Warten auf den Sommer

- mein irisches Fahrtenbuch -




Ein Mensch, der kein Tagebuch hat,
ist einem Tagebuch gegenüber in einer falschen Position.



Ich begebe mich auf die größte, auf die weiteste Erfahrung meiner bisherigen Lebensreise - ich will mit dem Rad durch Irland fahren. Würde ich meine Erfahrungen nicht wenigstens für mich selbst aufschreiben, wäre die gesamte Erfahrung in einer falschen Position zu mir, in einer falschen Position zu meinem Leben - zu was auch immer... Ich kann Franz Kafkas seltsamen Satz drehen und wenden und deuten, wie ich will, er wird dadurch nicht weniger kafkaesk...

Eines ist mir klar: Bei einer so großen Fahrt kann es nicht schaden, wenn ich mir ein paar Notizen mache. Viel zu schnell vergisst man die Namen all der kleinen Orte, die da am Wege liegen. Nicht an alle muss man sich erinnern. Aber die Möglichkeit zu verschenken, ein bestimmtes Erlebnis mit einem bestimmten Namen zu verknüpfen, heißt auch das Erlebnis zu vergessen. Ohne ihre Namen verlieren sich auch die Menschen, denen man begegnet. Mit manchen hat man mehr gemeinsam, als man beim ersten Gegenüber vermutet - und sei es der Wunsch, den Alltag hinter sich zu lassen, oder ein Verlangen, hinaus ins Blaue zu fahren. Wenn es um die Sehnsucht nach der Ferne geht, ist es egal, ob man selbst fährt oder dem Fahrenden hinterherblickt. Man kann sich mit jeder Meile seinem Ziel nähern, aber die Ferne wird man niemals erreichen.

Ich will fotografieren - klar, wer nicht? Das Zeitalter des unentwegten Knipsens feiert sich selbst. Diese irischen Märchenbuchlandschaften, dieses immer anders schimmernde Grün! Ein Foto kann flüchtige Eindrücke zurück ans Licht bringen - aus dem Innern erinnern. Aber ich will auch Klänge aufnehmen, Melodien, Lieder - Musik dient in der modernen Welt meist zum Tanzen... Nichts gegen das Tanzen! Aber wer denkt bei Liedern an ein Medium zur Speicherung von Ideen? Ich will die traditionelle irische Musik, die ich vor 20 Jahren in Pepper's Bar in Feakle, County Clare, kennenlernte, wieder hören und nach Möglichkeit so aufnehmen, wie sie in einigen Pubs hoffentlich noch immer gespielt wird. Ich möchte wenigstens eins dieser schaurig schönen Lieder mitnehmen, die mich schon damals so sehr fesselten, und ein paar Melodien, die nicht jeder Spatz von den irischen Dächern pfeift. Der musikethnographische Schatzucher in mir will - auch wenn auf dem Gebiet nicht mehr viel Neues zu holen sein wird - einfach mal wieder etwas Feldforschung spielen.

Ich habe vor, die ganze Insel zu umkreisen. Der Weg sei das Ziel, sprach der alte Konfuzius - oder auch jemand ganz anderes. Hinz und Kunz kennen die gute Idee: der Weg als Ziel. Den Weg spontan ändern können ist der eigentliche Kern der Weisheit. Den Weg zum Ziel zu erklären, hieße aber: jederzeit und an jeder Stelle aufgeben wollen, der Bequemlichkeit nachgeben, letztlich gar kein Ziel zu verfolgen... Will ich das? "Was wir Weg nennen, ist Zögern," schrieb der weise Kafka in seinen Betrachtungen über Sünde, Leid, Hoffnung und den wahren Weg. - Aber ich will nicht länger zögern! Der Weg ist Mittel zum Zweck und wenn der Weg schön ist, um so besser. Mein Ziel ist das Ziel. Mein Ziel besteht aus vier Zwischenzielen - ich will ganz in den Süden der grünen Insel, in den westlichsten Westen, zum Nordkap Irlands und ganz in den Osten.

Sieben Wochen habe ich Zeit - das ist der Rahmen, der äußere Rand des Rahmens, das absolute Limit. Das sind halt die Sommerferien eines Ukulele-Lehrers - plus eine Woche selbst erfundene Überstunden abfeiern... Doch es ist nicht mein Ding, heimzukehren und, kaum dass die Klamotten in der Waschmaschine sind, ans Telefon gehen und Termine besprechen. Also plane ich gerne so, dass ich mein Vorhaben in sechs Wochen schaffen kann - auch für die Eventualitäten, die nicht in meiner Macht liegen - ich sage nur: streikende deutsche Lokführer, die das gesamte Land lahmlegen, streikende französische Fährleute, Verlust eigener Mobilität durch sonstige Zwischenfälle. Ich brauche ein paar Tage zum Ankommen - eine Pufferzone zwischen Ferien und Arbeit.

Ich bin nicht das erste Mal in Irland - vor 20 Jahren hatte ich das Vergnügen, zwei Wochen in einem Häuschen bei Mountshannon am Lough Dergh verweilen zu können, ein musikalisches Kleinod kennenzulernen - Pepper's Bar in Feakle, County Clare, mir ein Bodhrán in Connemara zu kaufen, das Trommeln traditioneller Jigs und Reels zu lernen. Nur fünf Jahre später kam ich wieder auf die Insel, hauptsächlich in den Westen, County Kerry. Ehrlich gesagt war ich damals sogar mit dem Gedanken dort, meine vieljährige Wahlheimat Berlin, die mich mit ihrem vielseitigen musikalischen Nachtleben zwar sehr inspirierte, mir aber zunehmend zu laut und zu eng wurde, hinter mir zu lassen - und einen ruhigeren Hafen für die zweite Lebenshälfte zu finden... Mein erneuter, mein dritter Anlauf nach Irland ist nicht das Ergebnis eines Wohin-in-diesem-Sommer-Würfelns - es ist also mehr: es ist ein Ruf, dem ich nun endlich folge..

Diesmal will ich die Insel nicht als lärmender Automobilist erleben, als einer, der die riesigen Fuchsien gar nicht wahrnehmen kann, die an so vielen Straßenrändern wild wuchern. Sondern aus der Perspektive des leise dahin surrenden Radfahrers, als einer, der die Langsamkeit des Wanderers kennt, als einer, der sein schweres Gefährt den Berg hinaufschiebt, als Pilger, dem Wind und Wetter ins Gesicht blasen. Ich mache mir nichts vor, diese asketische Form der Fortbewegung ist auch auf irischen Landstraßen in nostalgische Sphären gerückt - aber es bleibt die gründlichste Art und Weise, Land und Leute zu erfahren. Das Radeln zwingt mich zum Hinsehen - und Hinhören... Zum Grüßen ebenso - zum Anhalten, zum Nach-dem-Weg-Fragen, zum Antworten, zum Ausruhen, zum Innehalten - zur Aufmerksamkeit.

Jede Reise beginnt zuhause - und da sollte sie auch enden. Bisher hat das geklappt - und so soll es auch bei dieser etwas größeren Tour sein. Ich packe Werkzeug und Ersatzteile - gut zwei Kilo allein für den Fall diverser Pannen! Ich wäge ab und wiege hin und her, packe ein und aus, aber nein: der kleine Fieldrecorder muss mit! Ich verstaue meine Ukulule in einem gepolsterten Täschlein und umhülle mein Baby mit einem weiteren vor Staub und Nässe schützenden überzug, schiebe es in die Außentasche eines kleinen Rucksacks - und umhülle auch den Rucksack samt Ukulele mit einem Regenschutz, schnalle das Ganze auf den Gepäckträger und zurre es mit elastischen Gurten fest. Ich bin startklar.




> Berlin > Köln

3. Juli
Auf geht's! Im Nachtzug von Dresden nach Köln bin ich bis Berlin ganz allein im reservierten Liegeabteil. In den offenen Waggons haben sich junge Männer über die Sitzbänke gelegt - es müffelt... So wie es halt müffelt unter Leuten, die einige Tage lang keine Kleidung gewechselt haben. Unschwer zu erkennen: Es handelt sich um Migranten, manche mögen vom Balkan kommen - aus Albanien und Kosovo. Die meisten wohl aus Nahost oder auch von ferner. Wo wollen die alle hin? Nach Berlin? Nach Schweden? Nach England? Durch den Kanal-Tunnel versuchen schon seit Monaten viele Afrikaner ins verlockende Reich der Queen zu kommen - das konnte ich erst vor einigen Tagen im Internet lernen. Nur wenigen gelingt es, nicht dabei erwischt zu werden, wie sie sich in den Containern der Laster verstecken. Manche versuchen sich auf den Achsen der Laster einzuklemmen, um es auf diese Art hinüber ins gelobte Land zu schaffen - waghalsig, absolut verrückt.

Es ist eine warme Sommernacht, wohl die bisher wärmste dieses Sommers. In Berlin steppt der Bär - Straßen und Bahnhöfe voller Menschen. Im Hauptbahnhof füllt sich mein Abteil - lauter junge Leute, ein Mexikaner mit Weib, ein Deutscher mit Weib - und eine Single-Tussi. Ich helfe ihr, ihre Liege einzurichten, dann macht sie es sich auf der Sitzbank, die gleichzeitig mein Liegeplatz ist, bequem. Ich muss ihr sagen, dass sie die Schuhe von meinem Bett nehmen soll - von da an ist sie etwas pickiert, vertieft sich in ihr Smartphone, macht Selfies und verschickt sie wohl gleich - per Twitter, Facebook, Whats App, Instagram, was auch immer. Sie ist allein unterwegs, aber "sozial vernetzt" - in den feinen Weben des Webs.

Beim Blick ins Display wird ihr hübsches Gesicht beleuchtet - sie schmunzelt, wenn sie Antworten bekommt. Dann legt sie sich Kopfhörer an und klettert auf ihre Liege hinauf. Nun kann auch ich mich lang machen. Später in der Nacht muss ich feststellen, dass junge Leute nicht weniger und nicht leiser als alte schnarchen. Dank der surrenden Fahrgeräusche geht es etwas unter - länger als ein Stündlein kann ich dennoch nicht schlafen. Um halb vier wird es ja schon wieder hell, um sechs muss ich aussteigen - ich bin viel zu aufgewühlt, um noch mal einnicken zu können.


> Leuven > Brüssel


4. Juli
Obgleich Samstag ist, herrscht auf dem Kölner Hauptbahnhof, insbesondere auf den Bahnsteigen des regionalen Nahverkehrs, schon in früher Morgenstunde die Geschäftigkeit eines Werktages. Richtung Aachen gibt es Schienenersatzverkehr und der ist besser organisiert, als es die Schalterbeamten wissen. Auf dem Bahnhof von Welkenraedt in Belgien zickt die Schaffnerin des Zuges nach Liege - sie zickt auf französisch, keiner der Radler, an die sie sich richtet, versteht genau, was sie will. Erst als sie ein paar Englisch-Vokabeln benutzt, quasi frenglisch spricht, wird klar, dass sie wegen der Seitentaschen und Anbauten an Fahrrädern nervt: Alles muss runter, alles muss ab! Vielleicht ist das auch der Grund, weshalb der Zug schon bei der Einfahrt 10 Minuten Verspätung hat. Wozu der Stress? Dienst nach Vorschrift? Es ist doch genug Platz für alle. Jedes Volk hat seine Vorschriftshüter und Befehlsvollzieher.

