt-Pedelec mit 20-Zoll-Rädern surrte grinsend an mir vorbei, als ich mich einen geschotterten Feldweg hinaufquälte. Wettberwerbsverzerrung witzelte eine empathische Lady, die ebenfalls mit elektrischer Unterstützung an mir vorbeizog.

Ich rolle hinunter nach Pfronten Ried, es bleibt genügend Zeit für eine Waffel Eis an der kleinen Mocka-Milch-Eisbar im Ort. Halb vier stehe ich auf dem kurzen Bahnsteig der kleinen Station und erwarte das Zügchen, das pünktlich 15.38 einfährt. Halb fünf steige ich in Kempten in den Regional-Express Richtung Röthenbach, der in Immenstadt noch geteilt wird. Passenderweise bin ich bereits in dem Wagen, der nicht in eine andere Richtung weiterfahren wird.

 
Kurz vor fünf steige ich in Oberstaufen aus dem Zug. Die Bevölkerung hat sich zum Samstagabend unter den Sonnenschirmen des Cafés am Markt gemütlich gemacht. Ich rolle mit heißlaufendem Rücktritt und schmelzenden Bremsgummis steil hinab ins Weißachtal, wo ich mittels einer App zu meiner letzten Destination navigiert werde.

Ich bin in Steinbach. Geschafft. Frank, mein privater Gastgeber, hat für alles gesorgt, was ein Radler nach einem heißen Tag braucht: Zuerst ein Bier, dann eine Dusche, dann noch ein Bier - oder zwei. Da Frank aus meiner Heimat stammt, gibt es das eine und das andere gemeinsame Thema. Aber jede dürfe seine Meinung haben, betont er, wo ich seine Auffassungen nicht teile. Über dem Bett im Gästezimmer hängt ein riesiger Flachbildfernseher. Ich sehe eine Nachrichtensendung - heute mal kein Terroranschlag in Europa, das ist beruhigend. Nach einigen Minuten einsäuselnder Desinformation über die alten und neuen langweiligsten Nebensachen der Volksvertreterinnen und Volksvertreter zieht es mir die Äuglein zu.

 

*


Sonntag. Es regnet aus vollen Kannen - an eine zweibeinige Ausfahrt ist nicht zu denken. Doch Frank ist medientechnisch auf dem höchsten Stand der Zeit - mit dem Zuruf Alexa befiehlt er seine rundum vernetzte Elektronik. Selbst von der Badewanne aus könnte man Fernsehen glotzen - wahrscheinlich auch ein Video. Während längerer Sitzungen könnte man Alexa befehlen, den Wetterbericht eines Radiosenders abzurufen - oder aktuelle Börsenwerte und den Goldpreis. Alexa sei jetzt quasi seine neue Freundin, mit der er auch mal reden kann, und er demonstriert mir, wie man mit ihr zu reden hat - immer schön mit korrekter Anrede. Sogar einen alten Cowboy-Song, den ich von Woody Guthrie kenne, saugt Alexa aus den Tiefen des Internets hervor, nachdem ich ihr mit der erforderlichen Semantik den Titel ansage: Alexa, spiel mir Buffalo Skinners! Es dauert einige Sekunden, aber ich bin verlüfft, dass Alexa tatsächlich den gemeinten Titel findet. Es ist nicht die Version von Woody Gurthrie - und schon gar nicht meine, die ich vor über 20 Jahren mit Freunden in einem Berliner Tonstudio einspielte. Aber es ist eine, die mir auch sehr gefällt.

 

Es gibt aber auch noch die konventionelle, gute alte Infrarot-Fernbedienung, mittels welcher die Datenkrake Google kein Vorlieben-Profil erstellen kann... Auf dem Couchtisch im Wohnzimmer liegen fünf davon, auf dem Heimelektronik-Board liegen weitere. Mit einer davon schaltet Frank den Videoplayer an, mit einer anderen den Flachbildschirm.

