Niederlausitz - Spreewald - Uckermark

Lausitzer Gebirge / Isergebirge

Böhmische Schweiz - Sächsische Schweiz




Oktober 2018 - man muss auch mal Glück haben. Meine dreirädrige Reisesänfte kommt nach elf Wochen in der Werkstatt zurück zu ihrem Besitzer - zwei Tage vor Beginn der Herbstferien... Die Wetter-App zeigt für die nächsten 10 Tage Sonnenschein pur. Ein Meteorologe erklärt die ungewöhnlichen sonnigen Aussichten mit zwei stabilen Hochdruckgebieten, eines im Südwesten, eines im Nordosten Europas - zwischen diesen beiden Hochs könne sich eine Art Schönwetterdiagonale bilden, welche es nordatlantischen Tiefs erschwere, nach Mitteleuropa vorzudringen. Es könnte aber auch ganz anders kommen... Ich bin optimistisch und rechiere nach Unterkünften. Frau Komoot hilft mir wieder beim detailierten Planen der Strecke. Ziel meiner Reise ist - neben dem ausdauernden Radeln durch frische Herbstluft - der Besuch von Freunden in der Uckermark.





1. Etappe

Dresden > Radeburg > Lauchhammer > Fürstlich Drehna



 

Graue Nebel wallen

In aller Radlersfrühe mache ich mich in die Pedalen. Denn die erste Etappe ist lang und die Tage sind kurz geworden - es bleiben 10 Stunden bei Tageslicht, ab 18 Uhr wird es duster. Als ich an der Anlegestelle der Elbfähre warte, erklimmt die Morgensonne die Elhänge. Graue Nebel wallen - ein Naturschauspiel der leisen Art belohnt den Frühaufsteher.



Das Frühstück hole ich am Haarweiden-Stausee in der Dresdner Heide nach - der größte Anstieg des Tages liegt damit schon hinter mir. Mein Schal dient als Tischdeckchen - etwas Stil muss sein! Dafür geht es auch mal ohne Kaffee. Aber Kohlenhydrate, Eiweiß und Vitamine gehören zur Minimaldiät jeder Radwanderung. Zu meiner Überraschung höre ich trotz des dichten Waldes, der mich seit einigen Kilometern umgibt, noch immer das Grundrauschen der Zivilisation - der Wind trägt den Lärm des morgendlichen Berufsverkehrs bis in die Heide.

 




Die Idylle des Schwanenballetts täuscht nicht darüber hinweg, dass die meisten Seen der Niederlausitz Relikte des Braunkohletagebaus sind. Trotz Energiewende und CO2-Problematik wühlen sich noch immer gigantische Bagger durch Wälder und Heide, auch Dörfer sind weiterhin vom Abriss bedroht - nach wie vor müssen Einwohner um den Erhalt ihrer Heimat bangen. Die amtierenden Volksvertreter argumentieren mit dem Erhalt von Arbeitsplätzen...

 



 

Gegen Mittag erreiche ich Thiendorf im Westen der Königsbrücker Heide, Klärchen hat die Luft auf 22 Grad erwärmt. Tische und Stühle vor dem Gasthof Thiendorf laden zur Mittagspause ein. Der Eingang wird von einem Relief gekrönt, das schöne Motto Zum Treuen Freund erinnert mich einmal mehr an das Ziel meiner Reise.

Ich setze mich an den letzten freien Tisch, am Nebentisch plaudern drei junge Frauen miteinander, einige Handys lösen bei jedem Anruf eine kleine Diskothek aus, unterschiedlich lautstarke Säuglinge versuchen auf ihr Dasein hinzuweisen. Die Mütter sind bemüht, die kleinen Nervensägen zu beruhigen - mit unterschiedlichen Erfolgen. Ein schwerbepackter Radler pedaliert vorbei - ich bin nicht der einzige Herbstradler.

 

Kurz vor Sonnenuntergang erreiche ich Fürstlich Drehna und drehe gleich eine Runde durch den Schlosspark. Dann werfe ich einen Blick ins Innere des zum schicken Hotel umfunktionierten Anwesens. Ich kümmere mich gleich um Sie, sagt die Kellnerin, als ich mich dem Eingang des Restaurants nähere. Doch ich bin es gewohnt, dass man mich ansieht, bevor man sich um mich kümmern will - also verlasse ich die noble Herberge umgehend.


Mein Quartier befindet sich im Gasthaus zum Hirsch - hier hatte ich bereits bei meiner Frühlingsrunde Mitte Mai übernachtet und weiß, woran ich bin. Während ich am Eingang das Formular ausfülle, spricht mich ein Gast des Schlosshotels an: Ein Tisch für drei Personen bitte... Nicht schlecht - selbst in den Cargohosen meiner Radlergarderobe wirke ich wie der Chefkellner. Zur Belohnung der ersten 115 Kilometer stille ich meinen Radlerdurst mit einem Bierchen aus der Schlossbrauerei.

 





2. Etappe

Fürstlich Drehna > Lübben > Beeskow




Vor der Weiterfahrt drehe ich nochmals eine Runde zum Schlosspark, jetzt mit der Lichflut der Morgensonne. Nach der außergewöhlichen Trockenheit dieses Sommers reichten wenige Regentage, frühlingshaftes Grün in Wiesen und Wäldern zurückzubringen. Doch intensive herbstliche Farbtupfer sind auch nicht mehr zu übersehen. Ein Gast des Schlosshotels wundert sich, dass seine unter einer Kastanie geparkte Limousine ein paar Kratzer am Lack erlitten hat...

 

Am Lichtenauer See erläutert eine Infotafel, wie man gedenkt, das nach dem Braunkohleabbau in der gefluteten Grube übersäuerte Gewässer zu neutralisieren. Mittels des Sanierungsschiffs Barbara wurden demnach seit 2012 Hunderttausende Tonnen Kalksteinmehl und Kalkhydrat in den "Wasserkörper" gemengt, um einen ökologisch unbedenklichen Zustand zu erreichen - dieser Prozess scheint im Jahre 2018 offenkundig nicht abgeschlossen zu sein.



Ich nähere mich dem Biosphärenreservat Spreewald mit seinen weitverzweigten Netz aus Kanälen und Nebenarmen der Spree - im Sommer dürfte es in dieser von Mooren und träge fließenden Gewässern geprägten Landschaft von Mücken nur so wimmeln - und von Menschen, die glauben, die berühmten Spreewälder Gurken vom hiesigen Souvenirstand schmeckten besser als die vom Supermarkt um die Ecke...

 



In Lübben befinde ich mich im touristischen Herzen des Spreewaldes. Paddelboote und Ausflugskähne schunkeln umher - letzere wurden einst durchs flache Gewässer der Spree gestakt wie venezianische Gondeln, doch inzwischen wich die Nostalgie der Bequemlichkeit, die Gemächlichkeit der Betriebsamkeit, das leise Plätschern dem Motorengeknatter. An einem Donnerstag in der spätherbstlichen Nebensaison bleibt der Andrang allerdings erträglichen

Butter für schlechte Zeiten

In einem Lübbener Supermarkt erwerbe ich eine Flasche Wasser. Als ich sie dann an meinem Rad befestige, wird ein alter Mann auf mein Gefährt aufmerksam und fragt mich aus. Er erzählt mir von den Besonderheiten seines eigenen Fahrrades. Ich staune, weil er 10 Päckchen irische Butter eingekauft hat - was macht man mit so viel Butter? Einfrieren, antwortet er. Für schlechtere Zeiten? Schließlich erzählt er mir, dass ihn seine einstige Frau nach 36 Jahren Ehe verlassen habe, indem sie sein Konto leergeräumt und mit zig Tausend Euro zu einem anderen Mann abgehauen sei. Als der neue Kerl ihrer überdrüssig wurde, habe sie wieder zurückkommen wollen. Aber so blöd sei er natürlich nicht gewesen... Seltsam, eine beinahe gleiche Geschichte hatte ich erst unlängst bei einer Tagesradelei gehört - kommt sowas öfters vor?