Ein Schotte muss zusätzlich einen Anhänger in den Wagen bugsieren. Ich kann ihn nur schwer verstehen, zum einen weil mir ein paar radtechnische Begriffe nicht geläufig sind, zum anderen wegen des schottischen Zungenschlags. Dann kapiere ich, dass er eine Panne am Rad hat, die ihn an der Weiterreise hindert. Sein Weib ist asiatischer Herkunft, sehr eloquent, nur ihr Englisch kann ich kaum verstehen das liegt wohl der exotischen Mischung aus asiatischem und schottischem Akzent. Aus Höflichkeit nicke ich gelegentlich. Den reinrassigen Highlander verstehe ich inzwischen besser. Er schwärmt von den äußeren Hebriden. Da ich über den walisischen Westen Großbritanniens nach Irland übersetzen will, habe ich eine kleine Karte von meiner "Back Roads Great Britain"-Tour dabei, die mir bereits vor vier gute Dienste erwies. Mit dieser Karte kann er mir weitere sehenswerten Orte seiner Heimat erläutern - einige davon kenn ich bereits.

In Leuven steige ich aus und radle nach Sterrebeeck, wo ein belgischer Musikfreund mit seiner Frau wohnt. Bei brütender Hitze, um die 40°, ziehen sich die 15 Kilometer über die Dörfer in die Länge. Ein, zwei Ortschaften vor meinem Ziel verschnaufe ich bei einem letzten Schluck Wasser. Ein aufmerksamer Anwohner grüßt mich, bietet mir an, meine Wasserflasche nachzufüllen. Er fragt nach meinem Reiseplan. Dass ich ohne Begleiter on the road bin, interessiert ihn besonders. Ich zähle ihm einige Gründe und Vorzüge auf, besonders wichtig ist aber: to think clear. Das verstehe er gut - und so erwähnt er seine Bergwanderungen, die er auch immer allein mache. Er lädt mich ein, in sein Haus zu kommen. Aber ich kann die Einladung nicht annehmen, ich habe schon einige Verspätung, Herman und Lentje erwarten mich zum Lunch.

Erste Etappe geschafft. Das süße Bier, das Herman mir anbietet, schmeckt, selbst nachdem ich es zur Hälfte mit Wasser gestreckt habe, noch süß wie Limonade - köstlich, aber unverdünnt muss das eine ungeheuerliche Zuckerbombe sein. Die brauerische Experimentierfreude jenseits des deutschen Reinheitsgebotes treibt seltsame Blüten. Nach einer erfrischenden Dusche geht es am frühen Abend erneut nach Leuven, diesmal mit dem Auto. Wir spazieren durch den großen mittelalterlichen Beginenhof, der seit 1968 als Campus der Universitätsstadt dient: alte Backsteingebäude, verwinkelte Gassen, einziges erlaubtes Transportmittel ist das Fahrrad - in den Semesterferien ist es beschaulich hier, zwei Studentinnen liegen auf dem Rasen, man kann sich vorstellen, was hier während der Semester los ist. Herman schwärmt von seinen Studierzeiten, als die Universitätsstadt auch eine Hippie-Zentrale war.

Im historischen Stadtzentrum, zwischen der Universitätsbibliothek und dem imposanten Rathaus, reiht sich ein Straßencafé ans nächste und die Gastronomen können über Kundschaft nicht klagen. Das lebhafte Gewühl der Stadt ist mir zu viel und nach der vornächtlichen Bahnfahrt brauche ich heute ohnehin keine Disco – wir kehren bald ins ruhige Sterrebeek zurück.


5. Juli
Wir besuchen die Abtei-Ruinen von Villers-la-Vill, gut 30 km südlich von Brüssel. Das kostenpflichtige Areal scheint generell den Ruf zu haben, sich besonders fürs Picknicken unter mehr oder weniger freiem Himmel zu eignen: Besucher führen Picknickkörbe mit sich und platzieren sich an verschiedenen Orten. Wir picknicken unter den hohen Gewölberesten des einstigen Kirchenschiffs. Dort musizieren wir dann auch, angemessen leise, die Saiten von Ukulele und Braguinha zupfend, wozu ich improvisatorische Melodien pfeife. Passanten halten inne, unsere spontane Einlage scheint zu gefallen. Am Abends nochmals nach Leuven. Herman schwärmt wieder von seinen Studierjahren - an jeder Ecke kann seine Erinnerungen einfädeln, Begegnungen mit Musikern, teils berühmt gewordene Kollegen wie die legendären Dubliners, deren allnächtliche Saufgelage den einen oder anderen vorzeitig dahinraffen ließen. Dierauchigen Stimmen waren nicht von Natur aus so rauchig, sagt Herman.


> Brüssel > Dover > London > Swansea

6. Juli
Schreck in der Morgenstunde: wenig Luft auf dem Hinterrad. Ich pumpe das Nötigste auf und versuche bis zur nächsten Tankstelle zu kommen. Doch der dortige Kompressor funktioniert nicht, dadurch habe ich noch weniger Luft auf dem Rad als zuvor. Erneut muss ich mit der Hand pumpen, pumpen, pumpen. Das hält auf. Ohne die Panne hätte ich einen Zug eher geschafft.

In Brüssel steigen viele Pendler zu. Endstation an der Atlantikküste ist - passend zum technischen Zwischenfall - ein Ort namens De Panne, von dort muss ich bis Dunkerque in Frankreich radeln, knapp 20 km. Doch die Fähre geht nicht vom Stadthafen - niemand weiß etwas von der Fähre, die Einwohner schicken mich nach Calais. Das aber ist an die 50 Kilometer weiter – etwa drei Stunden mit dem Rad. Herman hatte mir Rückenwind versprochen, das Gegenteil trifft zu. Tatsächlich findet sich der Fährhafen bereits nach 15 Kilometern - etwas verwirrend: ein so weit von Dunkerque entfernten Hafen ist dennoch nach der Stadt benannt.

In der Hafenzufahrt ziehe ich an der langen Schlange der wartenden Wohnmobile, LKW und PKW vorbei. Unter letzteren zahlreiche Anhänger einer seltsamen Clique, die ihre 80er-Jahre-Karossen mit allerlei Pappmasche-Kitsch auf Dächern und Motorhauben ausstaffiert haben. Manche hupen direkt neben mir, so dass ich immer wieder erschrecke. Und sie lassen ihre Lautsprecher plärren. Der Konvoi begibt sich vermutlich zu irgendeinem Massenspektakel, Heavy Metall-Konzert, Love Parade, sonst was. Unmengen trötender Kaputniks und Rudelexistenzen - Schwarmintelligenz auf vier Rädern. Mit großer Vorsicht – ich muss jederzeit mit aufspringenden Autotüren rechnen - komme ich an dem Konvoi vorbei. Ich schaffe es rechtzeitig zum Terminal, um ein Ticket für die bereitstehende Fähre zu bekommen.

Grenzkontrolle: die Franzosen winken mich durch – raus geht’s immer... Die Dienerin Ihrer Majestät der Queen aber studiert meinen Ausweis gründlich, findet meinen Namen exotisch. - From Poland? fragt sie. Ich enttäusche sie: From Germany. Sie beäugt mich misstrauisch. As German as Tucholsky, ergänze ich. Ihrem Blick entnehme ich: damit kann sie nichts anfangen. Mein nächster Versuch: Bukowski? - Keine Reaktion. - Charles Bukowski? Die Beamtin lugt skeptisch über ihre Lesebrille zu mir hoch, erwidert nichts, wirft noch einen Blick auf meine Ausweiskarte, reicht sie heraus und winkt mich durch. Nun ja, die gute Frau macht ihren Job, sie muss suspekte Personen aufzuspüren, das Vereinte Königreich vor illegalen Einwanderern schützen. Da muss sie auch unkonventionelle Fragen stellen dürfen - und mit unkonventionellen Antworten klarkommen.

Ich erreiche den Fährsteg im letzten Moment. Kaum bin ich an Bord, klappen die Luken zu. Da hatte ich aber Glück, dass mich die Beamtin noch rechtzeitig für genehmigungsfähig befand, ins Vereinigte Königreich einreisen zu dürfen. Die Cameron-Regierung hat offenbar keinen Bock auf Immigranten. Personen mit Migrationsgeschichte sind höchstens als Personal zum Vor-Aussortieren gut, und das gleich auf dem europäischen Festland. Mit den Abgelehnten darf sich dann Frankreich plagen - oder wer sonst noch Kapazitäten hat.

Eine Stunde später ist der Kanal überquert. In Dover will ich ein Bahnticket nach London und von da nach Swansea erwerben, doch dazu benötige ich britische Pfund. Wäre mir nicht eine Woche vor meine Abreise meine Kreditkarte abhanden gekommen, könnte ich nun mit selbiger bezahlen. Mit barem Euro geht hier gar nichts. Ich muss wieder in die City von Dover, eine Bank oder eine Wechselstube finden. Zurück im Bahnhof stellt mir der Beamte am Schalter etliche kleine Tickets für eine sehr knapp bemessene Verbindung aus - winzige Kärtchen, wie anno dazumal. Der Schalterangestellte, ein alter Mann, der gelassen seiner baldigen Pensionierung entgegenblicken dürfte, hat auch etwas von früher: er strahlt jene unverhohlene Selbstgefälligkeit aus, die nur Diener von Kolonialherren an den Tag legen können- eine Mischung aus Arroganz und höfischer Freundlichkeit, mit der sich die Diener des Empire in aller Welt beliebt gemacht haben.

In 5 Minuten geht der Zug - und zwar an einem Bahnsteig, den ich nur nach Benutzung von Treppen und Fahrstuhl erreichen kann. Warum erklärt er mir jetzt in aller Gelassenheit, wie sehr ich mich beeilen müsste, bevor er mir die Tickets endlich aushändigt? Warum lässt er mich so lange zappeln? Er grinst mich an - genießt wahrscheinlich in seinem stillen Schalterstübchen die Hektik, in die ich unter solchen Umständen gerate.

Ich schaffe es sprichwörtlich auf den letzten Pfiff. Der eigentliche Stress beginnt aber erst in London. Ich muss vom Bahnhof Pancras zur Paddington Station - nur zwei Kilometer voneinander entfernt. Wenn man den Weg durch die quirlige Londoner Coty kennt, wäre das in einer Viertelstunde zu schaffen. In meinem Fahrplan ist die U-Bahn vorgesehen. Doch die Wagen der Underground sind rammelvoll und das Personal auf dem Bahnsteig lässt mich auch in den nächsten Zug nicht einsteigen - das sei im Berufsverkehr generell verboten, bis 19 Uhr. Bis dahin sind zwar nur noch 10 Minuten, aber mein Zug nach Swansea in Wales fährt 19.15 von Paddington ab…

Gehört das noch zu dem Spielchen des Ticketverkäufers in Dover? Das Personal ist nicht nur unnachgiebig streng, sondern geradezu garstig. Ein zweiter Uniformierter verfolgt mich und streckt den Finger in die Richtung, in die ich mich davon machen soll. Einer der uniformierten Wichtigtuer weicht mir nicht von der Seite. Wieso haben die überhaupt so viel Personal, dass sie einen harmlosen Radfahrer schikanieren können? Die jungen Männer mit ihren neumodischen Vollbärten behandeln dich mit der ganzen Überheblichkeit des britischen Empire. In nur drei Stunden habe ich drei Lektionen britischer „Willkommenskultur“ erhalten.

Wüsste ich nicht von meiner UK-Tour vor vier Jahren, dass die meisten Untertanen Ihrer Majestät bessere Manieren haben, würde ich hier zu Pauschalisierung neigen. Draußen auf der Straße, im Tageslicht, geht es entspannter zu als im Neonlicht unter der Erde - es ist warm, aber auszuhalten, und laut, aber für einen Millionenmoloch wie London wohl eher die unterste Lärmstufe. In den verwinkelten Straßen voller Staus nach jeder zweiten Ecke Leute nach dem Weg zu fragen, das hält auf. Ich versuche es mit dem GPS meines Tablets - das muss ich aber erst hochfahren, was eine Minute dauert. Das gerät sicher in der Lenkertasche einzuklemmen, ist auch schwierig. Habe ich überhaupt eine noch eine Chance, den Anschluss in Paddington zu schaffen?