Zur Auswahl steht Avatar - Aufbruch nach Pandora, ein Sience Fiction-Kinothriller, der seine Handlung in das Jahr 2154 auf einem Mond im Sternensystem Alpha Centauri verlegt - phantastisch und brutal wie das meiste aus den heutigen Hollywood-Studios. Ein Schuss Romantik - eine kleine Affäre zwischen Mensch und Alien - darf natürlich nicht fehlen. Menschliche Kampfmaschinen wollen nach guter alter irdischer Tradition die Ureinwohner vertreiben, weil sie an die Bodenschätze des habitablen Mondes wollen. Die aber liegen unter den Wurzeln eines gigantischen Baumes, in dessen weit ausgreifenden Geäst die großen blauen Aliens leben. Wie all der Star Wars-Kult ist diese Verherrlichung von Gewalt und Technokratie für Kinderhirne ab 12 Jahren zugelassen. Wundert sich irgendjemand, wenn die lieben kleinen Jungs dergleichen Allmachtsphantasien später wenigstens mal im Rahmen ihrer Möglichkeiten ausleben wollen?

Um die drei Stunden lang flimmerte mir der Kinothriller aus dem Jahre 2009 in die 3D-Brille - und noch immer regnet es. Ich weiß jetzt, warum Kinder und andere Kineasten so gern mit Spielzeug-Laserschwertern herumfuchteln und kann mir vorstellen, warum sie später auch mal die Knarre aus Vatis Schützenvereinsschrank ausprobieren müssen, wenn sie den Schlüssel dazu in die Hände bekommen. Ich beginne zu ahnen, warum so viele junge Leute so durchgeknallt sind, und staune gleichzeitig, dass ich auf meinen Radlerwegen dennoch auch so freundliche, hilfsbereite, respektvolle Jugendliche treffe. Und ich komme zu dem Schuss: Wer wie ich solche, in allen Massenmedien beworbenen, hochgepriesenen, ausgezeichneten Hollywood-Kracher ein Jahrzehnt nach ihrer Veröffentlichung überhaupt erst zur Kenntnis nimmt, ist unter heutigen Maßstäben quasi ein Kulturbanause. Sei's drum, ich gehöre einer aussterbenden Art an. Und wer es schaffte, diese Memoiren vom Anfang bis hier zu lesen, dem kann ich nur sagen: Willkommen im Club der Aussterbenden.

Endlich! Am späten Nachmittag kömmt Klärchen doch noch heraus. Draußen in der Garage höre ich bereits mein Radl mit den Pedalen scharen. Okay, ruhig, mein kleines Schwarzes, gleich geht es noch mal auf die Piste! Frank ist ein passionierter Vierradgasgeber, beruflich wie privat. Nach örtlichen Radtouren brauche ich ihn nicht zu fragen, gesteht er. Seine längste Tour sei mal 10 Kilometer gewesen, danach tat ihm alles weh. Ich fahre auf gut Glück auf der Hauptstraße gen Österreich, doch schon nach einem Kilometer kann ich rechts auf einen Wanderweg abbiegen, der mich am Waldhang entlang und - nach Schwenk zurück auf eine Dorfstraße - bis zu den Eibeler Wasserfällen führt. Dort muss ich über eine alte Holzbrücke und nach der befinde ich mich im österreichischen Vorarlberg.

Der obere Wasserfall stürzt über hartes Nagelfluhgestein aus dem Wald hinab auf weichen Sandstein, den er beharrlich aushölt und somit ein Becken schafft, von dem er eine weitere Stufe hinabrauscht. Gäbe es hierher eine Straße mit Parkplatz, wären die Fälle eine bekanntes Ausfugsziel mit Café und Souvenirstand... Dank des nur zweibeinigen Zugangs teile ich das rauschende Naturschauspiel lediglich mit ein paar Kindern, die in der Nähe wohnen oder zu Besuch sind. Ein paar rauchende Polen in Motorradfahrerklüften haben den versteckten Weg dann auch noch gefunden - und filmen sich gegenseitig beim todesmutigen Vor-einem-Wasserfall-stehen-Abenteuer.