Gegen drei komme ich durchs Dörfchen Trebatsch, wo eine Graphik an den hier gebürtigen Naturforscher Ludwig Eichhardt erinnert. Der Expeditionsreisende in Sachen Geologie, Zoologie, Botanik machte sich einen Namen als Entdecker des zu seinen Lebzeiten noch unerforschten Nordens Australiens. Von seiner dritten Expedition in die unbekannte Wildnis des Kontinents, die bereits eine Wiederholung seiner gescheiterten 2. Expedition war, kehrte keiner der Teilnehmer zurück - spätere Suchexpeditionen blieben erfolglos. Seit dem ranken sich Legenden um den im Alter von 35 Jahren verschollenen Mann. Der sogenannte Eichhardt-Trail, ein 54 Kilometer langer Wanderweg, der von seinem Geburtsort ausgehend südwärts am Schwielochsee entlang führt und durch die Lieberoser Heide und den Spreewald bis zu seinem einstigen Gymnasium in Cottbus, hält sein Andenken in Ehren.

 

Um vier erreiche ich die brandenburgische Kleinstadt Beeskow. Vom Hotelzimmer überblicke ich den Marktplatz, der bereits im abendlichen Schatten liegt.

Als ich kurz nach einer kleinen Runde durchs Städtchen bei Einbruch der Dunkelheit ins Hotel zurückkehre, verstehe ich, weshalb die hübsche junge Kellnerin mit dem pechschwarzen Haar auf meine Frage nach einem Musik-Pub nur schmunzeln konnte. Natürlich, ich bin ja nicht in Irland, wo es fast in jedem Dorf ein Pub und Musiker gibt, die sich dort treffen. Ich bin in der ostdeutschen Provinz - hier treffen sich abends ein paar junge Leute auf der Straße. Wer es von ihnen zu etwas Geld gebacht hat, kurvt in getunten Kleinwagen durch die engen Straßen der Kleinstadt, lässt die Motoren aufheulen und Bremsen quietschen - erfreulicherweise hält dieser ewige Schrei nach Aufmerksamkeit nicht den ganzen Abend an.





3. Etappe

Beeskow > Groß Neuendorf > Gellmersdorf

Da es im Beeskower Hotel zum Schwan schon ab 7 Uhr Frühstück gab, kann es zeitig in die Pedalen gehen. Meine himmliche Freundin, Frau Komoot, führt mich zunächst durch Felder und Wälder. Die Kutschen von Königen und anderen erlauchten Jägersleuten waren auf den geplasterten Wegen, die mich und meine Sänfte gerade durchschütteln, schon unterwegs gewesen. Kompanien preußischer Soldaten ebenso ein kurfürstlicher Jäger. Anno 1696 soll er hier einen so kolossalen Hirsch erlegt haben, dass der einstige Kurfürst und spätere erste Preußenkönig Friedrich seine Ruhmestat standesgemäß verewigen ließ - also mit einem einige Meter hohen Gedenkstein, damit der Rest der Welt weiß, wer hier einst einen 66-Ender mit eigenen Händen geschossen...

 

Diesen Hirsch hat in der
Brunst-Zeit mit eigener Hand
geschossen der Durchlauchtigste
Großmächtigste Fürst und Herr
Herr Friedrich der Dritte
Markgraf und Kurfürst
zu Brandenburg im Amte
Biegen auf der Jacobsdorff-
chen Heide am 18. September
anno 1996 hat gewogen fünf
Zentner 35 Pfund, nach-
dem er schon
3 Wochen geschrien

Drei Jahrzehnte später begehrte ein anderer Monarch die Jagdtrophäe des 66-Enders. August der Starke, der nicht das erste Mal ganze Kompanien von Soldaten ans Preußische Königshaus verschenkt hatte, bot dem inzwischen amtierenden Soldatenkönig eine Spezialeinheit Grenadiere - die sogenannten Langen Kerls als Gegenwert, um das Geweih in seinem Moritzburger Jagdschloss zur Schau stellen zu können. Und da soll es noch heute hängen - und von Jägern bewundert werden.



Einige Meilen weiter spiegelt sich der Himmel in einem länglichen See - im 14. Jahrhundert gründeten hier Mönche eine Mühle, lebten von Fischfang und Jagd. Der so idyllisch gelegene Ort namens Klostermühle wurde 1945 enteignet und später in ein Erholungsheim umfunktioniert - für Stasi-Mitarbeiter. Eines muss man Mönchen und Stasi-Bossen lassen - sie wissen, wo man nach getaner Arbeit gut ausruhen kann.

Die Suppe mundet gar köstlich


Auf der Heimreise von einer Schlacht soll hier auch der Alte Fritz eingekehrt sein. Seither wird er mit dem königlichen Satz "Die Suppe mundet gar köstlich" zitiert.

 

"Heute bietet das Gelände am Madlitzer See unter dem Namen Gut Klostermühle Erholungssuchenden ein First-Class-Refugium" - so steht es auf einer Info-Tafel. Na, schön - dann ist ja alles beim Alten geblieben. Ich verzichte aufs Süppchen und pedaliere auf teils sandigen Wegen um den See, bis ich gegen 11 ein lauschiges Plätzchen für ein Frühstück im Freien finde.

 

Von vereinzelten Spaziergängern abgesehen ist am Madlitzer See wenig Begängnis. An der Terrasse eines Bungalows stelle ich mir vor, welch Ruhe hier in der Nacht herrschen mag. Vielleicht hört man einen verirrten Wolf heulen, vielleicht aber auch die Party vom First-Class-Refugium...



Bei Groß Neuendorf treffe ich ans Ufer der Oder - die sich weitende Auenlandschaft des Oderbruchs, die schilfbewachsenen Ufer, die abgestorbenen Bäume im weiten Flussbett haben es mir sofort angetan. Kein Schiff und kein Boot schneidet durch den Fluss, nur das Surren meines Leerlaufs ist zu hören - ich halte an, der Weite des Landes zu lauschen. Angler werfen ihre Ruten aus - an beiden Ufen des Grenzflusses. Die tief im Westen hängende Abendsonne färbt das Laub an den Waldhängen der polnischen Flusseite in satte Ockertöne - gelb, braun, rot schimmert der Herbst.

Bei Hohensaaten bekommt die Oder Gesellschaft von der Wriezener Oder, einem Nebenarm des Flusses, der zu einer Wasserstraße mit Schleuse ausgebaut ist - der Radweg führt einige Kilometer zwischen beiden Flussläufen entlang. Bei Stolzenhagen biege ich westwärts ab, einige Hügel der märkischen Endmoränenlandschaft sind zu überqueren, im waldigen Bergschatten stürzt die Temperatur um gefühlte zehn Grad ab, doch die Anstiege halten mich warm, die gepflasterten Wege sind schwer verfallen. Hinter den Hügeln blicke ich bereits ins gleißende Rot des Sonnenuntergangs. Um vor Einbruch der Dunkelheit das Haus meiner Freunde bei Gellmersdorf zu erreichen, darf ich mich vom Zauber des Abenlichtes nicht aufhalten lassen.