Das GPS taugt in den Straßenschluchten der Millionenstadt nur bedingt – das Tablet berechnet den Weg an jeder Ecke neu. Ich versuche es besser doch mit Durchfragen. Die Befragten sind freundlich, gelassene Hauptstadt-Bewohner. Doch wie erklärt man als Londoner einem fremden Radler den günstigsten Weg... Dann frage ich den Fahrer eines an der Ampel haltenden Kleintransporters. Das hat den Vorteil, dass er mir den Weg bis zum Umschalten auf Grün erklärt haben muss. So verliere ich nicht noch mehr Zeit. Meine Hoffnung ist inzwischen aber nur, dass der Zug nach Swansea verspätet abfährt.

Trotz aller Eile verpasse ich den Zug. Der nächste fährt in einer Stunde - keine lange Zeit, aber da komme ich erst 23.15 in Swansea an. Von dort bis zum gebuchten Quartier in Upper Temple, Grafschaft Carmartenshire, sind es 15 km durch unbekanntes Gelände - ich erinnere mich gut an walisische Berge... In der Paddington Station gibt es ein kleines Pub, ein Ale verkürzt mir die Wartezeit. Ich rufe Helen im B&B an, um meine Verspätung anzukündigen. Sie verspricht die Tür offen zu lassen. Erst wenige Minuten vor der Abfahrt wird der Bahnsteig im Sackbahnhof angezeigt. Dann muss wieder alles schnell gehen – es scheint, man will die Bahnsteige freihalten, den Durchgang erst öffnen, wenn der Zug eingefahren ist. Vielleicht lässt sich dadurch Fußgängerstau vermeiden, aber es dürfte noch andere Gründe für diese kurzfristigen Ankündigungen geben.

Der Schaffner im Zug ist freundlich, ihm gefällt mein Cruiser. Seltsam, dass der Retro-Look meines Bond Street selbst hier in London, wo das Rad eigentlich hergestellt wurde und seinen Namen erhielt, noch Aufmerksamkeit erregt. Das innere der Waggons des Zuges hat ebenso etwas von Retro - das Radabteil könnte locker aus den 30ern sein, die Haltevorrichtungen wirken sehr altertümlich. Wahrscheinlich ist der Durchgang zu den Sitzabteilen nur versehentlich geöffnet gewesen, einige der technischen Gerätschaften, die ich hier entdecke, sehen ja geradezu museumsreif aus. Ein altes Protokollbuch liegt herum, als habe es jemand vor etlichen Jahrzehnten dort liegen lassen.

In Swansea regnet es aus vollen Kannen. Richtung Llanelli geht es den Berg hinauf, die walisischen Namen haben viele Doppel-Ls, die wer weiß wie ausgesprochen werden. Nach einigen Kilometern Quälerei am Berg bin ich klatschnass. Ich fahre, nein, ich schiebe weiter. Der Regen peitscht mir ins Gesicht, das Regencape fliegt mir um die Ohren – endlich sehe ich ein, dass ich unter diesen Bedingungen keine Chance habe. Ich kehre zum Bahnhof um. Es ist nach ein Uhr, ein Angestellter kommt in den kleinen Warteraum und erklärt mir, dass der Bahnhof nun bis fünf Uhr geschlossen wird - ich könne bleiben, aber bis dahin auch nicht mehr hinaus. Das ist sehr freundlich, dass ich bleiben darf. Ein weiterer Passagier sitzt unbemerkt hinter der Ecke, wahrscheinlich eher ein Obdachloser, denn er hat kein Gepäck und sieht ziemlich verwahrlost aus. Ich breite meine Isomatte aus, ziehe mir trockene Sachen an, lege mich hin, nicke sogar kurzweilig ein. Es war ein langer, anstrengender Tag.


> Fishguard > Rosslare

7. Juli
Ab 6 Uhr belebt sich der Bahnhof, viele Pendler sind unterwegs - Dienstagmorgen. Der Ticketverkäufer empfiehlt mir, nicht den ersten Zug nach Fishguard zu nehmen, da es dort sehr öde sei. Ich muss ihm glauben, der nächste Zug geht erst um 11. Inzwischen hat es aufgehört zu regnen, ich drehe eine Runde durch die City von Swansea. Mein Interesse gilt profanen Dingen. Da mein Hinterrad weiterhin Luft verliert, suche ich einen Laden, wo ich Ventile oder und einen neuen Schlauch kaufen kann. Nach einer Weile werde ich in einem riesigen Laden, wo es alles Mögliche vom Staubsauger bis zum Autoreifen gibt, fündig. Die Stadt ist recht lebendig - schon vor vier Jahren, auf meiner Tour nach Schottland, war ich hier. Damals hatte es beim Stadtbummel geregnet und ich habe auch nicht viel mehr gesehen – in der Geburtsstadt von Dylan Thomas.

Zur Fähre in Fishguard muss ich in Llanelli umsteigen, ein winziger Dorfbahnhof mit einem einzigen Bahnsteig, aber dennoch viel Personal, das behilflich ist und Tickets kontrolliert. Die Endstation in Fishguard ist direkt mit dem Warteraum zur Fähre gekoppelt. Hier möchte man wahrlich nicht stundenlang verbringen – da kann ich dem Ticketverkäufer von Swansea nur zustimmen. Wie etwa 50 weitere Fußgänger und zwei Radler, kann ich nun direkt zur Fähre nach Irland einchecken. Hier gibt es keine Ausweiskontrollen, noch nicht… Die Flüchtlinge werden bereits an den britischen Kontrollen in Frankreich gehindert – eigentlich ist es erstaunlich, dass noch nichts über Schlepperboote am Kanal bekannt ist...

Zirka vier Stunden schaukelt die Fähre nach Irland hinüber, etwa 18 Uhr erreicht sie den Hafen von Rosslare. Das erste B&B, das ich finde, ist voll belegt, beim zweiten habe ich Glück. John, der Besitzer, der mir später sagt, er hätte auch noch ein Hotel in der Nähe, glaubt, ich sei auf der Rückreise. Dann staunt er über mein Vorhaben, gibt mir etliche Tipps und Reklamezettel, empfiehlt mir ein Pub, da solle ich mich auf ihn berufen - die Kneipe ein Club und daher nur für Mitglieder offen… Naja, das interessiert dort niemand - not really: Umsatz ist Umsatz.


> Bridgetown > Arthurstown > Woodstown

8. Juli
Für das Frühstücksbuffet hat John sein Personal, aber mich bedient er persönlich und so kommen wir erneut ins plaudern. Von meinem Reiseplan ist er wohl aus eigenen Sehnsüchten sehr begeistert. Falls ich es bis Derry schaffen sollte, dürfe ich dort niemals Londonderry sagen, das würden die Einheimischen mir krummnehmen. Was mich denn sonst in Derry erwarte, frage ich ihn. Er schwärmt von den Pubs, von den Bands – und überhaupt von den guten alten Zeiten, als er noch rauchte, was es zu rauchen gab. Letzteres sei der größte und einzige Fehler seines Lebens gewesen, heute begnüge er sich mit seinem abendlichen Bier. Seinem Alter nach ist John mit den musikalischen Helden der 68er aufgewachsen, ein Blick in seinen Plattenschrank gäbe genaueren Aufschluss. Vor einigen Jahren habe er selbst noch Radtouren gemacht, nicht in Irland, sondern besonders in Frankreich, von daher wisse er um die Unwägbarkeiten dieser Art des Reisens.

Ich könnte noch eine Weile Johns Reisegeschichten zuhören, will mich aber langsam auf meine eigenen Reise begeben und muss mich zunächst damit beschäftigen, den Luftverlust am Hinterrad meines Eisenesels zu untersuchen. John rät mir die "Garage" (Tankstelle) im Ort. Ich verabschiede mich. Er will mich auf der Rückfahrt wieder hier sehen, ruft er mir nach. Die Luftanlage an der empfohlenen Tankstelle ist defekt. Weiter die E30 entlang bis Killnick, dort funktioniert die Pumpe. Ursache des Druckverlustes ist ein Schlauch, der an einer geflickten Stelle ganz langsam, Bläschen für Bläschen, Luft abgibt. Gut dass ich in Swansea noch einen Ersatzschlauch hinzugekauft habe. Von der Reparatur habe ich schwarze Hände, die kann ich in der Toilette an der Seite des Tankstellenkomplexes waschen.

Eine Autofahrerin muss mich - und meine schwarzen Hände - beobachtet haben. Sie kommt zu mir und zeigt mir eine Schachtel mit Papiertüchern. Erst verstehe ich nicht, was sie von mir will. Dann zieht sie zwei Tücher aus der kleinen Box und reicht sie mir, vielleicht spezielle Reinigungstücher. Hätte ich nicht benötigt, ist aber dennoch sehr nett gemeint - so was Aufmerksames ist mir in Deutschland noch nie passiert... Ich kenne die besondere irische Hilfsbereitschaft bereits von den beiden Urlauben im alten Jahrtausend. Dennoch bin ich wieder überrascht. Kann die spezielle irische Frömmigkeit diese Freundlichkeit erklären? Ist es ein traditionelles Interesse, eine Neugier, die dem fremden Wandersmann sprichwörtlich entgegengebracht wird – hier in Gestalt der Tücher?

Die Begebenheit mag nebensächlich sein, aber sie macht mir zusätzlich klar: Hurra, ich bin in Irland - endlich kann es losgehen! Und los geht es auf die größte Radtour meines Lebens. Ich habe sechs Wochen Zeit und die sollten reichen, um die Insel im Ganzen zu umrunden. Beim Verlassen der Tankstelle winke ich der freundlichen Frau. Die Sonne scheint, ich biege in südwestlicher Richtung auf die R736 ab, komme durch Bridgetown und viele andere kleine Dörfer. In einem, so erzählte John, gäbe es ein Pub, da habe sich seit 50 Jahren nichts verändert. Deshalb sei Mick Jagger gern dort, wenn er mal in der Nähe ist… Ich passiere das Pub in der Mittagszeit, da ist noch geschlossen. So kann ich die angebliche Urwüchsigkeit nicht überprüfen.

Von Wellingtonbridge fahre ich auf der R733 weiter nach Arthurstown, mit der Fähre nach Passage East, ein kleiner Hafenort - hier halte ich Ausschau nach Unterkünften. Der Ort ist aber wohl nicht attraktiv genug, Herbergen hier zu betreiben. Ein bisschen weiter außerhalb an einem Laden erkundige ich mich erneut nach Quertieren. Ein Mann erwähnt ein Pub weiter südlich, Woodstone Beach, dort könnte ich zelten, wenn ich dafür ausgerüstet sei – und das sei ich ja wohl, stellt er beim Blick auf mein Gepäck fest.

Das empfohlene Pub – The Saratoga – liegt direkt an der Küste. Der Wirt bietet mir tatsächlich das Zelten im Garten an. Ein Gast zeigt mir die Wiese, direkt vor dem Strand – gleich neben der betriebseigenen Klärgrube. Am Ende der Wiese ist davon zum Glück nichts mehr zu riechen. Eher stört das Rauschen der Belüftungsanlage von der Restaurantküche. Ich kann nur hoffen, dass die nachts ausgeschaltet wird. Ansonsten bleibt nichts zu wünschen - ein vorzüglicher Ort zum Kampieren!