Von hier folge ich der Wegempfehlung einer alten Frau. Doch auf der schmalen Straße zum Ponyhof, wo man auch einkehren könne, drängeln sich alle zweite Minuten schicke Cabrios mit offenem Verdeck an mir vorbei, sogar einigermaßen rabiat - die meisten mit österreichischem Kennzeichen. Derartige Kraftmeierei in Blechkarossen habe ich während meiner ganzen Fahrt nur an der Würzburger Main-Promenade erlebt. Am Ende meiner Radelei treffe ich also auf das ländliche Pendant zur urbanen Schickeria. Nach der Kurve bei einem einzelnen Haus kann ich die vielen Karossen vor einem großen Gebäude erkennen, dass vor allem ein beliebtes Ausflugslokal zu sein scheint. Ich zögere, ob ich das Etablissement am Berg überhaupt noch zu meinem Ziel machen sollte.

Ich glaube, auch die ältere Frau, die hier neben mir im Garten eines an sich idyllisch gelegenen Anwesens werkelt, ist von dem permanenten Verkehr, der sich um ihren Garten windet, abgenervt. Als sie zu mir blickt, grüße ich sie, vermisse aber die freundliche Reaktion, an die ich mich bei meiner Radelei durch Bayern so sehr gewöhnt habe, dass ich ins Schwärmen kommen könnte. Ich entschließe mich zur Umkehr, talwärts rollt es sich ohnehin besser.



Manch gepflegtes Eigenheim passiere ich noch, bis ich wieder auf die Landstraße komme, die den Kraftmeierverkehr zwischen Österreich und Deutschland kanalisiert. Motorradkolonnen überholen mich lärmdröhnend - ich halte an, damit ich die Abgase der Zweitakter nicht gar so tief einatmen muss. Warum können Männer, die so große schwere Maschinen fahren können, eigentlich nur im Rudel fahren? Mindestgröße scheint die Vierergruppe zu sein, ein oder zwei Dutzend Fahrer sind keine Seltenheit. 4 Millionen Motorräder sind in Deutschland zugelassen. Das Potential an Schwarmintelligenz dürfte beachtlich sein.

Ich verstehe diese Rudelexistenzen nicht. Ich hatte in jungen Jahren, so um 1980, auch mal ein Motorrad, bin damit bis in den südlichsten Süden Bulgariens gefahren, einen einstigen Schulkameraden als Sozius auf dem Sozius. Schon zu zweit ist man in seiner Spontanität ziemlich eingeschränkt, aber im glücklichen Fall ist man sich einig, dass man ja mal gucken kann, ob die Wachposten an der Grenze zur Türkei vielleicht gerade pinkeln gegangen sind... Dem war dann doch anders. Einem lässigen Blick auf das DDR-Kennzeichen an meiner MZ 250 Trophy  folgte eine verächtlichen Geste, die uns bedeuten sollte, dass die befahrbare Welt für Honeckers Untertanen an dieser Stelle endet. Da wir nicht die Absicht hatten, die folgenden Tage in einer bulgarischen Knastzelle zu verbringen, folgten wir dem Fingerzeig ohne Diskussionen - und kehrten brav um.



Gegen sieben bin ich von meiner kleinen Abendrunde zurück. Hinter dem Haus hat Frank eine Grillecke. An diesem Abend, so war es von mir versprochen, greife ich in die Saiten meiner Ukulele. Meine Aufführung wird umgehend mit dem Handy gefilmt und ist schon, noch bevor ich das Stück zuende gezupft habe, via WhatsApp auf dem Handy meiner alten Schulfreundin Petra gelandet, die ich hier eigentlich besuchen wollte - wie voriges Jahr. Und weil das alles so schnell geht, überstülpt mir der vernetzungsaffine Frank auch auf mein Phone mal so nebenher einen WhatsApp-Account. Nun weiß der neugierige Menschenrest, wann ich online bin - und CIA und BND können herausfinden, was ein Ukulele-Lehrer an Belanglosigkeiten übermittelt oder übermittelt bekommt - Hurra, nun trage auch ich ein weiteres elektronisches Mosaiksteinchen zur Totalüberwachbarkeit der Bevölkerung bei.