Meine Freunde sind nur eine halbe Stunde vor mir in ihrem Wochenend-Domizil eingetroffen - wir haben uns sieben Jahre nicht gesehen, es gibt einiges zu erzählen.




4. Etappe

Gellmersdorf > Funkenhagen > Gellmersdorf




Am Rand eines Feldes warten die bereits in Position gebrachten schwarzen Rohre der politisch umstrittenen Gazprom-Pipeline auf Baugenehmigungen. Auf den benachbarten Feldern warten Gruppen von Windgeneratoren auf den ersten Luftzug des Tages. Ich spaziere durch den Garten, in dem die Morgensonne bei einem Apfelbaum ihr erstes Spielchen mit Licht und Schatten treibt.

 

Wäre ich heute mit dem Rad unterwegs, hätte ich viel Zeit darüber nachdenken, wie ich meinem seit einigen Jahren an den Rollstuhl gefesselten Musikfreund Nick begegnen könnte. Vielleicht ist es besser, dass ich in Gesellschaft fahre und dadurch Zerstreuung habe. Was immer ich in der Begegnung mit Nick sagen kann, wird ein Monolog sein, denn Nick kann infolge seiner Erkrankung nicht mehr anworten. Eine solche Erfahrung habe ich noch nie gemacht. Am Ende zählen nicht Worte, sondern die Momente des Wiedersehens, das Innehalten, das Erinnern.

In Funkenhagen zeige ich meinen Freunden den Weg zum Mellensee, der an einem Apfelbaum voller knallroter Äpfel abzweigt. Den Besuch bei Nick mache ich allein. Der Pfleger, dem mein Besuch angekündigt ist, öffnet mir die Tür. Als er den Rollstuhl, eher eine Rollliege, auf die Terrasse schiebt, scheint mich Nick wahrzunehmen - er blickt zu mir, ich nehme seine Hand in meine Hände und begrüße ihn auf diese Weise.

Infolge einer fortgeschrittenen atypischen Parkinson-Erkrankung kann Nick mir weder antworten noch anderweitig reagieren - das ist eine sehr ungewohnte Situation für mich. Vor Publikum aufzutreten ist für mich nichts Aufregendes. Einen Monolg vor einem Freund zu halten, einem Freund, der meinem musikalischen Lebenswandel wie kein anderer geprägt hat, ist etwas Anderes.

In den 90ern, als ich in Berlin lebte, waren wir ooft gemeinsam on the road - wenn ich mich nicht ums Organisatorische der Gigs in den Pubs zwischen Thüringen und Sachsen kümmerte, lernte ich von Nick die Gitarrenwerke der frühen Bluesmeister kennen - allen voran die legendären Songs von Robert Johnson. Die Berliner Jahre, die ich zunächst dem Studentenleben widmete, prägten meinen weiteren Lebensweg - statt Akademiker wurde ich Musiker.

Und jetzt stehe ich hier und bin so sprachlos. Wenn ich eine halbe Minute schweige, fallen Nick die nur leicht geöffneten Augen zu. Sobald ich rede, öffnen sie sich ein wenig. Zum Abschied greife ich wieder Nicks Hand - und ich sage, dass ich im nächsten Jahr wieder kommen möchte - im Sommer, mit etwas mehr Zeit.

 

Am Weg zum nahen Mellensee steht ein junger Apfelbaum mit knallroten Äpfeln - ich setze mich auf die Bank daneben und hänge meinen Erinnerungen an die Berliner Jahre nach.

Als meine Gellmersdorfer Freunde von ihrem Spaziergang zurück sind, kommt mir die Idee, die kleine Waldkapelle am anderen Ufer des Sees aufzusuchen, wo Nick seine langjährige Freundin Anke vor sieben Jahren heiratete. Da Anke heute auswärts zu arbeiten hat, konnte ich ich leider nicht begegnen.

Der Weg zur Waldkapelle führt um den Mellensee herum. Nach einem kleinen Spaziergang durch den Herbstwald stehen wir vor dem romantischen Friedhof, der die nur zu Hochzeiten geöffnete Kapelle umgibt. Zur damaligen Trauung zupfte ich auf den Saiten einer neuen Ukulele ein fandangoartiges Instrumentalstück. Bei der abendlichen Hochzeitsparty gaben auch all die anderen Musikfreunde aus unserer Berliner Zeit ihr Ständchen. Nick selbst griff an diesem Abend kein einziges Mal zur Gitarre, er konnte es nicht mehr.

Während meine Gellmersdorfer Freunde noch ein Bad im kühlen Mellensee nehmen, greife ich zu meiner Mundharmonika und versuche, die wehmütigen Gedanken mit ein paar Melodien zu zerstreuen. Seltsamerweise kommt mir ein Lied aus einem Western in den Sinn, das ich noch nie probiert hatte - beim Probieren fällt mir die bärentiefe Stimme des Sängers, aber nicht der Titel ein. Als ich Jörg frage, ob er das Lied erkannt habe, antwortet er sofort: I was born under a wandering star...



Bei Boitzenburg ziehen uns die Ruinen des einstigen Zisterzienserinnenklosters an, das im 30-jährigen Krieg zerstört wurde. An der Eingangstür der Gaststätte klebt ein amtliches Siegel, das erst zwei oder drei Tage alt ist - der Grund der amtlich besiegelten Schließung ließe sich im Mühlenmuseum erfragen. Aber davon wird man auch nicht satt.

 



Statt Gaumenfreuden bietet der Abstecher dem Auge jede Menge Romantik - die Überbleibsel von Anlagen der alten Wassermühle, Fachwerkgemäuer und die hinter Bäumen versteckten Ruinen krönen dieses goldenen Bilderbuch-Herbstnachmittags.

 

Auch im Schlosspark zaubert die Abendsonne ihr Wechselspiel von Licht und Schatten. Im Laufe der Jahrhunderte erhielten der Park und das Schloss zahlreiche Erweiterungen, Kriege und Nachkriegszeiten hinterließen ihre Spuren - die Nationale Volksarmee nutzte das prächtige Anwesen als Erholungsheim... Und weil es danach wohl niemand mehr haben wollte, ging es - wie so manches sonst - für eine "symbolische Mark" an einen Investor aus dem Westen...



Für eine Mark hätte ich es auch genommen... Die Restaurierung und der Ausbau zur Jugend- und Familienherberge erfolgte mit zig Millonen an Fördergeldern, von denen sich der "Investor" aus Hamburg, so lese ich in der Wikipedia, einige Milliönchen für andere Zwecke abgezwackt haben soll - anstatt die seinen zu investieren. Dass es in diesen prachtvollen Gemäuern 350 Betten zu Jugendherbergspreisen geben soll, ist eine gute Nachricht für alle, die in Sälen mit Doppelstockbetten schlafen können.




Wir verlassen die schönste Jungendherberge der Welt und fahren bald darauf durch die kleine Stadt Angermünde, die ich von einer anderen Hochzeit kenne, zurück nach Gellmersdorf, wo sich die Chefin des Hauses unverzüglich ans Kochen macht. Eine Stunde später stehen dampfende Kartoffeln und als Paprikaschoten verkleidete Klopse auf dem Küchentisch. Zwei Krüge Rotwein runden diesen sonnigen Herbsttag ab - doch bevor ich in der kleinen Dachkammer im Schlaf versinke, drehen mir noch viele Gedanken an meinen alten Freund Nick durch den Kopf.