Nachdem mein Zelt steht, gehe ich ins Pub. Die Männer an der Bar sprechen mich nach einer Weile an. Einer von ihnen sagt, er habe in Deutschland gearbeitet, Düsseldorf. Über dem Tresen viel Dekoration: Postkarten, übrig gebliebene Banknoten aus exotischen Ländern, Sprüche, ironische, aber auch religiöse: God didn't promise days without pain, laughter without sorrow, nor sun without rain. But he did promise strength for the day, comfort for the tears, and light for the way - Licht auf allen Wegen, das werde ich brauchen. Kein Tag ohne Pein, kein Lachen ohne Sorgen, kein Sonnenschein ohne Regen. Ich weiß, worauf ich mich eingelassen habe - hoffentlich werde ich nicht zu sehr geprüft. Damit ich die irischen Weisheiten auch nach meiner Reise noch mag...


> Dungarvan

9. Juli
Ich wache direkt zum Sonnenaufgang auf - die Sonne glüht rot. Wie sie über den Horizont steigt, blendet sie mich. Ich zögere nicht, mit dem Packen zu beginnen. Es dauert ein Stündlein, bis alles wieder verstaut und festgeschnürt ist. Um 7 sitze ich im Sattel. Beim Abzweig nach Dunmore East halte ich an und studiere meine Karte. Ein Mann mit Kinderwagen, mit Hund und einem kleinen Mädchen grüßt mich. Ich grüße zurück und er fragt mich, wohin ich will. Mein Vorhaben imponiert ihm, er stellt mir seine Kinder vor. Ich bin erst seit zwei Nächten auf der Insel und bin schon einigen der freundlichsten Menschen der Welt begegnet: in der ersten Herberge, an der Tankstelle, im Pub - und hier an dieser Straßengabelung.

Im kleinen Ort Tramore findet sich ein Wegweiser zum Tramore Heritage Trail. Ein Radverbotsschild lässt mich zögern, der Weg führt hoch über der Küste entlang. Ich frage eine entgegenkommende Joggerin, ob es auf dem Weg Treppen oder Engstellen gibt. Nein, kein Problem fürs Rad - und außerdem ist der Rundweg besonders "scenic" - landschaftlich reizvoll. Blick auf die Küste und aufs Meer. Weitere Infotafeln erläutern die Bedeutung der Gegend für den einstigen Kupferabbau, die hiesige Küste bekam daher auch den Namen Copper Coast.

Gegen fünf erreiche ich die beschauliche Hafenstadt Dungarven. Das Hostel direkt an der Hafenstraße ist fully booked, die Kellnerin empfiehlt mir das Hotel Lowlors auf der Main Road, die Preise seien da auch okay. Wahrscheinlich war das auch aus anderen Erwägungen eine gute Empfehlung. Denn wie ich später am Abend sehe - und höre, läuft im rammelvollen Restaurant des Hostel, was man auch in Irland "Live Music" nennt. Eine schlanke ältere Frau versucht sich, in einer Nische von einem Quadratmeter eingeklemmt, an ihrem Keyboard - das hat was von Alleinunterhalterin. Nach meinem Befinden macht sie gute Miene zum nervigen Job. Die Gäste sind laut, also dreht sie ihre Mikros noch lauter. So schraubt sich der Lärmpegel später hoch und höher. Ich ziehe ein indisches Restaurant vor – ich glaube, ich habe mir heute ein gutes Dinner erradelt.


> Midleton

10. Juli
Gegen Mittag erreiche ich den Küstenort Aird Mhor. Im Postoffice kaufe ich drei Postkarten. What a lovely day! sagt die Verkäuferin. Ja, Sonnenschein halt. Lovely, erwidern die anderen Kunden. Sonnenschein scheint was Besonderes zu sein... Auf einem Mäuerchen am Strand schreibe ich die ersten Postkarten, an meine Mutter, die in Gedanken mitreist, an meinen Nachbarn, der meine Blumen gießt, an eine alte Bekannte, die ausdrücklich um eine Postkarte bat.

Ein kleiner Strand lädt zum Verweilen. Einige Surfer paddeln auf ihren Brettern herum - für richtiges Surfing reicht der Wind dann doch nicht, die Männer geben auf. Drei kleine Mädchen springen quietschvergnügt in ihren bunten Kleidchen in den sprudelnden Wellen – für richtig Baden scheint ihnen das Wasser zu kalt zu sein. Es gibt auch ein Tourist Info, wo ich eine detaillierte Karte der Umgebung bekomme - und mündliche Auskünfte, mehr als man sich wünschen kann. Mein Rad ist mal wieder ein Hingucker - Gesprächsanlass. Das große Staunen muss ich jedes Mal relativieren: Ja, der ausladende Lenker hat was Schwungvolles, nur leider kommt der Schwung nur "downhill" zustande, "uphill" muss ich meistens schieben.

Weiter nach Youghal, an einer T-Junction bei Ballymacoda studiere ich die Straßenkarte. Ein Auto mit zwei jungen Mönchen hält an. Der Beifahrer erklärt mir den Weg Richtung Corgh über Ladysbridge - und sagt zum Abschied: God bless you. Am Ortseingang der kleinen Stadt Castlemartyr ist ein Pub mit Biergarten, das lädt zu einer Pause ein. Einige elegant gekleidete junge Leute gehen ein und aus, sie gehören zu den Gästen einer Hochzeitsfeier. Um so größer ist der Kontrast zu dem ärmlich gekleideten Mann, der jetzt zum Rauchen hinauskommt. Er beäugt mein Rad und spricht mich an. Er fahre auch gern Rad, aber so ums ganze Land, das sei dann doch nichts für ihn. Er macht mir einige Komplimente und gibt mir Empfehlungen für Weiterfahrt und Unterkünfte. Er empfiehlt mir Midleton als Kleinstadt mit Hostel und Pubs, weil der kleine Vorort von Corgh ruhiger als die graue Stadt sei.

Eine sehr gute Empfehlung! Das „An Story Tourist Hostel“ in einer Sackgasse ist zwar inzwischen eine Herberge für Kinder aus Tschernobyl, aber einige Mehrbettzimmer sind auch für sonstige Gäste erhältlich. Erst sagt die Chefin, es sei leider alles voll. Nachdem sie mir schon weitere Empfehlungen für B&B gab, fällt ihr ein, dass in einem Zimmer, wo nur eine Lady untergebracht sei, noch was frei sei. Eine Lady also, so-so… Wie laut mag sie schnarchen? Ich schaue mir lieber erst das empfohlene B&B an...

Das empfohlene B&B liegt direkt neben einer stark befahrenen Hauptstraße, kommt nicht in Frage, schnell zurück und im Tschernobyl-Heim einchecken. Die Lady ist eine rüstige Rentnerin, sehr gesprächig. Ich fasse mich kurz und empfehle ihr als Treffpunkt für eine spätere Plauderei das Pub von Michael Canty, an dem ich ein Schild sah, das für heute Abend eine Session ankündigt.

Das Pub ist ein Volltreffer, gleich um die Ecke in der Connolly Street. Einer der Musiker mit Gitarre, der andere Mandola und Mandoline, beide singen, zweistimmig, verdammt gut. Ich gebe ein Ständchen, sie begleiten mich bei Blue Moon – in Sachen Akkorden ist ihnen die Bridge ein Rätsel, sie fragen mich nachher. Ein anderer Gast singt a capella, dann auch eine Frau. Sie singt einen alten Schmachtfetzen, the Butcher Boy. Später fordert mich der Leiter der Session wieder auf - ich singe ein eigenes Lullaby. Der Gitarrist begleitet mich sehr fein, spielt aber andere Akkorde... Ich muss improvisieren, bis ich ihn dann doch aus seiner Akkordschleife herausführen kann. Der Wirt spendiert mir ein Guinness.

Kathrin, die Lady in meinem Zimmer liest noch, als ich nach Mitternacht eintrudele, später schnarcht sie, relativ leise. Ich zische gelegentlich wie eine Schlange, das hilft - leider immer nur ein Weilchen. In diesem Weilchen muss ich mich schnell einduseln. Irgendwann gelingt es mir.


> Corgh > Inchigeelagh

11. Juli
Das Frühstück ist feinstens, die Übernachtung - all inclusive - hat nur 20 Euro gekostet! Lady Kathrin ist eine humorvolle Quasseltante - mit Hang zum Esoterischen. Am anderen Tisch sitzen junge Leute - die gehören zusammen, aber während sie essen, checken sie schweigend ihre Nachrichten bei Twitter und Co. Man hockt beieinander am Frühstückstisch und glotzt in diese kleinen Gerätschaften - man könnte ja irgendwo eine soziale Vernetzung verpasst haben...

Gegen Mittag bin ich in Corgh. Nach anfänglichen Schauern regnet es sich ein, da verliert der Stadtbummel jeden Reiz. Also weiter, westwärts am River Lee entlang. Wegen des Regens kann ich nicht in meinem Tourenbüchlein blättern und merke zu spät, dass ich gar nicht in die laute, hektische Stadt Maigh Chromta hineinfahren hätte müssen. Nun muss ich umkehren - die stark befahrene Straße zurück bis zu dem Abzweig nach Inshigeelagh. Da ist es wieder ruhig. Wäre nur der Regen nicht so erbarmungslos. Die Reize der hügeligen Landschaft bleiben im nassen Grau des Himmels verschwommen.

Inishigeelagh sieht nicht direkt nach Urlaubsort aus, im Regen schon gar nicht - das Hotel rechts vor der Kreuzung dürfte seinen letzten Gast vor Jahren gesehen haben. Ich frage zwei Kinder auf der Straße. Die verweisen mich auf das Pub. Das Lokal ist voll, aber tatsächlich eine dörflicher Familientreff, wie es traditioneller kaum sein könnte - auch alte Leute und etliche Kinder sind unter den zahlreichen Gästen. Jenseits der großen Städte scheint das Pub wirklich noch mehr zu sein als nur ein Männertreff. Die Männer glotzen Sport im riesigen Fernsehgerät an der Wand: Irish Football, eine Mischung aus Fußball und Handball. Nach einer Weile schaut der Barkeeper, der alle Hände voll zu tun hat, ob es ein Zimmer für mich gibt.

Die Einrichtung des Zimmers könnte aus dem frühen 19. Jahrhundert stammen: Bett, Sessel, Tisch, Schrank - wie ein Museum. Hier hat sich einfach nicht viel verändert, demnach gab es hier keine vorbeiziehende Heerscharen oder sonstige Katastrophen. In meinem mp3-Radio höre ich eine Sendung über moderne irische Musik, die unverkennbar in den Traditionen wurzelt. Ich bin begeistert, ja geradezu berauscht, und das kann nicht an den zwei Guinness liegen, die ich in der Wartezeit im Pub trank.

> Glengarriff > Castletown Bearheaven

12. Juli
Sonntag. Zum Frühstuck fragt mich der Wirt nach meinem Reiseplan - und ob ich das erste Mal in Irland sei. Als er alles serviert hat, setzt er sich zu mir. Er erklärt mir Einiges über traditionelle irische Musik und dass es bei ihm im Haus im Sommer auch ein Workshop-Weekend gibt und ein kleines Musikfestival, dann ist hier natürlich alles ausgebucht, aber so zwischendurch ist nichts los. Einige seiner Empfehlungen zur irischen Musik lasse ich mir in mein Tagebuch schreiben, auch seinen Namen, Joe Creedon. Inshigeelagh ist eine der wenigen erhaltenen gälischen Sprach-Inseln, sonst finden sich die sogenannten Gaeltachts fast nur noch an der West- und Nordküste.