Mein Schulfreundin Petra kann aus familiären Gründen leider nicht hier sein und hat mich daher an ihren einstigen Lebensabschnittsgefährder vermittelt. So lerne ich andere Orte, andere Leute und andere Hunde kennen. Der hiesige Hund heißt Lumpi und ist der artigste Hund der Welt, den ich je kennenlernte. Er schaut dir einmal in die Augen und noch einmal - und wenn du nicht wegguckst, schaut er dir den ganzen Tag lang in die Augen. Doch als Tierfreund bist du schon beim ersten Mal verloren. Und Lumpi hatte auch mal wieder einen fremde Geruchsnote in der Nase. Mit einem Glas Wein, na sagen wir, mit zwei Gläsern Wein rundet sich der letzte und einzige Abend meiner Reise ab, an dem ich eine Jacke anziehe, um der herrlich frischen Luft etwas entgegenzusetzen.




*


Pfingstmontag. Auf dem Land gibt es immer was zu tun. Nachdem Frank von seinem kleinen Feiertagsjob zurück ist, bleibt noch Zeit für eine Tasse Kaffee. Dann verstaue mein Rad und das Gepäck in seinem Auto. Denn der Anstieg hinauf zum Bahnhof von Oberstaufen ist noch immer so steil wie voriges Jahr. Will man nach dem Kurbeln am Berg den ganzen Rest des Tages verschwitzt in der Eisenbahn sitzen? Nein, will man nicht. Frank ist so freundlich, mich zu fahren, und ich bestehedarauf, lieber eine halbe Stunde eher auf dem Bahnsteig zu sein, als die Rücklichter zu sehen. Mit dem Auto dauert es keine 10 Minuten. Ich verabschiede mich von meinem neuen Kumpel und schiebe mein Radel auf den Bahnsteig.

Kurz nach meinem Eintreffen schickt die DB einen  extra für mich und mein Radl bereitsgestellten (und entsprechend beschrifteten) Sonderzug, der mich ohne Umsteigen heimfahren könnte. Doch ich zögere, weil ich einfach nicht an Wunder glaube, die 20 Minuten vor der planmäßigen Ankunftszeit ankommen.
 

Stattdessen vertraue ich dem mir vor drei Wochen aufs Phone gesendeten Reiseplan der Deutschen Bahn, den ich mir zusätzlich ausgedruckt habe, damit ich über die vorgesehenen Anschlüsse auch dann noch im Bilde bin, wenn Hacker die Computer hacken oder andere Störungen im digitalen Bereich anfallen.

 
Auch ein mitreisender junger Mann scheint der modernen Technik nicht vollends zu trauen. Jedenfalls hat er eine antiquarische Spiegelreflexkamera der Marke Rolleiflex auf dem Tisch im Speisewagen ausgestellt. Ich frage ihn, ob er Profiphotograph sei und daher ein Fable für die gute alte Technik habe. Nein, es ginge ihm um rein nostalgische Aspekte - aber ja, die Technik sei in den 60ern ausgereift und unverwüstlich gewesen. Wahrscheinlich geht es ihm auch etwas ums Fachsimpeln mit interessierten Fahrgästen. Als jemand, der in den 60ern mit dem made-in-GDR-Fabrikat Pouva Start aus dem Hause Pentacon aufgewachsen ist, sich noch zu Schulzeiten eine Exa 1b Spiegelrefle? aus gleichem Hause zusammengespart hatte, bin ich nicht ganz unbeleckt, nur mit den Westfabrikaten kenne ich mich nicht aus. Gern erklärt mir der junge Mann den Sinn der beiden Objektive.