5. Etappe

Gellmersdorf > Groß Neuendorf > Frankfurt (Oder)

Sonntagmorgen. Einmal mehr mache ich mich in aller Radlersfrühe auf den Weg, denn heute liegen wieder gut 100 Kilometer Kurbelei vor mir. Noch bevor das Sonnenlicht die Straße erreicht, bremst mich der Anblick mobiler Piepmatz-Immobilien aus. Noch mehr bremst mich jedoch der sehr holprige Weg zwischen Gellmersdorf und Stolzenhagen aus.

 



Über den taunassen Wiesen liegen noch vereinzelte Nebelschwaden. Gelegentlich rennt ein aufgeschrecktes Reh übers Feld. Beim Dörfchen Lunow gelange ich wieder ans Ufer der Oder und auf dem asphaltierten Deichweg lässt es sich ohne Anstrengung pedalieren - jedenfalls so lange bis der erste Wind die Fahrt abbremst, und der kommt heute von Südwest, das heißt: von vorn.

 

Beim Abschied wird die Zuneigung zu den Sachen, die uns lieb sind, immer ein wenig wärmer... Der Abschied von Sachen ist eine Sache für sich, der Abschied von Freunden eine andere.



Die Sonne zwinkert durch Baumkronen und über der Oder formieren sich Wildgänse zum Flug gen Süden - Scharen von 20 bis 40 Vögeln fliegen über mich hinweg, manche fürchterlich kreischend, andere ohne jede Aufregung. Vielleicht treffe ich einige von ihnen an der Elbe wieder... Denn da fühlt sich das lärmende Gänsevolk seit etlichen Jahren auch im Winter noch heimisch.

Am Gasthaus Zollbrücke haben sich erste Sonntagsradler versammelt. Ich nutze die Gelegenheit, ein Tässchen Kaffee nachzuholen. Nur zwei Radelstunden später, in Kienitz, liegt eine weitere Einkehrmöglichkeit am Wege - der Gasthof zum Hafen bietet dem Radler nicht nur Erfrischung und Nahrung, sondern auch Zimmer mit Hafenblick.

Im kleinen Hafen von Kienitz liegt ein altes Hausboot namens Avontuur - die beigefügte Zahl 1892 ist vermutlich das Baujahr und Amsterdam der Bauort. Das schwimmende Häuschen wäre ganz nach meinem Geschmack - nicht zu groß, nicht zu klein, genau das richtige als mobile Immobilie. Der "Balkon" am Heck wäre vorzüglich für Sommerabende, die Koje sieht nach Platz für Küche und Bett, für Bad und Rad, Bücher und Ukulelen aus.

 



Ich kann mich nicht satt sehen an den Farben des Herbstes - und der diesjährige ist ein besonderes Prachtexemplar. Die Sonne neigt sich schon wieder in den westlichen Horizont und das bedeutet, dass ich mich nicht zu lange in Schwelgereien verlieren darf, wenn ich meine heutige Unterkunft noch bei Tageslicht erreichen möchte.

 

Meine Pension in Frankfurt liegt direkt an der Oder, leider ist das Restaurant nicht geöffnet. Auf Empfehlung des Wirts quere ich die Brücke nach Polen. Aufdringlich bunt blinkende Reklame und Feuerwehrsirenen wie in New York - die Straßen von Słubice sind wenig einladend.

Nützliche Erfindungen

Auf dem Nachttisch liegt eine dicke Broschüre, die 2011 anlässlich des 200. Todestages Heinrich von Kleists herausgegeben wurde und sich mit der Rezeption des Frankurter Dichters befasst. Ich blättere ein wenig darin und entdecke unter anderem eine skurille Idee - unter der Überschrift "Nützliche Erfindungen" gedachte der romantische Schöngeist am 10. Oktober 1810 entweder den damaligen Paketdienst zu revolutionieren oder aber die technikgläubige Leserschaft der Berliner Abendblätter auf die Schippe zu nehmen. Anstelle Briefe und Päckchen auf herkömmliche Weise mit der Postkutsche zu transportieren, schlug er nämlich vor, selbige per Artillerie von Ort zu Ort schießen zu lassen, womit sich die Transportdauer auf ein Zehntel reduzieren ließe.

 

Dass der innovative Dichter dabei nicht an Porzellan und Keramik dachte, liegt auf der Hand... Aber ob es sich dabei um einen ernstgemeinten Vorschlag oder, wie ich vermute, nur um eine Persiflage handelte, ist im Zeitalter per Drohnen zugestellter Postlieferungen nur noch schwer zu entscheiden. Möge der heutige Leser, so er sich von leicht geschwollen verfassten Texten nicht verschrecken lässt, anhand des beigefügten Artikels selbst entscheiden, ob Kleist einen an der Klatsche hatte oder aber nur so tat:

 

Entwurf einer Bombenpost

Man hat, in diesen Tagen, zur Beförderung des Verkehrs innerhalb der Grenzen der vier Weltteile, einen elektrischen Telegraphen erfunden; einen Telegraphen, der mit der Schnelligkeit des Gedankens, ich will sagen, in kürzerer Zeit, als irgend ein chronometrisches Instrument angeben kann, vermittelst des Elektrophors und des Metalldrahts, Nachrichten mitteilt; dergestalt, daß wenn jemand, falls nur sonst die Vorrichtung dazu getroffen wäre, einen guten Freund, den er unter den Antipoden hätte, fragen wollte: wie gehts dir? derselbe, ehe man noch eine Hand umkehrt, ohngefähr so, als ob er in einem und demselben Zimmer stünde, antworten könnte: recht gut. So gern wir dem Erfinder dieser Post, die, auf recht eigentliche Weise, auf Flügeln des Blitzes reitet, die Krone des Verdienstes zugestehn, so hat doch auch diese Fernschreibekunst noch die Unvollkommenheit, daß sie nur, dem Interesse des Kaufmanns wenig ersprießlich, zur Versendung ganz kurzer und lakonischer Nachrichten, nicht aber zur Übermachung von Briefen, Berichten, Beilagen und Paketen taugt. Demnach schlagen wir, um auch diese Lücke zu erfüllen, zur Beschleunigung und Vervielfachung der Handelskommunikationen, wenigstens innerhalb der Grenzen der kultivierten Welt, eine Wurf- oder Bombenpost vor; ein Institut, das sich auf zweckmäßig, innerhalb des Raums einer Schußweite, angelegten Artilleriestationen, aus Mörsern oder Haubitzen, hohle, statt des Pulvers, mit Briefen und Paketen angefüllte Kugeln, die man ohne alle Schwierigkeit, mit den Augen verfolgen, und wo sie hinfallen, falls es kein Morastgrund ist, wieder auffinden kann, zuwürfe; dergestalt, daß die Kugel, auf jeder Station zuvörderst eröffnet, die respektiven Briefe für jeden Ort herausgenommen, die neuen hineingelegt, das Ganze wieder verschlossen, in einen neuen Mörser geladen, und zur nächsten Station weiter spediert werden könnte. Den Prospektus des Ganzen und die Beschreibung und Auseinandersetzung der Anlagen und Kosten behalten wir einer umständlicheren und weitläufigeren Abhandlung bevor. Da man, auf diese Weise, wie eine kurze mathematische Berechnung lehrt, binnen Zeit eines halben Tages, gegen geringe Kosten von Berlin nach Stettin oder Breslau würde schreiben oder respondieren können, und mithin, verglichen mit unseren reitenden Posten, ein zehnfacher Zeitgewinn entsteht oder es ebensoviel ist, als ob ein Zauberstab diese Orte der Stadt Berlin zehnmal näher gerückt hätte: so glauben wir für das bürgerliche sowohl als handeltreibende Publikum, eine Erfindung von dem größesten und entscheidendsten Gewicht, geschickt, den Verkehr auf den höchsten Gipfel der Vollkommenheit zu treiben, an den Tag gelegt zu haben.