Es hat zwar die ganze Nacht und auch am Morgen noch etwas geregnet, doch jetzt sieht es trocken aus. Nach dem Pass of Keimaneigh lockert sich sogar die Wolkendecke auf. Bis Kealkill ist der bisher reizvollste Abschnitt der Strecke. In Glengarriff ist endlich eitel Sonnenschein. Ich kaufe drei Postkarten und schreibe eine an meinen guten alten Freund Matthi, der schon in den 90ern mehrfach hier geradelt ist und der sich bereits vor meiner Abreise dazu bekannte, neidisch zu sein.

Weiter auf den Ring of Beara. Bis Adrigole sind einige kleinere Steigungen zu bewältigen. In Castletownbere finde ich in Murphy's Restaurant ein billiges Zimmer. Den Tip bekomme ich in McCarthy's, einem legendären Pub mit Music Sessions. Ich gebe meine Einlagen, gängige Lagerfeuersongs, zum Mitspielen. Bei den bekannten Songs der anderen jamme ich fast den ganzen Abend mit. Dafür spendiert der Barkeeper, als ich zahlen will, eines der drei Pints, die er mir ohne Aufforderung an den Tisch serviert hatte: Thank you for the music. Ich darf mich in doppeltem Sinne für privilegiert halten - denn üblich ist, dass man sein Getränke am Tresen ordert und sofort nach Erhalt zahlt.

> Eyeries > Kenmare

13. Juli
Am Abend fing es wieder an zu regnen - und die ganze Nacht hindurch ließ es nicht nach. Auch am Morgen hörte es nicht auf. Da kann ich mir beim Frühstuck Zeit lassen. Der Wirt trägt das blaue Shirt von gestern heute mit den Nähten nach außen - vielleicht war es noch dunkel, als er es anzog. Ich kann mir gut vorstellen, wie der fleißige Mann abends noch fünf Minuten in die Glotze geguckt hat und dann gleich auf der Couch eingepennt ist. Eine Halskette mit einem goldenen Kreuz zeigt, dass er mit Gott ist, mit dem irischen - der ist nach meinen bisherigen, mehrfachen Erfahrungen um einiges freundlicher als der deutsche - und auch freundlicher als der englische Gott.

Als der Wirt sagt, es sei jetzt "getting bright", riskiere ich einen Blick nach draußen. Bright? Heißt das nicht strahlend? Was für eine eklatante Übertreibung! Aber richtig ist: der Regen hat nachgelassen, es ist etwas heller geworden… Damit muss man sich hier wohl begnügen, also Regencape an und los. Zur berühmten Cable Car nach Dursy Island am westlichen Ende der Landzunge zu radeln ist unter diesen nassen Bedingungen wenig reizvoll - 50 Kilometer durch den Regen wegen einem Container als Drahtseilbahn, nein, danke!

Ich kürze zum nördlichen Ufer der Landzunge ab, nach einigen Hügeln ist das farbenfrohe Dörfchen Eyeries in Sicht. Jedes Haus hat eine andere Farbe, aber die Tür- und Fensterrahmen sind nicht so knallig gestrichen wie in den Einkaufsstraßen der Städtchen. Dennoch sind die kleinen Lädchen hübsch herausgeputzt, ein Urlauberkaff, das am Wochenende zum Sommerfest lädt. Leider nieselt es noch immer, für Fotos fehlt das Licht. Man muss sich diese beschaulichen Sträßchen einfach bei abendlichen Sonnenschein vorstellen - dann wird auf der einen Straße des Örtchens auch etwas mehr Leben sein. Vielleicht sind dann auch die Autos außerhalb geparkt, so dass sie die hübsche Kulisse nicht stören... Als Reisender möchte man schließlich nostalgische Motive natürlich immer ohne die Blechkarawanen der Moderne.

In einer Nebenbucht der Kenmare Bay liegt das Dorf Lauragh. Sonnenschein und ein Cafégarten sind der entscheidende Wink für eine Rast. Ich breite meine beiden Regencapes zum Trocknen über dem Rad aus und bestelle mir am Tresen einen Pott Kaffee. Man hat sich in diesem einstigen Postamt außerdem auf vegetarische Süppchen und glutenfreien Kuchen spezialisiert - oder einfach auf Gäste mit gehobenen kulinarischen Bedürfnissen.

Das Städtchen Kenmare, touristische Drehscheibe am Ring of Kerry, soll mir heute Nacht Quartier geben. Besser, ich zögere nicht lange und frage gleich inmitten der Hauptstraße nach einem Zimmer. Auch das Personal von Davitt's Guest House & Restaurant zögert nicht lange. Das Gästehaus ist eigentlich ein Vier-Sterne-Hotel und liegt preislich über meinen Verhältnissen - aber die anderen Herbergen seien auch nicht günstiger, schwört der Kellner... Ob er mir bei dieser Behauptung in die Augen schauen könnte, hätte ich ihn fragen sollen... Aber gut, das Zimmer ist komfortabel und was mir viel wichtiger ist: es liegt an der Hofseite. Ich habe also zur rechten Zeit ein hoffentlich ruhiges Nachtlager - nun kann ich mich der Planung des Nachtlebens widmen.

Ich mache mich zu einem Bummel durch die kleine Stadt auf - stünden auf der Straße statt der vielen Autos alte Pferdekutschen, könnte man sich auf einer Zeitreise wähnen, die antiken Reklameschilder geben dem Flair etwas von einer Western City in einem Goldgräber-Gebiet. Als ich das Hotel verlasse, baut im Restaurant ein Musiker-Duo seine Technik auf. Der Kellner bemerkt mich und fragt, wohin ich wolle. Well, ich ziehe ein traditionelles Pub mit akustischer Session vor. Das könne er gut verstehen, sagt er: Und wissen Sie, wo das beste Pub mit traditioneller Musiksession ist? - Er führt mich auf die Straße und sagt: voila! Da ist CROWLEY'S BAR, vis-à-vis auf der anderen Straßenseite. Na gut, da hätte ich heute Nacht einen sehr kurzen Heimweg. Aber noch ist es nicht so weit, die Session beginnt erst um 10.

Zwei Lädchen weiter - fast aus jedem dröhnt elektrisch verstärkte Musik - komme ich an einem Musikladen erst nicht vorbei und dann fast nicht wieder raus. Ich verlasse den Laden mit einer Harmonika der Marke „Marine Band“ und mit einem Harmonikahalter. Zur Notwendigkeit der spontanen Nachrüstung meiner musikalischen Reiseutensilien hatte ich zunächst einen intensiven Disput mit meinem inneren Reisekassenfinanzminister zu führen. Gegen mein Argument, die Erweiterung meiner musikalischen Teilnahmeoptionen bei künftigen Sessions, konnte er schließlich nichts aufzubieten und bewilligte mir die Sonderausgabe.

Was den heutigen Abend betrifft, wäre die Sonderausgabe nicht nötig gewesen. Zwar geht es musikalisch sehr traditionell zu, aber da das kleine Pub rammelvoll und entsprechend laut ist. So viele Leute, die nicht wegen der Musik hier sind, sondern einfach nur weil es hier voll ist! Und wo es voll ist, da muss ja das wahre Irland sein... Pauschalreisende im Pulk, Geschnatter ohne Gnade, ohne jegliches Interesse für die Musik. Zwei weißbärtige deutsche Althippies mühen sich nach jedem Lied, den Umstehenden das Applaudieren beizubringen. Warum tun Leute so, als interessierten sie sich für irische Folklore, wenn sie doch während des musikalischen Vortrages so laut, so rücksichtslos, so ignorant herumlabern?

Die Musiker haben mich an meiner Ukulelentasche sofort als Kollegen erkannt und mir Platz an ihrem Tisch geboten - vielleicht auch, um andere Gäste auf Distanz zu halten. Sie stellen sich höflich mit Namen vor. Am Tisch sitzt auch eine junge, sehr dicke Frau. Die Amerikanerin genießt die Musik, eine der wenigen, die wirklich zuhören. Genüsslich schließt sie die Augen und lauscht den Klängen von Banjo, Geige, Akkordeon und Blechflöte.

Ich sitze auf einem kleinen Hocker im Durchgangsbereich, da ist viel Gedrängel – ich wage nicht meine Ukulele neben mir abzustellen. Auf dem winzigen Tischlein ist kein Platz, da hat die Amerikanerin ihre große Handtasche und eine Plastiktüte ausgebreitet hat – noch nicht einmal für ein Bierglas reicht der Platz. Die Amerikanerin rückt zwar, als sie sieht, dass ich etwas ablegen möchte, ihren Krempel etwas beiseite, aber die Ukulele behalte ich doch lieber sicher zwischen meinen Beinen – und da bleibt sie auch, denn das Milieu gefällt mir nicht.

Die anderen Musiker geben mir zu verstehen, dass ich dran bin. Ich winke ab, zu laut, zu eng! Ich muss fürchten, dass mich beim Spielen einer der hinter mir stehenden Gäste anrempelt. Bevor ich mich nachher darüber ärgere, lasse ich es lieber gleich. Die Iren zeigen Verständnis und geben mir zu verstehen, dass sie das laute Gedrängel ebenso nervt - sie machen das Ganze wohl eher fürs Geld als zum Vergnügen. So ist das leider in einem Ort, der zur Drehscheibe des Busreisetourismus verkommen ist. Ich bringe meine Instrumente zurück ins Hotel, also nur auf die andere Straßenseite, und bummle noch etwas durch die zwei Straßen, aus denen das bunte Tourikaff Kenmare besteht.


> Moll's Gap > Black Valley > Gap of Dunloe > Shanahill

14. Juli
Dienstag. Beim Frühstück treffe ich auf eine große Gruppe Amerikaner, durchschnittlich im Pensionärsalter - und durchschnittlich sehr übergewichtig. Irgendjemand muss den Leuten gesagt haben, dass man beim Umhergefahrenwerden in den "einsamen" Küstenstrichen Irlands umgehend verdurstet, sofern man nicht mit einer vollen Nuckelflasche Wasser ausgerüstet ist, sie schleppen alle die gleiche Marke aus Plastik mit sich herum und lassen diese von der Kellnerin nachfüllen - ist das Leitungswasser aus der Küche besser als das aus dem Badezimmer? Nach dem es eine Weile ruhig im Raum war, kommt nun einer nach dem anderen mit Plastiktüten voller Wäsche, die man offenbar zum Waschen abgeben kann - all inclusive. Wenn das sehe, verstehe ich, warum Reisende Reisenden in Bahnhöfen und Flughäfen riesige Koffer hinter sich herziehen.

Kenmare wird für mich zur ersten Begegnung mit dem Massentourismus. Man kann hinfahren, wo man will auf diesem Erdenrund: Den Drehkreuzen des Massentourismus lässt sich nicht gänzlich ausweichen. Den von Buskolonnen überfüllten Ring of Kerry lasse ich jedenfalls weg. Ich begebe mich schnurstracks in die nördlich gelegene Bergwelt zwischen Moll's Gap und Gap of Dunloe. Schnurstracks bedeutet einen zunächst gemächlichen, dann zunehmend steilen Anstieg zu bewältigen. An dessen höchstem Punkt, auf etwa 300 Metern, befindet sich - wie könnte es anders sein - ein Café. Das könnte die vom einstündigen Gasgeben völlig erschöpften Autofahrer mit einem herrlichen Panorama belohnen, hinge da nicht eine Nebelwand, die den Blick ins Tal verstellt. Gegen derartigen Verdruss hilft die geräumige Souvenir-Abteilung des Restaurants - irgendwas kann man immer gebrauchen...