Was habe ich auf dieser Reise wieder alle gelernt? Zuletzt etwas über den Unterschied beim Stand der Phototechnik in Ost- und Westdeutschland. Da sind die Volkseigenen Betriebe einfach nicht mitgekommen. Ist ja auch kein Wunder, wenn man bedenkt, dass wir Ossielümmel ab der 7. Klasse alle zwei Wochen an die sozialistische Planwirtschaftsstanze abkommandiert wurden - unter anderem bei jenem berüchtigten VEB Pentacon, der vorwiegend für das Nichtsozialistische Wirtschaftsgebiet produzierte. Was da nicht mehr lief, kam dann in die heimischen Läden. Welche Auswirkungen diese als Unterrichtsfach "Produktive Arbeit"* beschönigte Zwangsarbeit für Kinder auf meinen Klassenstandpunkt und auf mein persönliches Verhältnis zur vergreisten Staatsmacht hatte, habe ich bereits in meinen Vorjahres-Reisememoiren geschildertt. Noch heute glorifizieren einige Altkader von Margot Honeckers Gnaden, den "Praxisbezug" des Unterrichts in "der DDR-Schule der 1970er Jahre". Und der habe sogar "ein von den westlichen Industrienationen unerreicht hohes Niveau" erreicht. Na toll, Frau Dr. Weinhold!* Da hat der Staatsbürgerkunde-Lehrer aber ganze Arbeit geleistet und Sie profitieren noch heute von der Gehirwäsche Ihrer alten Parteigenossen.

Reist man also heute so mit Radl und Bahn durchs wiedervereinte Land, sollte man meinen, die alten Geschichten aus Zeiten der Diktatur des Proletariats seien längst vergessen und vergeben - so dass man sich nun nur noch Helmuts Kohls blühenden Landschaften hingeben kann. Letzteres sollte man unbedingt tun, bevor die Betonmischer auch auf den letzten Wiesen angekommen sind. Denn: Überall, wohin man schaut, wird aufgebaut - so hieß es in einem Kindergartenlied der 60er Jahre. Heute ist das nicht anders, nur die bebaubaren Flächen sind schon rar geworden.

Draußen ziehen Fabriken und Schrottplätze an mir vorbei, riesige Industriebetriebe verunstalten die Landschaft. Die Großstädte platzen aus den Nähten, die Mietpreise explodieren, das Gedrängel in den Straßen wird unerträglich. Die Bürgermeister der Dörfer wissen nicht, wo sie noch einen Acker zur Errichtung von Asylbewerberlagern beschlagnahmen können. Kann das ewig so weitergehen? Das Land, durch das mich die Schienen der Deutschen Bahn in diesem Moment gerade tragen, hat sich in den letzten 20 Jahren so sehr verändert - vieles ist wahrscheinlich als fortschrittlich zu bewerten, aber manches kann einem Angst und Bange machen.

Letztmalig steige ich in Hof um, die Regionabahn nach Dresden ist rammelvoll, kein Sitzplatz in Aussicht. Ich sthe an der Tür, klemme mir die verbliebene Gepäcktasche unter den Hintern und setze mich darauf. Mir genüber hat sich bereits ein Mädchen gauf den Boden gesetzt - als wir auf gemeinsamer Augenhöhe sind, lächelt sie mich an. Dann beschäftigt sie sich eine Weile mit dem Inhalt diverser Tupperschachteln. Es sieht vegetarisch wenn nicht gar vegan aus. Beim Kauen lächelt sie wieder. Das macht mich etwas verlegen. Ich lächle zwar zurück, weiche häufigeren Blicken aber aus. An einer der nächsten Stationen steigen einige Fahrgäste aus, sie sucht sich einen Platz. Ich folge erst an der nächsten Station, als sich das Abnteil weiter lüftet. Ein ganzer Tisch mit vier Sitzplätzen ist frei geworden - sie sitzt an dem gegenüber, wo auch zwei junge Burschen hocken. Kurz entschlossen greift sie ihr Gepäck, kommt zu meinem Tisch herüber - und lächelt mich an.