Der Flachbildschirmfernseher ruft danach, einmal angeschaltet zu werden - zwei Fernbedienungsteile mit schätzungsweise je 50 Schaltmöglichkeiten liegen bereit. Auf gutglück schalte ich auf beiden die rote Powertaste an. Irgendeine Seifenoper läuft, ich versuche durch die Programme zu zappen, doch danach finde ich noch nicht einmal den eingestellten Sender wieder. Und das ist auch gut so - ich habe ja meine eigenen Programme! Dazu gehört die Ergänzung meines eigenen Fahrtenbüchleins. Doch irgendwie habe ich am meisten Vergnügen an der Fortsetzung der Kleist-Lektüre.

Froh schlägt das Herz im Reisekittel



Politisch korrekte Liebesbriefe schreiben konnte er also auch noch - sehr schön. Spazieren-gehen und Denken waren demnach legitime Begründungen, sich vor beruflichen, familiären oder anderen lästigen Verbindlichkeiten zu drücken. Allgemeine Arbeitsscheu und sich anbahnende Frühlingsdepressionen lassen sich literarisch kaum vollendeter zum Ausdruck bringen - Kleist war ein Meister seines Fachs. Mehr oder weniger zielführendes Umherreisen, so muss man heute bedenken, gehörte unter den Dichtern der Romantik zum guten Ton, denn schon damals galt: Froh schlägt das Herz im Reisekittel, vorausgesetzt man hat die Mittel...

Doch die Zeiten haben sich geändert - damals ging es mit Rucksack und Wanderstock über Stock und Stein, heute trauen sich nur noch die tapfersten Pedalritter ins wilde, freie Land. Und selbst unter denen müssen die meisten ihre Wilheminen mitnehmen, damit der häusliche Frieden nicht ins Wanken kommt - ich schwöre es dir.





6. Etappe

Frankfurt > Fürstenberg > Guben > Bad Muskau

Auch an diesem Morgen muss ich aufs Frühstück verzichten, weil es in der Pension erst ab acht Uhr erhältlich ist - die Frühstücksmamsell trifft gerade ein, als ich in den Kickverschluss meiner Pedalen einraste. Mein erstes Pedalieren gilt dem Ziel, die infolge von Kriegszerstörungen und realsozialistischen Betonierorgien einigermaßen verschandelte Stadt hinter mir zu lassen. Etwas weiter im Süden sind einige Villenviertel erhalten geblieben und restauriert worden.

 

Erst über einige urbane Abschnitte, teils an der Bundestraße 112 entlang, gelange ich wieder aufs freie Land, jedoch ein ganzes Stück von der Oder entfernt - meine himmlische Reiseleiterin, Frau Komoot, wird Gründe kennen, mich so geführt zu haben. Da sie bisher selten fehlte, vertraue ich ihrer Navigationskunst arglos.




Beim 1950 gegründeten Eisenhüttenstadt komme ich wieder an die Nähe der Oder - das als historischer Stadtkern eingemeindete Fürstenberg blieb erfreulicherweise vom "sozialistischen Klassizismus" verschont. In der Wikipedia lese ich, dass der mit dem Ende der DDR eintretende Verfall Eisenhüttenstadts den spöttischen Beinamen Schrottgorod begründet habe. Interessant finde ich, dass zum 70. Todestag von Karl Marx die Umbenennung in Karl-Marx-Stadt vorgesehen war, dem dann der Tod Stalins zuvorkam, was wiederum zur spontanen Umbenennung in Stalin-Stadt führte. Ich quere die Brücke und lasse die Stadt mit den vielen Namen hinter mir.

Auch die Oder lasse ich einige Kilometer weiter hinter mir. Weil der neue Deich, auf dem der Radweg bald entlang führen wird, noch im Bau ist, muss ich ein ganzes Stück über Feldwege - bei Nässe und in der landwirtschaftlichen Hauptsaison, wenn Traktorreifen hier tiefe Furchen hinterlassen, hätte ich keine Chance, bestätigt ein einheimischer Wandersmann. Bei Ratzdorf krümmt sich die Oder nach Osten - die Lausitzer Neiße, die südwärts den Grenzverlauf zu Polen fortsetzt, wird ab hier mein radwegliches Leit-Gewässer.

Wer noch die Vorzüge von echtem Farb TV + Telefon zu schätzen weiß, könnte in Guben bei Oma Ingeborg fündig werden.

 


 

Die Hoffnung stirbt zuletzt

Auf halbem Weg nach Forst liegt ein kleines Dorf namens Groß Gastrose - dessen Einwohner befürchten, dass auch sie bald ihre Heimat verlieren, wenn sich die Bagger des Bergbaus weiter nähern. Dem herzlichen Willkommensgruß am Eingang des Dorfes ist zu entnehmen, dass die Bedrohung besonders deshalb empörendend ist, da man doch als "Ökoenergiedorf" der staatlich verordneten Energiewende quasi schon weit voraus sei...

Könnten Flüsse reden und davon erzählen, was von Beschwichtigungen und Zusagen der jeweiligen Obrigkeiten zu halten ist, stürbe die Hoffnung zuerst...



An der Ruinen einer Neiße-Brücke in Forst erinnert ein hölzernes Schild an die unbekannten Menschen, die zum Ende des 2. Weltkrieges bei ihrer Flucht oder durch Vertreibung ums Leben kamen. Die Narben des Krieges sind trotz der sieben Jahrzehnte, die vergangen sind, tief. Das ist auch an einem privat aufgestellten Gedenkstein zu erkennen, dessen Text weniger ausgewogen formuliert ist.

Eine mit Bestandteilen der alten Brücke rekonstuierte Flussquerung (nur für Fußgänger und Radler, damit die Geschichte nicht im Lärm des motorisierten Alltags untergeht) könnte eine Art der Vergangenheitsaufarbeitung ermöglichen, die ohne gegenseitige Schuldzuweisungen und offenen Rechnungen auskommt, glaube ich...

 

Bad Muskau erreiche ich erst in der Abenddämmerung - für eine Runde durch den Park ist es schon zu duster. Das Vergnügen, den Park zu erleben, hatte ich jedoch bereits bei meiner Frühjahrsradelei. Zu meiner heutigen Unterkunft muss ich über einen Feldweg einen kleinen Berg westlich der Stadt hinauf - die ruhige Lage am Waldrand war eine gute Wahl und schnell bricht die Dunkelheit an. Die Fernbedienung des Fernsehers hat nur die wesentlichen Knöpfe - und deshalb funktioniert sie auch problemlos. Ich zappe durch die TV-Programme - um einmal mehr einzusehen, dass Fernsehen zu den übelste Erfindung des elektronischen Zeitalters gehört.

Meine durchschnittliche Einschaltquote je Sender bleibt unter fünf Sekunden... Ich verstehe nicht, was Menschen an Gruselgeschichten und Brutalität so sehr faszinieren kann, als dass man sich allabendlich freiwillig den grauenvollen Bildern und Tönen aussetzt, die das endlose Angebot sogenannter Actionfilme oder Thriller in die Stuben und Schlafzimmer flimmert. uNoch weniger verstehe ich, wie man mit solchen Horror im Kopf am nächsten Morgen aufstehen, seine Kinder zur Schule, sich selbst zur Arbeit fahren kann, als sei nichts gewesen - als habe man in der Nacht nicht furchtbare Schrecken aufgesogen und Ängste durchgemacht.