Radfahrer waren wohl auch schon hier oben. Jemand hat mit gelber Farbe "NEARLY THERE" auf den Asphalt geschrieben - fast geschafft! Ein wahrer Pedalritter braucht nach dem langen Anstieg weder Durchhalteparolen noch eine Tasse Kaffee. Der schönste Lohn ist und bleibt die Abfahrt, die jedem Anstieg folgt - eine velopedalistische Binsenweisheit, gewiss.

Nach einem Kilometer auf den Höhen des Iveragh zweigt nach rechts eine Serpentine ins Tal ab. Ist das die richtige Straße ins Black Valey? Mein Bauchgefühl, das bei unvorhergesehenen steilen Anstiegen skeptisch wird, warnt mich auch vor verführerischen Abfahrten, denen eine steile ansteigende Überraschung folgen kann. Vorsichtshalber warte ich an dem Abzweig auf ein Auto, um möglichste einen Einheimischen fragen zu können. Autos kommen und halten, aber deren Insassen sind selbst ortsunkundig. Karte und Straßenschilder stimmen nicht so recht überein. Letztlich erhält die Serpentine, also die Abfahrt, den Zuschlag. Der ortsunkundige Automobilist holt mich im Tal ein und bestätigt damit mein Bauchgefühl: ich bin auf der richtigen Strecke.

Die Straße ist gut asphaltiert, aber einspurig - die Schafe glauben, die Straße sei allein für sie gemacht. Gäbe es jetzt noch etwas Sonnenschein, wäre die Postkartenidylle perfekt - Bilderbuch-Irland. Ein rauschender Bach liefert den Soundtrack zur Märchenwelt aus Moosgrün und Steingrau, in der nur zwei, drei Cottages stehen, Wohnsitz der Hirten, die alle Zeit der Welt zu haben scheinen, aber diese mit dem Stopfen der Lücken in den Weidezäunen zu füllen gezwungen sind.

In einem Dorf kommen zwei Frauen aus der Kirche - sie empfehlen mir, auch hineinzugehen, man könne sich hier was wünschen, sprich: um Glück beten. Nun bin ich zwar nicht leichtgläubig genug, um an überirdische Wunscherfüllung zu denken, aber mal einen Blick in die Gemäuer werfen und sich schönes Wetter wünschen, kann trotzdem nicht schaden. Wie das Streckenprofil meines Radreisebuches voraussagte, geht es nun wieder steil bergan. Von den Serpentinen hinauf zum Gap of Dunloe weitet sich der Blick zurück ins Tal, wo die kleine Kirche immer kleiner wird. Tatsächlich hat es aufgehört zu regnen! Zufall? Klar, was sonst!

Zwei Einspänner überholen mich, die armen Gäule haben es nicht leicht. Es folgen weitere, einige mit asiatischen Touristen beladen. Als Tourismusmagnet ist das Black Valley in keinem meiner beiden Reisebücher erwähnt. Woher wissen diese Leute vom anderen Ende der Welt, was für herrliche Winkel es hier gibt? Zwar ist hier der Busverkehr verboten, aber nichts in Kerry dürfte noch ein Geheimtipp sein.

Gap of Dunloe ist zwar nicht ganz so hoch, aber 200 Meter Höhenunterschied zum Tal waren es dennoch, mit Moll's Gap liegen heute 500 Höhenmeter Steigung hinter mir. Um so schöner diese zweite lange Abfahrt, die etwas stärker von Wanderern und Kutschen frequentiert ist. Weiter talwärts nach Beaufort (französische Ortsnamen? Schönes Fort?), die N 27 ein Stück westwärts folgend, dann querfeldein gen Norden nach Milltown, von da erneut auf eine Nationalstraße, N 70, die mit leichtem Anstieg vom Ring of Kerry nach Tralee führt.

Ich biege nach Dingle ab, die nächste Landzunge, welche zum am weitesten westlich gelegenen Zipfel Irlands führt. Das in meinem Radreisebuch empohlenene The Phoenix, kurz vor Shanahill, ist tatsächlich eine Perle. Im Hintergrund dudelt leise Blues, das Interieur ist ein Mix aus Antiquitäten und Trödel. An den Wänden allerlei Hippie-Budda-Esoterikzeug, die Speisenkarte verweist auf Öko-Bio-Vegan-Küche. Zwar befindet sich das Gasthaus direkt neben der Landstraße nach Dingle und zum beliebten Strand an der Südseite der Landzunge, doch abends ist der Verkehr nicht zu spüren. Da ich, die uralte Klampfe aus Großvaters Zeiten stimmend, schon als Musikus erkannt bin, telefoniert die Wirtin ihre sangesfreudige Tochter und andere Musiker herbei. Die trudeln eine Stunde später, nach dem Dinner, nacheinander ein.

Es wird ein wunderbarer Abend, unter anderem mit einer deutschen Austauschstudentin. Eine Sängerin mit knielangem Haar sticht besonders heraus. Der Gitarrist, der auch eine sechssaitige Konzertukulele dabei hat, kann gut zupfen - und ebenso singen. Was will man mehr! Wie gut, dass die beiden B&B, an denen ich vorher geklingelt hatte, bereits belegt waren!

> Dingle > Slea Head > Dunquin

15. Juli
Herrlicher Sonnenschein! Ich habe lange geschlafen, reichlich gefrühstückt, erst gegen halb 11 breche ich auf. Bei Inch parken Hunderte Autos direkt auf dem breiten Sandstrand, schön ist das nicht, aber so ist das heute eben. Von der Küste geht es ins hügelige Land auf etwa 100 Meter Höhe, da ist einiges Schieben angesagt, aber die Rundblicke entschädigen für jede Mühe. Etwa um drei erreiche ich die kleine Stadt Dingle, ein völlig überlaufener Urlauberort. In einem Rammelvollen Restaurant bestelle ich ein Waffeleis, man merkt dem Personal den Dauerstress an, dem sie hier ausgeliefert sind, dazu schlechte Luft und Lärm.

Warum drängeln sich bei so einem Wetter so viele Menschen zu dieser Nachmittagsstunde in einem Speiselokal? Nichts wie fort! Stau auf den Straßen des Ortes, genervte Fahrer, aggressives Hupen. Respektlose Gesten von genervten Einheimischen? Nach der Brücke, die nach Slea Head führt, wird es wieder ländlich. Ein Pub mit Bänken auf der Straße lockt nicht nur mich auf eine Erfrischung. Die felsige Küste von Slea Head ist eine Fotomeile - an jeder Kurve gibt es Parkbuchten, wo der Blick aufs Meer und auf schroffe Klippen fällt. Ein paar Kilometer weiter, in Dun Chaoin, auch Dunquin geschrieben, erwartet Kruger's Bar seine Gäste - the most Western Pub of Europe, verheißt ein Schild. Wie ich zur Freude meines Finanzministers feststellen kann, gibt es auch ein Youth Hostel und es sieht so aus, als wäre da nicht viel los.

So weit von Diskothek und Nachtbar abgelegene Ort sind für Jugendliche nicht attraktiv - augenscheinlich auch nicht für sonstige Urlaubervolk. Ich frage die Herbergsmutter, ob es ein Einzelzimmer gibt. Nein. Aber es gibt ein Mehrbettzimmer, in dem noch kein anderer Gast ist. Ich habe also Ruhe für wenig Geld! Die Herbergsmutter erzählt mir einiges über Gaeltacht, hier ist Irland noch irisch, das heißt vor allem gälisch-sprachig. Vor der Küste liegen die Blasket-Islands, wo bis 1953 noch etwa hundert Menschen in sehr ärmlichen Verhältnissen lebten. Wegen der schwierigen Versorgung mit Lebensmitteln wurden die Blaskets administrativ evakuiert.

Kurz vor dem steinigen Strand frage ich einen alten Mann, ob ich über die kleine Brücke und den Trampelpfad am drübigen Hügel zum Pub komme. Er überlegt, vielleicht auch, worüber er sonst noch mit mir ins Gespräch kommen kann. Mein Rad bietet sich immer als Gesprächseinstieg, ich wiegele ab, mein Rad sei zwar ein Hingucker, ansonsten aber eher was für downhill, nichts für Sportler. Na immerhin 7-Gang-Shimano-Nabe, der Alte kennt sich wohl ziemlich aus, die Tour de France und Doping sind Themen. Da kann ich nicht mitreden, sage ich ihm. Wir kommen vom Rad zum Motorrad - zum Auto - zur Raumfähre Columbia, reden über Irland, Großbritannien, Deutschland und Amerika, über die Troubles in Nordirland, über Hitler, Churchill, Kennedy, über Marilyn Monroe - und schließlich auch über die von Wellen umtosten Blaskets. Als junger Mann habe er da drüben gewohnt - also bis 1953...

By the way, wie alt sind sie eigentlich? 80. Ah, ja. 2015 minus 80 macht 1935... Dann war er damals um die 18. Ich nehme mein kleines Fernglas zur Hand und kann damit erkennen, dass einige der Häuschen frisch gestrichen sind. Ja, die habe ein Amerikaner erst vor einigen jahren gekauft, der kam dann manchmal Urlaub machen. - Ist Ihr einstiges Haus auch noch zu sehen? - Ja, links von den weiß getünchten. Ich gebe ihm mein Fernglas - und da haben wir das nächste Thema: Wirklich erstaunlich, was das kleine Dinge für eine starke Vergrößerung bietet. Der Alte scheint sich mit allen technischen Dingen und mit Markennamen gut auszukennen, nur von "Steiner" hat er noch nicht gehört.

Wie weit ich denn radeln wolle? - Einmal ringsrum. - Das klingt schon ein bisschen nach Abenteuer. Na, aber heute sei das nichts mehr für ihn. - Ich gestehe ihm, ich habe auch erst vor einem Jahr mitv dem Fernradeln angefangen, mal was für die Gesundheit zu tun. - Seit sein Arzt Anzeichen von Mundkrebs bei ihm diagnostiziert hätte, versuche er auch gesünder zu leben, also ohne Taback. Ungeachtet dessen schwärmt er von seinen Pfeifen und kennt sich auch in diesem Bereich mit besten Materialien aus. Der Befund sei noch nicht da, deshalb nimmt er es leicht - man könnte sagen, mit einer großen Portion Humor - oder Gelassenheit. Wir erzählen uns gegenseitig Witze und lachen in einer Tour. Er ist gut zu verstehen, sein Englisch hat jenen Akzent, der mir aus den USA vertraut ist. Das ist auch kein Wunder bei den Millionen von Ihren, die seit der Hungersnot in die Staaten emmigrierten. Auch der 80-jährige scheint viel herumgekommen zu sein.

Ich finde diesen letzten Ureinwohner der Blaskets, der auf mich so agil wirkt und ein wandelndes Geschichtsbuch ist, so beeindruckend, dass ich ein Selfie von uns beiden mache - dabei verpasst er nicht, das Objektiv meiner Lumix zu inspizieren. Hätte ich genügend Zeit, hier ein paar Wochen zu bleiben, würde ich noch manches mehr über das einstige Leben auf der Insel da drüben erfahren, aus erster Hand eines echten Blasket-Insulaners, John Brennan. Mit einem Ruderboot wäre man in einer halben Stunde drüben - wahrscheinlich gibt es hier gar keine Ruderboote mehr. Der deutsche Titel der Lebensgeschichte des "Islandman" Toás O'Crohan sagt es schon: Die Boote fahren nicht mehr aus...