Ich vertreibe mir ein paar Minuten mit dem Aussortieren nicht mehr benötigter Tickets, Quittungen, Notizzettel. Doch das ist schnell erledigt. Dann macht sie genau das Gleiche! Nur dass sie unheimlich mehr Zettel und Zettelchen zu sortieren hat. Sie streicht einige der darauf geschriebenen Adressen durch, überträgt andere auf einen anderen Zettel. Mit anderen Worten: sie tickt noch etwas analog. Das Häufchen mit den zerissenen Zetteln wird größer und ich ahne, dass sie diese gleich in das Abfallbehältnis am Tisch schieben wird. Ich öffne ihr den Deckel - sie lächelt und schiebt die erste Ladung hinein. Das Ganze wiederholt sich in Abstanden von Viertelstunden: ich ahne, wann es wieder soweit ist, öffne den Deckel, sie schiebt ihre Zettel hinein - und lächelt. Einmal geht sie ins WC, ich bin wissbegierug genug, in der Zwischenzeit einen der Zettel aus dem Abfallbehältnis zu ziehen, um zu erkennen, welcherlei Informationen sie sich eben entledigte.

Absichtlich vermeide ich jede verbale Kontaktaufnahme - ich gerate ja eh nur wieder an esoterische Weibsen - wie schon bei der Anreise. Und dieses hier ist noch viel jünger. Das nehme ich aber erst wahr, als sie ihre Kapuze abgenommen hat. Das bubikurze blonde Haar, das ihr Gesicht umrahmt, überrascht mich. Welches Mädchen zeigt nicht gern sein langes Haar? Sie streift die Jacke aus und ich sehe, dass sie legäre Klamotten bevorzugt, sogar etwas ausgefranst und löchrig ist ihr Pulli. Was darf man daraus schließen? Eine modische Tussie ist sie jedenfalls nicht. Ein großer selbstgeschnitzer Wanderstock könnte bedeuten, dass sie von einer langen Wanderschaft heimkehrt - in einigen Handwerken gibt es heute noch die traditionelle Walz, die Zimmermannszunft hat die Walz jetzt auch den weiblichen Azubis, den Zimmerfrauen, zugebilligt. Aber so sieht sie nicht aus, dazu fehlen die Gesellenkluft, die groben schwarzen Cordhosen, breiter Krempenhut, die Gepäckrolle und andere traditionelle Utensilien.

Mit ihrer Kapuzenjacke würde ich sie eher einer dauerrevolutionären Weltverbesserer-Szene zuordnen, aber für eine derartige Truppeteile lächelt sie wieder zu liebenswürdig. Nachdem sie ihren Aussortierungskram abgeschlossen hat, legt sie sich über die beiden Sitze und tut so, als könne sie ein Nickerchen machen, während ihr ein Mann gegenübersitzt, der ihr eine Stunde lang den Deckel auf- und zugeklappt hat. Sie schließt die Augen und ich kann sie ungeniert beäugen. Wie alt, wie jung mag sie sein? 20? Eher jünger. Rank und schlank ist sie, aber an den Wangen lassen sich womöglich gar die letzten Relikte von Babyspeck ausmachen.

Lange hält sie es in der unbequemen Lage nicht aus. Sie richtet sich wieder auf - lächelt mich an. Ist es Verlegenheit oder Unsicherheit, wenn sie dauernd in ihren Taschen kramt? Sie kramt ein kleines Klapphandy heraus, kontrolliert die Uhrzeit oder liest eine Kurznachricht. Ganz hundertprozentig analog tickt sie also auch nicht mehr. Am anderen Tisch erzählt ein junger Kerl, er käme gerade vom "Rock am Ring" - da hab es eine Terrorwarnung gegeben. Bei einem früheren Festival habe er auch schon mal in der Nähe von einem Verletzten gestanden. Von wem will er dafür bewundert werden? Von seinem männlichen Gegenüber, von dem Mädchen oder von mir?