Ich verstehe nicht, was Menschen daran gefällt, ihre ohnehin knappe Freizeit mit dem Ansehen von Kochsendungen oder Ratespielen verbringen. Ich habe es bisweilen versucht, aber ich kann trotz aller Bemühungen teilzunehmen, nicht nachvollziehen, worin der Reiz liegen soll, noch so geschickten Sportlern zuzusehen, wie sie einem Ball hinterherlaufen. Es wäre doch viel vergnüglicher und erfrischender, dem Ball selbst hinterherzulaufen statt nur zuzusehen. Dummheit ist eine böse Eigenschaft, schrieb Montaigne: Aber sie nicht ertragen können, sich darüber aufregen und ärgern, sei eine Krankheit anderer Art, fügte er hinzu. Da ist wohl einiges dran - immer wieder erbaue ich mich an den tiefsinnigen Aphorismen Montaignes - und doch sind auch seine spöttischen Pointen im Grunde nicht mehr als verdrießliche Kommentare zur allgegenwärtigen Irrwitzigkeit seiner Zeit. Und heute? Darüber denke ich lieber nicht länger nach.





7. Etappe

Bad Muskau > Rothenburg > Görlitz > Zittau

Der erste Weg des Tages führt mich durch den Bad Muskauer Bergpark - der ist weniger bekannt als der Schlosspark, nichtsdestotrotz genauso reizvoll. Zu meiner Überraschung bemerke ich mitten im Park ein Häuschen, aus dessen Schornstein Rauch aufsteigt - was für ein herrliches Fleckchen Wohnsitz. Hinter einem Gebüsch ist ein Trabi Combi geparkt - Ostalgie? Für meine romantische Seele hätte ein Pferdegespann besser gepasst...

 

Um 10 passiere ich den mir breits bekannten Truppenübungsplatz Oberlausitz - es sind Schüsse zu hören, aber nicht so laut wie bei meiner Frühlingsrunde, als neben krachender Artillerie Hubschrauber kreisten und Panzermotoren dröhnten. Für den ansonsten idyllisch in Werdeck gelegenen Imbiss namens Kasemannel Alm ist die Saison vermutlich vorbei - zumindest erwartet an einem Dienstagvormittag Mitte Oktober niemand radelnde Kundschaft.



Der schönste Blickfang des Dörfchens Podrosche ist die kleine Kirche am Rande eines Feldes - für Zigarettenraucher ist aber gewiss die kleine Brücke nach Polen interessanter. Durch die Brücke bekommt das beschauliche, von gerade einmal um die 50 Einwohnern bewohnte Dorf den Charakter einer Transitstrecke, was mir den ersten Charme etwas verblassen lässt.

 

Beim Steinbach zweigt der sogenannte Wolfsradweg ab - ein Thematischer Rad- und Wandwerweg, der westwärts über Boxberg nach Nochten führt und mittels Infotafeln die Wiederkehr des Wolfs beschönigt. Auf der hiesigen Infotafel blicke ich in die unschuldigen Äuglein eines Wolfes, der keinem Schäfchen etwas zu Leide tun könnte... Die Realität sieht allerdings etwas anders aus. Erst vor einer Woche riss ein Wolfsrudel unweit von hier, über 40 Schafe und Ziegen.

Die dünnbesiedelte (teils durch den Braunkohlebergbau unbewohnbar gemachte) Landschaft bot den von Natur aus menschenscheuen Wölfen, die in den letzten 10 Jahren aus den waldreicheren Tiefen Schlesiens und des Riesengebirges einwanderten, akzeptable Lebensräume. Die fragwürdige Willkommenskultur einiger Tierschützer gewöhnt den Wolf an die Gegenwart des Menschen - durch Füttern verliert das Raubtier seine Angst vor dem Menschen weiter, nicht aber seinen Jagdinstinkt. Obgleich der (erwachsene) Mensch nicht zum Beuteschema des Wolfs gehört, ist die Begegnung mit dem Raubtier um so gefährlicher, je mehr es an Menschen gewöhnt ist - die wohlfeilen Tipps der Wolfsfreunde, man möge sich im Falle einer Begegnung "groß machen", um dem Wolf sozusagen zu imponieren, ist für Kinder eine ziemlich vermessene Ansage.

Ich habe meine Zweifel, ob die Vorsitzende des Vereins Wolfsschutz Deutschland jemals allein in Lausitzer Wäldern unterwegs war... Wenn sie lediglich bedauert, dass eine Kindertagesstätte in Uhsmannsdorf bei Görlitz den angebotenen "Ersatz für die beiden Ziegen Lolek und Bolek"* ablehnt, die ein Wolf unlängst dort gerissen hat, und betont, dass ein "wolfssicherer" Zaun es auch getan hätte, zweifle ich - gelinde gesagt - auch am Realitätssinn der obersten Wolfsschützerin der Republik. Mir jedenfalls macht die Tatsache, dass angeblich menschenscheue Wölfe vereinzelt in ländliche Kindergärten vordringen, einiges Unbehagen. Um wieviel wahrscheinlicher ist es, dass die Begegnung auf einem der herrlich einsamen Radwege in Lausitzer Wäldern stattfindet?! Ich bin kein ängstlicher Mensch, aber im Laufe der Jahre doch ziemlich vorsichtig geworden - ich beobachte das Gehölz mit argwöhnischer Aufmerksamkeit - ich achte die Natur und die Gesetze des Waldes, ich respektiere Fuchs und Luchs und Wolf, aber ich lade sie nicht zu mir nachhause ein. Ich bin bestrebt, den Wald vor Einbruch der Dunkelheit verlassen zu haben - Mitte Oktober ist das schon lange vor dem Sandmännchen...



 

Die Neiße-Schleife bei einem Dorf, das auf den Namen Ungunst hört, habe ich bereits in drei Jahreszeiten fotografiert - mir fehlt nur noch eine Winterreise.

Die am Radweg aufgestellten Grenzpfähle dienen als Klebeflächen für Botschaften. Ein Aufkleber fordert mit aller Entschiedenheit: Rechtsterrorismus und rassistische Hetze stoppen! - Jemand lässt auf den abgerissenen Resten eines Klebers gleicher Herkunft dien Rest der Welt wissen, dass man die geliebte Anna vermisst. Andere Autoren stellen Fragen, an denen früher oder später niemand vorbeikommt: Wieviel Wahrheit verträgst du? Wie hart kann man dir kommen?

 

 

Fragen ganz anderer Art wirft der schwarze Qualm am Horizont auf. Als ich näher komme, ist zu erkennen, dass der Rauch am polnischen Ufer aufsteigt - es sieht nach dem Verbrennen alter Reifen aus. Ein Rennterpärchen kommt mir entgegen, der Mann kommentiert den Umweltfrevel mit dem Satz: Das haben wir früher auch gern gemacht. - Wen meinen Sie mit "wir", frage ich zurück. Na, in der Walpurgisnacht sei das eben so Brauch gewesen...

Auf dem Marktplatz von Rothenburg sah es nach einem sonnigen Mittagessen im Garten des Ratskellers aus, doch das Personal hat alle Hände voll zu tun - ich gebe auf, dann löst sich die Schlange auf, also noch ein Versuch. Es könne aber ein Weilchen dauern... Ein Weilchen? Nein, das tue ich mir nicht an - ich fahre zur Kantine des Martinshofes, wo ich vor drei Jahren bei einer spätsommerlichen Frosch-Radweg-Runde Quartier fand. Hier geht es zügig vorwärts, aber nach mir kommt eine große Gruppe junger Leute und bildet eine lange Schlange - Glück gehabt.