Mit Außenbordmotorbooten wird sich John wohl auch gut auskennen. Fischfang düfte auch nach dem Verlassen der Blaskets weiterhin eine wichtige Nahrungsquelle gewesen sein. Aus der Frage nach dem Weg zum Pub wurde ein zweistündige Unterhaltung - und es wäre vielleicht noch länger geworden, hätten mich Magenknurren und Durst nicht an meine ursprüngliche Frage erinnert. Wahrscheinlich hat John auch an der Ausstellung über die Geschichte der Blaskets mitgearbeitet, für welche unweit von hier ein Museum errichtet wurde, aber das ist in dieser Abendstunde längst geschlossen. Es wäre wohl auch nicht so kurzweilig geworden.

Das Pub ist leer, ein altes Mütterchen wuselt hinter dem Thresen herum, ich bin der einzige Gast. Nein, zu essen gibt es nichts. Das ist eine Kneipe, hier wird getrunken. Nun, ja, dann trinke ich mein Dinner heute, a Pint of Guinness, please. An der Wand hängen Fotos amerikanischer Schauspiellegenden, bekannt ist mir Robert Mitchum. 1970 wurde "Ryan's " hier gedreht, erläutert ein Zettel daneben - und 1991 "Far and away" mit Nicole Kidman und Tom Cruise. Da war das Pub gewiss nicht nur voller Hollywood-Leute und an den "Feierabenden" ging manche Flasche Whiskey mehr über den Tresen. Ein Dorfbewohner kommt und unterhält sich mit der alten Wirtin auf gälisch. Sie könnte damals auch schon gekellnert haben und Robert Mitchum die Luft aus dem Whiskey-Glas entfernt haben haben.

Dann kommt ein Pärchen in Motorradfahrerkluft und spielt Billard. Ein weitere Pärchen setzt sich zu mir an den Tisch, es ist der einzige an einem großen Fenster. Von hier kann der Blick hinaus zu den Inseln im Atlantik schweifen - eine kegelförmige Inselberg ragt besonders imposant heraus, der Tearaght - danach kommt eine Weile nur Atlantik, offene See, die nächste Insel ist Liberty Island, Manhatton, New York.

Ich werde auch hier wegen meines Rades angesprochen und antworte also, was mein Plan ist. Sie mache so was ähnliches, sagt die junge Frau zu mir. - Sososo, wo ist denn das dazugehörige Rad? - Nein, nicht per Rad, sondern per Anhalter. - Hm, aus meiner Sicht ist das nicht so richtig vergleichbar, aber das behalte ich für mich. Für sie mag es ein tollkühnes Unternehmen sein. Möge sie dabei immer an so nette Fahrer geraten wie den eloquenten Enddreißger, der sie hierher gebracht hat. Sie ist hübsch, jeder Kerl hält an, wenn eine hübsche Blonde den Daumen in den Wind streckt. So was ähnliches, na ja...


> Camp > Tralee

16. Juli
Ich blieb doch nicht allein in meinem Zimmer. Ein bischen Geschnarche war zu hören, aber es war auszuhalten. Ich stehe zeitig auf, um mein Rad aufzubocken - die Kette hat sich nach den ersten 500 Kilometern gelockert und muss nachgespannt werden. Es nieselt etwas. Gestern so schön, und heute? Ich lasse mir beim Frühstück Zeit - mit der Hoffnung auf besseres Wetter... Aber das sieht eher nach mehr Regen aus. Regencape an und los. Über eine Bergstraße vollende ich die Runde in den Ort Dingle, dort muss ich mich an einer Tanke unterstellen. Regen und Wind sind sehr stark geworden.

Es hört und hört nicht auf. Weiter! Wieder unten in Dingle lässt es dann doch etwas nach, aber der Connor Pass verbietet sich unter diesen Bedingungen. Der Autor des Radreiseführers warnt vor schlechten Sichtweiten, er hat die Strecke bei Dauerregen gemacht. Von Motorfahrzeugen wird man dann erst spät wahrgenommen, das ist gefährlich. Gelegentlich fallen mir an den Rändern kurviger Landstraßen Gedenkstätten tödlich verunglückter Verkehrsteilnehmer auf. Sein junges Leben endete durch einen Autounfall, verkündet die Inschrift - und in Klammern ist ergänzt: auf dem Rücksitz... Ohne eigenes Verschulden, soll das wohl heißen.

Die Gipfel der Berge hängen im dicken Nebel, deshalb bleibe ich also unten, an der Südküste. Aber bei Anascaul muss ich dennoch in die Berge, auf der N 86, die gut ausgebaut ist und einen separaten Radweg hat, geht es endlich über einen Pass nicht minderer Höhe. Den größten Teil der Strecke muss ich schieben, am Bergkamm pfeift der Fallwind und treibt den Regen waagerecht über die Straße, mal von der Seite, mal von vorne, extreme Bedingungen selbst zum Schieben. Außerdem weiche ich langsam auf.

Als der Gipfel bezwungen ist, bekomme ich den Fallwind nur noch von hinten, ein Stück tiefer am Hang wird es schlagartig besser. Der Wind hört auf und der regen ist wie weggeblasen, sogar die Sonne lässt sich wieder blicken! Ich rolle hinunter an die Nordküste der Peninsula. Im Küstenort Camp bietet sich die "Junction Bar" mit ihrem Blick auf die See für ein wohlverdientes Päuschen an. Da es wieder zu regnen beginnt, wird es eine längere Pause - mit Knoblauch-Sandwich und Bier. Gegen sieben erreiche ich Tralee, eine größere Stadt, in der es auch ein Leben jenseits Gastronomie und Souvenirläden gibt. In Finnegan's Hostel bekomme ich ein preiswertes Zimmer, ganz zentral gelegen und in der Nachbarschaft teurer Hotels. Auf der Straße höre ich viel deutsch, genauer gesagt: sächsich. Hier also hat Aldi Nord die Busladungen ostdeutscher Rentner einquartiert, die schon immer mal nach Irland wollten.

In Bail's Corner spielt ein gererationsübergreifendes Trio, The Extra Stout Band steht an der Kreidetafel. Die Gitarre spielt der junge Sänger, Akkordeon und Flöte steuern zwei ältere Kollegen bei, mittels Mikrofonen leicht verstärkt. Eigene Einlagen beizusteuern ist erwünscht,das Angebot nimmt ein weiterer Sänger und Gitarrist an. Ich habe mich zwar direkt bei den Musikern platziert, halte mich heute aber mal ganz raus und genieße einfach nur die besondere Gesangskunst. Zudem scheue ich das Mikrofon generell, aus Prizip, denn diese Erfindung macht das Publikum weniger sensibel, die Musik zur Nebensache, zum Hintergrundsound für Geschwätz und Gekicher. Nach einem anstrengenden Radeltag mit steilen Anstiegen und stürmigen Regenfronten kann ich auch mal nur lauschen und zuschauen - im traulichen Bund mit einem Pint Guinness.


> Ballybunion > Talbert > Kilrush

17. Juli
Full Irish Breakfast? fragt mich eine der Kellnerinnen. Lieber "Continental Breakfast" antworte ich. Daraufhin übernimmt die Chefin und fragt, was "continental" denn bedeute. Ich kann nicht glauben, dass ich der erste sein soll, der - wenn man schon gefragt wird – an einer Alternative interessiert ist. Was sie mir binnen weniger Minuten dann serviert, lässt keine Wünsche offen! Und immer wieder schaut die gute Frau nach, ob alle Gäste zufrieden sind. Everything okay, sweetheart? fragt sie mich. Hat mich jemals zuvor ein Weib Sweetheart genannt? Vielleicht ist es ein guter alter Brauch, dem zahlenden Gast derartig zu schmeicheln.

Wo ich denn von ihrem Hostel erfahren habe, fragt mich die Lady. Ein Schild am Straßenrand, 10 Kilometer vor der Stadt, etwas von Gestrüpp überwuchert, eigentlich nur lesbar, wenn man sich mit dem Rad nähert... Es könnte mal erneuert werden, wage ich anzumerken. Nun, die Geschäfte liefen nicht so gut die letzten Jahre, deshalb habe man nichts investieren können, aber jetzt laufe es wieder besser. Bei einer so ungewöhnlichen Irland-Rundreise per Rad würde ich doch bestimmt einen Blog oder dergleichen publizieren. Es wäre nett, wenn ich Finnegan's Hostel darin erwähne. Das mache ich gern, sehr gern. Dennoch könnte das Schild erneuert werden - für internetresistente Überbleibsel aus dem 20. Jahrhundert und für den von Apps noch verschonten Menschenrest.

Aus der Stadt hinaus geht es erst gemächlich, dann steiler die Berge hinauf. Ortschaften, die mit dem Wort Bally anfangen, häufen sich: Bullyduff, Ballybunion. Letzteres ist ein Urlaubskaff - im Unterschied zum Touristenkaff lockt ein Urlaubskaff einheimische Gäste zu einem stationären Aufenthalt an. Und weil auch die irischen Urlauber ihren Kindern bei schlechtem Wetter mal was anderes als virtuelle Leichen im Kino und Fernsehen bieten wollen, gibt es hier die gleichen Spielkasinos wie an den Küsten Englands - mit brutalen Ballerspielen, in denen sich virtuelle Rambos mit endlosen MG-Salven durchs virtuelle Leben schießen! Schlimm ist das.

An der Lana Bhuideil (Bottle Lane) ragen die Mauern einer mittelalterlichen Festungsruine über die felsige Küste. Nach einer kurzen Pause mit Waffeleis schwinge ich mich wieder in den Sattel. Auf den dörflichen, als Wild Atlantic Way ausgeschilderten Küstenstraßen laufen die Hunde manchmal frei herum. Während sie den motorisierten Verkehr längst ignorieren, ist ein Radfahrer durchaus noch ein lohnendes Angriffsziel. Bei einem dieser kläffenden Köter wurde mir wirklich bange - erst durch eine kleine Abfahrt konnte ich ihn abschütteln. Heinrich Böll erwähnte im Nachwort einer Neuauflage seines Irischen Tagebuchs, etwa ein Jahrzehnt nach seinen ersten Reisen, die Hunde hätten sich inzwischen an Autos gewöhnt und ließen sich von diesen nicht mehr aus der Ruhe bringen...

Wenn Böll nur erfahren könnte, wie bedroht die Waden eines Radfahrers 50 Jahre später sind! Der Literaturnobelpreisträger würde heute wohl über manches mehr staunen. Das einstige Armenhaus Westeuropas hat sich seit seinem Beitritt zur EU (1973) sehr verändert, sogar im Vergleich zu meiner ersten Reise im Jahre 1995 kann ich Fortschritte konstatieren. Damals gab es noch deutlich weniger Verkehr und im Pub lauschte man den Musikern noch mit aller Inbrunst - jedenfalls war das so in Pepper's Bar an einer T-Junction bei Feakle, County Clare, damals, vor 20 Jahren.

Nach der Sperrstunde ging es im Pub besonders leise zu. Schwarz gebrannter Whisky, ein süffisantes Thema alter Folksongs, war in den abgelegenen Orten allgegenwärtig. In einem im Wald versteckten, nur zu Fuß zugänglichen Cottage wohnten zwei junge Zivilisationsaussteiger aus England und erfreuten sich eine Lebens abgeschiedener Zweisamkeit ohne Strom und Telefon - ebenso ein einzelner Aussteiger aus London, der mit seinem Hund in einem alten Karavanwagen im Wald hinter Scariff lebte, bei ihm lernte ich damals das Trommeln des Bodhrán. In einem der restaurierten Cottages an einem See - ich erinnere mich nicht mehr, wo genau es war - sei Sarah Wagenknecht, ein- und ausgegangen, erzählte mir ein Nachbar des Anwesens.