Fast auf der ganzen langen Fahrt vom bergigen Südwesten der Republik bis in den hügeligen Osten ist der Himmel überwiegend grau geblieben, seit der Zug durch die thüringschen und vogtländischen Höhen fährt, regnet es ununterbrochen. In Erwartung eines kühlen Empfangs im Dresdner Hauptbahnhof krame ich meine Fleesjacke aus dem Radlergepäck. Ich wüsste so gern, wie die Stimme des Mädchens klingt, das immer wieder so reizend lächelt. Doch ich will auf keinen Fall das Gespräch suchen. Ein in die Jahre gekommenes männliches Exemplar einer austerbenden Art sollte bei der Begegnung mit einem blutjungen weiblichen Exemplar der üblicherweise vollvernetzten Generation keine Allüren entwickeln.

Der Zug fährt bremsquietschend unter das dunkle Bogendach des Dresdner Hauptbahnhofs ein. Erst nach dem Aussteigen gebe ich mir einen Ruck und traue ich mich dann doch: Ist die Pilgerfahrt jetzt zuende? frage ich. Pilgerfahrt? Ach, wegen des Wanderstocks! Nein, nein... Sie sei einfach nur so mal weg gewesen. Ich vertiefe das Gespräch nicht - und sie scheint es nun auch eiliger zu haben. Ich weiß, was ich wissen wollte - sie ist in dieser Stadt zuhause. Ich habe den Klang ihrer Stimme gehört. Sie klingt musikalisch - auf den ersten Eindruck, aber ich kann mich täuschen.

Ich ziehe die Jacke wieder aus, denn es ist überraschend warm für diese Abendstunde. Doch der Himmel ist noch immer grau, es könnte wieder zu regnen beginnen. Am Bahnhofsausgang zur Prager Straße torkeln junge Leute herum. Ich könnte problemlos an ihnen vorbei kommen, aber ich entscheide mich, auf die Fahrt durch die Stadt und den schönen Großen Garten zu verzichten, die S-Bahn bis Dobritz zu nehmen - das ist, wo meine Teilnahme am öffentlichen Bahnverkehr begann, wo auch das Pärchen mit der Frau, die ihren Corpus im letzten Moment in den Zug hangelte, ihren Ausflug begann.


Auf dem S-Bahnsteig lungern junge Migranten herum. Werden sie mich um Zigaretten anbetteln wie den Mann, der vor einigen Monaten auf die Gleise geschubst wurde, weil er ihrem Wunsch nicht nachkam. Ich bereite mich innerlich auf alle Eventualitäten vor und stelle mich so, dass ich den Rücken frei und genügend Abstand zur Bahnsteigkante habe. Das kann man übertriebene Vorsicht nennen, aber ich habe einfach nicht das Verlangen, das Ende meiner Reise im Krankenhaus zu verbringen.

Die S-Bahn kommt mit leicher Verspätung und ist voll. Es war dennoch eine sinnvolle Entscheidung, auf die Radfahrt durch die ganze Stadt zu verzichten. Denn auf den letzten Metern heim nach Ukulelestan treffen mich noch einige Regentropfen - bekanntlich neigen auch Regentropfen eher zum Gruppenzwang als zur Vereinzelung. Nur leicht befeuchtet schleppe ich mein Rad und mein Gepäck in meine Bude, dort lasse ich alles fallen. Erst morgen früh um 11 muss alles aus dem Weg und wieder an seinem alten Ort sein, dann ruft meine diensthabende Ukulele zur Arbeit.


Kurz vor Sonnenuntergang klart der Himmel auf. Ich spaziere noch ein paar Schritte am Ufer der Elbe. Ein Stück von einem Regenbogen leuchtet vor dem Schwarz einer abziehenden Regenwolke. Fasziniert vom abendlichen Lichterspiel vergessen die Angler für ein Weilchen ihre Angeln, greifen zu den Handys, um diese besonderen Momente festzuhalten. Niemand kann sich dem Zauber der Natur entziehen.





Unterwegs mit der Ukulele



alles-uke.de