 


Kurz vor Zentendorf, dem östlichsten Dorf Deutschlands, sind die Baumhäuser und Holzskulpturen der Kulturinsel Einsiedel nicht zu übersehen - den größten Abenteuerspielplatz der Republik besuchte ich vor etwa zehn Jahren.


 

Auch in Görlitz bin ich nicht zum ersten Mal. Ein Teil der nach Krieg und 40 Jahren Sozialismus verfallenen Fassaden verdankt seine Restaurierung den entbehrlichen Millionen eines anonymen Spenders, so war es vor etlichen Jahren zu lesen. Doch dann schlug noch ein Hochwasser Von der Altstadtbrücke mache ich ein Foto Richtung Peterskirche, ansonsten verlasse ich die Stadt ohne Zwischenstopps, denn bin zu meinem Quartier bei Zittau habe ich noch 40 Kilometer vor mir.

Beim Dörfchen Leuba zieht ein ausgeflippter Richtungsweiser die Aufmerksamkeit des Radlers auf sich - die Entfernungen zu näheren Ausfluszielen sind angegeben, aber ebenso zu fernen europäischen Hauptstädten - vermutlich in Luftlinie. Bis zum Teutonengrill auf Mallorca sind es demnach 1592 Kilometer... Während das Radlervolk noch darüber sinniert, wie viele Tage man bis zum Ballermann-Strand unterwegs sein würde, hat einen gewiss schon der Eiskiosk auf der gegenüberliegenden Seite des Radweges im Griff. Bei mir funktioniert der Trick jedoch nicht, allerdings nur aus einem einfachen Grund - es ist geschlossen.

 


 



Bei Ostritz verschnaufe ich kurz im Hof des Klosters St. Marienthal - es ist mein dritter Besuch der seit dem 13. Jahrhundert bestehenden Zisterzienserinnen-Abtei. Als ich vor vier Jahren als Reiseleiter für meinen belgischen Musikfreund Herman agierte, fotografierten wir jeden Winkel der barocken Gemäuer - dabei entstanden auch einige katholisch korrekte Schnappschüsse. Beim verheerenden Hochwasser des Jahres 2010 wurde das gesamte Klosterareal meterhoch überflutet - die Hochwassermarke an einem Haus beeindruckt mich erneut. Normalerweise plätschert die Neiße im Bogen um das Anwesen - der romantische Pilgerweg am Ausgang des Kloster inspirierte mich damals dazu, einmal bis zur Quelle der Neiße im böhmischen Isergebirge zu radeln...

Als ich Zittau erreiche, wird es schon duster - für eine Runde durch die alte Stadt ist es zu spät, meine heutige Pension liegt noch etwas südlicher der Stadt, am Olbersdorfer See. Nachdem bei mir alles in trockenen Tüchern ist, verlangt noch die von 110 Kilometern Fahrt ausgelaugte Zunge ihre Etappenprämie. Ich bin schon seit längerem ein aktiver Unterstützer der hiesigen Biermarke - dass es Landskron auch als Hefe und vom Fass gibt, ist mir neu. Derweil ist der Mond aufgegangen, nur die gold'nen Sternlein prangen noch nicht.

 


Ich bin der einzige Gast auf der Terasse des Hotels, aber drinnen ist auch nicht viel mehr los. Während ich meine Neiße-Radweg-Karte studiere und von der Wetter-App ein sonniges Morgen und Übermorgen angezeigt bekomme, reift der Gedanke, die Inspiration von vor vier Jahren zu vollenden - die Quelle der Neiße ist ja nur noch einen halben Tagesritt entfernt... Sollte mein Zimmer für die nächste Nacht noch vakant sein, wäre das ein Zeichen. Ich frage nach und die Antwort der Rezeption ist positiv - die spontane Verlängerung meiner Herbsttour ist damit beschlossen.





8. Etappe

Zittau > Nova Ves (Neißequelle) > Zittau



Meine Tour zur Neiße-Quelle führt mich durchs Dreiländereck - zuerst quere ich die polnische, dann die tschechische Grenze. In der Ferne ist der mit über tausend Metern höchste Gipfel des Jeschken-Kosakow-Kamms erkennbar - markant ragt auf dem Jeschken der in den 1960ern erbaute Funkturm in den Himmel. Die von internationalen Architektenkollegen als "rotierender Hyperboloid" umschwärmte Konstruktion mit dem konischen Sockel dürfte, nachdem sie in Dienst gestellt wurde, gewiss nicht nur touristischen Belangen gedient haben - es würde mich wundern, wenn der Betriebsleiter des "mit Fernmeldetechnik vollgestopften"* Turmes kein Offizier der tschechischen Volksarmee war...


Bei Liberec nad Nisou (Reichenberg an der Neiße) führt mich die himmlische Reiseleiterin dankbarerweise nicht an der Lausitzer Neiße entlang, welche sich an stark befahrenen Straßen südlich um die Stadt windet, sondern mitten durch die sehenswerte Altstadt. Dadurch gelange ich in der größten Stadt Nordböhmens an den Harzdorfer Bach (Harcovský potok), einer der zahlreichen Neiße-Zuflüsse.

 


Frau Komoot ist wahrscheinlich an einer Abkürzung nach Jablonce nad Nisou (Gablonz an der Neiße) gelegen. Das ist durchaus sinnvoll, denn meiner Faltmappe zufolge wäre der Radweg entlang der Lausizer Neiße hin wie her um je 10 Kilometer länger, wenigstens - angesichts der kurzen Oktobertage keine sinnvolle Alternative. Die Stadt, die ihren tschechischen Namen einem Apfelbaum (Jablonec) verdankt, wurde von der Geschichte immer wieder schwer gebeutelt - mehrfach niedergebrannt, nach dem 30-jährigen Krieg wurden protestantische Bewohner vertrieben, während Hitlers Heimholung ins Dritte Reich wurden Juden und Tschechen vertrieben, nach dem 2. Weltkrieg die Sudetendeutschen oder Deutschböhmen - ungezählte Tragödien.



Seit den 1970ern prägen die Plattenbauten des Realsozialismus den nördlichen Stadtteil, der einst Grünwald hieß. Grüner Wald aber ist erst oberhalb der Talsperre zu sehen, von wo der Blick hinüber zu die Betonghettos der Stadt fällt. Das steil ansteigende Isergebirge hindert eine weitere Urbansierung und somit Verschandelung der Landschaft. Der Waldweg, auf den mich Frau Komoot schickt, ist steil, das Hinterrad dreht auf dem steinigen Untergurnd durch - am Berg muss ich pausieren, um den GoSwissDrive nicht übermäßig zu strapazieren, er hat gerade die rote Lampe gezeigt. Noch ein Stück und ich befinde mich an der höchsten Stelle meiner heutigen Tour - bei etwa 630 Meter über Meeresspiegel.

In Nova Ves (Neudorf) finde ich zunächst keinen Hinweis auf die Neiße-Quelle. An einer Infotafel erfahre ich, dass ich der Hauptstraße noch ein Stück bergan folgen muss, bis es in eine dicht von Wald umgebene Nebenstraße geht. Dort geht es eine kurze Holztreppe hinab. Auf einem vermosten Findling ist eine Platte mit der Gravur NEISSEQUELLE befestigt.

 


Die Rückfahrt wandle ich ein wenig ab, einerseits um an dem abgelegen Haus auf dem Berg nicht nochmals ein Rendevouz mit dem frei umher laufenden Schäferhund zu haben, dem mein dreirädriges Gefährt äußerst zu missfallen schien, und anderseits um auf der Asphaltstraße talwärts zu rollen. Die Gablonzer Talsperre erreiche ich daher von einer anderen Seite als bei der Hinfahrt. Dann rolle ich im Wesentlichen auf der gleichen Strecke nach Zittau zurück.


 

Im Dörfchen Bílý Kostel nad Nisou ist der erste Blickfang die Kirche des Heiligen Nikolaus (Kostel sv. Mikuláše). Die an den Tischen eines kleinen Biergartens sitzenden deutschen Radler scheinen aus der Zittauer Umgebung zu stammen, jedenfalls rollte hier nicht nur das Rad, sondern auch Oberlausitzer "R".

Bei Einbruch der Dämmerung bin ich wieder am Olbersdorfer See. Ein paar minderjährige Jungen zünden sich Zigaretten an, gleichaltrige Mädchenstimmen albern herum, ein Mann joggt den asphaltierten Weg entlang, ein anderer Mann spaziert umher und singt ein Lied in einer orientalisch klingenden Sprache.

 



Nicht der Tod, sondern das Sterben beunruhigt mich

Zurück in meiner Pension erhalte ich einen Anruf von einem Freund aus Jugendjahren, der Anlass ist - bereits das dritte Mal in diesem Jahr - ein trauriger. Denn wieder hat einer unserer alten Freunde das Zeitliche gesegnet. Einige Freunde und Bekannte, jünger als ich, haben den letzten Weg schon hinter sich. Diesmal kam der Tod beim abendlichen Joggen auf dem Waldweg... Niemand war dabei - niemand weiß, wie es war. Nicht der Tod, sondern das Sterben beunruhigt mich, schrieb Montaigne: Philosophieren ist sterben lernen...





9. Etappe

Zittau > Mandautal > Khaatal > Kirnitschtal > Dresden

Meine Heimfahrt beginnt an einem Bach, dessen Namen ich das erste Mal lese - ich war noch nie in dieser Gegend. Nur ein kleines Stück begleite ich ihn, gleich hinter dem Westpark von Zittau biegt er norwestwärts ab. Ich aber radle gerade aus - am Ortsausgang des Dörfchens Hörnitz erheitert mich ein Schild mit der Aufschrift: Auf ein Wiedersehen im "Schönsten Dorf" des Freistaates Sachsen"... Habe ich was verpasst? Das ist natürlich möglich, denn ich passiere das Dorf nur am nördlichen Rand. Ich pedaliere schon ein Weilchen an der Steigung eines Berges und will nicht umkehren. Wheels are made for rolling - Räder sind zum Rollen gemacht, weiter geht's!




An einem alten Meilenstein aus königlichen Zeiten kann der Blick ins weite Mandautal ausschweifen - eine Frau, die ihren Hund ausführt, sitzt auf einer Bank und raucht, genießt den Morgen und die Weite des Ausblicks. 0,4 Meilen bis Großschönau steht auf dem Meilenstein. Hat jemals jemand die Ortschaften gezählt, die das namensstiftende Wort "schön" enthalten? Habe ich nicht gerade erst das "Schönste Dorf" Sachsens hinter rmir gelassen? Sollte ich da jetzt schon wieder ein Dorf erreichen, dessen Schönheit "ausgezeichnet" ist? Macht wahre Schönheit Worte um sich? Und ist sie letztlich, wie eine Cowboy-Weisheit sagt, nicht doch genauso flüchtig wie der Rauch im Wind?

Nach der steilen Abfahrt vom Breiteberg bremse ich in ein wahrlich schönes Tal hinein, in dem sich Großschönau an die Ufer der Mandau schmiegt, der ich hier wieder begegne. Die gepflegten Umgebindehäuser und für ein Dorf ungewöhnlichen vielen Villen sind eine Augenweide für jeden romantischen Geist. Stünde nicht die eine oder andere moderne Blechkarosse in den Straßen, könnte man sich wie auf einer Zeitreise in ein Dorf des frühen 19. Jahrhunderts fühlen.


 

Wer um den Charme des Morbiden weiß, kann gleich am Ortseingang von Großschönau ins Schwärmen kommen. Hinter Baum und Strauch leuchtet das Fachwerk eines alten Hauses durchs Laub - der Dachstuhl ist eingebrochen, den Rest besorgen mit der Zeit Regen, Schnee und Wind. Doch solcher Verfall ist in Großschönau eher die Ausnahme.





Das goldene Zeitalter Großschönaus begann mit der zum Ende des 17. Jahrhunderts aufblühenden Damastweberei. Die über Jahrhunderte gewachsene Tradition der Textilherstellung überlebte teilweise sogar die sozialistische Planwirtschaft wie die kapitalistische "Abwicklung". Ich bin überrascht, in einer der östlichsten Ecken Deutschlands ein so liebevoll aufgeräumtes Dorf vorzufinden.

Als ich versehentlich in eine Sackgasse gerate, entdecke ich einen Fahrradladen - auch das ist ungewöhnlich für ein Dorf in einem so abgelegenen Winkel. Gleich nach der Grenze, im tschechischen Varnsdorf, ist die ländliche Idylle dahin. Hier prägt das Grau sozialistischer Beton-Jahrzehnte die Straßen - Augen zu und durch! Dann wird es auch noch steil - auf wenigen Kilometern geht es auf 500 Meter ü.M. hinauf.

Vom Bergdorf Studánka rollt es sich über Krásná Lípa (Schönlinde) ins romantische Khaatal. Es ist um 11, leider ist der Biergarten in Kyjov noch geschlossen - das traditionellste böhmische Nationalgericht, Gulasch mit Knödeln, bleibt mir somit verwehrt. Der asphaltierte, kurvenreiche Waldweg in den Schluchten der Křinice führt zurück über die Grenze nach Sachsen.

 




Dann heißt es noch einmal kräftig Pedale drücken - nach Hinterhermsdorf hinauf ist ein letzter Stich, bevor sich die Straße durchs 20 Kilometer lange Kirnitzschtal nach Bad Schandau windet. Die Buschmühle hat, wie so oft, wenn ich hier vorbei komme, Ruhetag. Auch die anderen Gasthäuser im beliebten Wandergebiet nutzen die Ruhe vor dem Wochenendsturm. In Bad Schandau quere ich die Elbe.



Man kann schon hundertmal an den Felswänden von Rathen vorbeigeradelt sein, man schaut immer wieder hin und sucht den Blick zur berühmten Bastei-Brücke, wo ein Pionier der Landschaftsfotografie mit dem in Fels gravierten Satz "Hermann Krone hic primus luce pinxit" verehrt wurde. Damals, anno 1853, als Krone hier als Erster mit Licht malte, war jedes einzelne Foto eine Herausforderung - die sperrige Fotoausrüstung muss damals einen Zentner oder mehr gewogen haben, sich ständig verändernde Lichtverhältnisse mussten präzise eingeschätzt werden. Und die als Datenräger benutzten Silberplatten waren kospielige Unikate.


Um wieder heimzukommen

Letzter Boxenstopp an der Bretterbude bei der Fähre zu Pillnitz. Wie verabredet treffe ich hier einen meiner Radlerfreunde - es gibt einiges zu erzählen. Doch die Abende sind kühl geworden und der goldenste Herbst ist bei all seinem herrlichen Glanz auch der untrügliche Vorbote des Winters.




 

Mit etwas Glück

Gleich bin ich wieder im Warmen, bei meinen Ukulelen und Mundharmonikas - in meinen vier Wänden, wo das Bett steht, in dem ich die Träume träume, die - mit etwas Glück - niemals wahr werden.


Unterwegs mit der Ukulele

alles-uke.de