Das irische Wetter habe sich geändert - infolge des Klimawandels, sagen die Einheimischen. Wochenlanger Sonnenschein, das sei in den vergangenen Sommern schon vorgekommen. Nur in diesem Jahr scheint es sehr irisch zu sein - und mehr als das: We are still waiting for the summer... Für seinen Versuch "Über den irischen Regen", dem man nicht gerecht werde, wenn man ihn als schlechtes Wetter bezeichne, würde ich Böll am liebsten den Nobelpreis aberkennen. Begründung: Der Schreibtisch-Ire Böll sinniert zwar geistreich über die Zunge einer Pfütze, die sich in sein Quartier schlängelte, aber so richtig nach Hautkontakt mit dem irischen Regen liest sich das ganz und gar nicht...

Regen als schlechtes Wetter zu bezeichnen ist sehr wohl rechtens. Wenn man beinahe jeden Tag die Nässe spürt, fallen einem sogar noch andere Wörter als nur „schlecht“ ein... Vielleicht schreibe ich später selbst ein Essay über den Irischen Regen. Das muss dann aber wirklich wasserdicht und im Windkanal getestet sein. Ich mache die Fahrt also zur großen Regenerforschungstour, empirische Ergebnisse habe ich bereits.

Ein Schild verweist auf die "Bromore Cliffs", mittels eines kleinen Parkplatzes versucht der Eigentümer des Landes den Blick auf die Klippen zu verkaufen - die Parkgebühr entspricht in etwa der Anzahl der Fahrzeugreifen, von Radfahrern verlangt er zwei Euro... Nicht dass ich dem Mann die Einnahme nicht gönnen würde, aber mein Geiz sagt: nein! Irland hat Tausende Kilometer Küste voll von unzählbaren Klippen, aber meine Reisekasse hat nicht Tausende von Euros.

Am späten Nachmittag erreiche ich Tabert an der weiten Mündung des Shannon. Die Stadt wirkt eher öde und verlassen, aber das liegt wohl auch wieder am endlosen Regen. Deshalb gleich weiter zum Fährhafen, wo gerade eine Fähre abgelegt hat. Doch vom anderen Ufer kommt nähert sich schon die nächste Fähre, nach einer halben Stunde überquere ich den stürmende Mündung. Dann halte ich mich westwärts, über einen Berg, nach Killrush. Schlimmer als der Anstieg ist diesmal die Abfahrt! Denn der Wind drückt mir so stark entgegen, dass ich trotz Gefälles zum Stehen käme, wenn ich nicht in die Pedalen treten würde.

An der Küste bekomme ich die Sturmböen von der Seeseite und muss absteigen, um nicht aus dem Sattel gefegt zu werden. Flut und Wind haben auch einiges Wasser auf die Straße geschoben. Um trockenen Fußes durchzukommen, müsste ich aufsteigen und radeln - zu gefährlich. Im Windschatten einer Anhöhe gelange ich in die ruhige alte Kleinstadt, die von der Unesco einen Weltkulturerbe-Titel erhielt, weil sie so selten gut im alten irischen Stil erhalten blieb. Die Sonne bricht durch die Wolken und wirft ein prächtiges Lichterspiel in die nass glitzernden Straßen. Die sind dennoch leer, nicht nur von Fußgängern, auch Autos sind nur wenige geparkt.

In Katie's Hostel gibt es nur Mehrbettzimmer, aber ich bekomme eines für mich allein, nachdem ich ihr verrate, dass ich die Nacht ungern mit Schnarchern in einem Raum verbringe. Herbergsgroßmütterchen Katie O'Connor interessiert sich dafür, wie ich zu ihrem Hostel gefunden habe – offenbar finden es ja doch nur wenige. Ja, es ist erstaunlich ruhig für einen Weltkulturerbe-Ort. Wie in Tralee werde ich auch hier gebeten, die Adresse publik zu machen. Sie hat mein musikalisches Gepäck sofort erkannt, empfiehlt mir ein Pub, gleich hinter der zentralen Kreuzung, das Buggle. Seisiun tonight steht auf einem Schild im Fenster - und, etwas kleiner: The best of traditional music. Hier bin ich richtig.

Gibt es etwas zum essen? - Nein. - Um die Ecke sei ein Shipper. Ein was? - Fish & Ships. Fastfood also, aber besser als gar nichts zu essen. Die Ukulele lasse ich gleich im Buggle. Als ich zurückkomme, sind die Musiker schon da: ein alter Mann mit Banjo und eine junge Frau mit einem kleinen Knopfakkordeon, vielleicht ist es ein Bandoeon oder ein speziell irische Bauart davon. Das Pub, kaum größer als ein Wohnzimmer, nur drei kleine Tische mit Bänken an der Wand, Hocker an den anderen Wänden und in einer Nische zwischen Bar und Fenster, füllt sich rasch. Der Mann am Banjo stellt sich als James O' Halloyan vor, die Akkordeonistin heißt Caoimhe Millar. So irisch die Namen, so irische die Musik - sehr traditionell. Ich bekomme ein Zeichen, dass ich dran bin. Ich zupfe eine Polka - was Flottes, um dem Banjo Paroli bieten zu können. Das kommt gut an - ich werde aufgefordert, nachzulegen: "Alle Brünnlein" als Gruß aus meiner Heimat.

Ein junges deutsches Pärchen gesellt sich an den Nebentisch – auf die letzten freien Plätze. Auch zwei Schweitzer kommen noch dazu. Ich behalte meine Herkunft für mich, weil ich keinen Bock auf deutsches Gelaber habe. Ich will Musik hören, keine Gespräche führen. Die Deutschen werden gefragt, ob sie auch was singen wollen. Der junge Mann sucht in seinem iPhone nach einer Textseite: Über den Wolken... Er singt die alte Reinhard-Mai-Ballade stimmlich wie rhythmisch so grausig daneben, dass ich nicht anders kann, als ihm gesanglich beizustehen - um die Ehre der Nation zu retten.

Ein Ire lässt sich ein Paar Löffel geben und klappert einige Instrumentalstücke mit, eine Malerin malt die Musiker, nur schemenhaft - man kann ja nicht stillhalten beim Musizieren. A-cappella-Gesangseinlagen von Einheimischen ergänzen das Repertoire. Und wenn man mitten drin ist in seiner so kleinen, gemütlichen Musikrunde, dann ist es natürlich am allerbesten - ein irischer Abend, wie man es sich nicht besser wünschen kann.


> Ennis

18. Juli
Ich lese die Zettel, die Katie an die Türen geheftet hat. Sie erläutern, wie die Räume in ihrer Kindheit genutzt wurden. Das fensterlose und deshalb etwas muffig riechende Zimmer, in dem ich heute Nacht schlief, war damals ein Lagerraum. Säcke von Mehl und Zucker lagerten hier, in der Weihnachtszeit auch duftende Luxusartikel: Tee, Schokolade, Tabak. Katie war, so lese ich, die penible Buchhalterin, die mit dem Schlüssel um den Hals darüber wachte, dass nichts abhanden kam...

Ich verlasse Killrush in aller Frühe. Nach Ennis im hügeligen Landesinneren will ich heute radeln. Das sind zwar nur 50 Kilometer, aber es ist Samstag und Ennis ist die kulturelle Hauptstadt des County Clare. Ich muss damit rechnen, dass dort einiger Andrang ist. Deshalb will ich zeitig genug dort sein, ein günstiges Quartier zu finden. Über Regional- und Landstraßen will ich mich der Hauptstadt von Clare nähern. Auf der R 483 komme ich bis Cooraclar, dann nehme ich die L2014 nach Kilmihil. Dort wird der Regen so heftig, dass ich nicht mehr auf die Karte schaue kann - sie würde durchweicht, wenn ich sie aufschlüge. Ich muss mich an den Straßenschildern nach Ennis orientieren, gerateversehentlich auf die stark befahrene Nationalstraße N68.

Auf einer langgestreckten Abfahrt gewinne ich Tempo - und will das halten, um den Schwung für den nächsten, bereits sichtbaren Anstieg nutzen zu können. Vor einem am Straßenrand geparkten Kleinbus winkt eine Frau. Ich bin auf der geraden Abfahrt in so gutem Schwung, dass ich gar nicht so schnell zum Halten komme. Ich zögere nur kurz, entscheide mich aber, den Schwung, den ich mir nach langer Schieberei wahrlich verdient habe, zu nutzen. Als die Frau mich ein kurzes Weilchen später in der Talsohle überholt und erneut anhält, bremse ich ab. Eine Panne hatte sie schonmal nicht, das dürfte somit klar sein. Das Fenster öffnet sich, rechts neben ihr sitzt eine jüngere Frau, vielleicht ihre Tochter. Die ältere Frau verweist auf die Kinder im hinteren Teil Fahrzeuges. Die Kinder hätten heute noch nichts gegessen, ob ich Geld für sie hätte...

Habe ich Sie richtig verstanden? Sie fragen mich nach Geld? - Yes, money, cash... Zwei in einem ziemlich neuen Auto fahrende Frauen, von denen sich eine gerade ein Zigarette anzündet, halten einen Radfahrer an, nur um ihn anzubetteln! Das ist ja der Gipfel an Dreistigkeit. Sie wollen Geld von mir? Ich kann es kaum fassen, dass Menschen so dreist, so ungeniert um Geld betteln können - mit der brennenden Zigarette im Maul nach Geld fragen, um angeblich ihre Kinder ernähren zu können. Dann fange ich mich und erwidere: Sell you car - and you have money enough!

Schnell surrt die Autoscheibe wieder hoch - kein Wort, keine Höflichkeitsfloskel, kein Sorry - und die Frauen mit ihren "hungrigen" Kindern fahren schnell von dannen. Sie belügen nicht nur mich, sondern sie bringen ihren Kindern bei, wie man sich skrupellos durchs Leben schwindelt! Was aus diesen Kindern eines tages wird, ist jetzt schon abzusehen. Wahrscheinlich kann ich noch von Glück reden, dass die Frau nur gefragt hat, dass es bei dem dreisten Versuch blieb. Diebesgesindel!
An dieser Stelle hat Irland für mich nun seine Unschuld verloren. Die Zeit der offenen Türen, die ich vor 20 Jahren noch kennenlernen durfte, ist vorbei.

Ennis ist, wie in der Reiseliteratur beschrieben, ein pulsierendes Städtchen, seit Mitte der 1970er das Mekka der traditionellen irischen Musik, mit Beginn des Internetzeitalters auch eine Hochburg für die allgegenwärtige elektronische Vernetzung, lese ich. In meiner Erinnerung aus dem Jahre 1995 ist Ennis recht beschaulich - vielleicht war es damals auch noch. Das Rowen Tree Hostel, etwas abseits der Geschäftsstraßen, schön hinter einer alten Brücke über den Fergus gelegen, sieht nach viel Betrieb aus, Einzelzimmer gibt es nicht. Ich fürchte, wenn abends die Pubs schließen, stürmen hier womöglich partygeile Jugendliche in die Zimmer. Ich lehne ab und drehe eine Runde durch die Stadt.

In den engen Gassen, in den Einbahnstraßen der Abbey Street und der High Street, findet sich manches ehrwürdig alte Hotel, ein Blick ins noble Grand Hotel macht klar: nix für meine bescheidenen Mittel. Das Durchfragen nach günstigeren Alternativen führt mich zum Market Place. Das Banner Lodge Accomodation ist ein preiswertes Guest House mit Einzelzimmern, aber leider ausgebucht. Auch in den Außenbezirken der kleinen Stadt finde ich kein freies Zimmer. Zurück zur City. An der Cathedral of Saints Peter and Paul staut eine Menschenansammlung den Verkehr - eine pompös zelebrierte Hochzeit lockt Schaulustige: Stretch-Limousinen säumen den Platz, eine rosa Kutsche mit gläserner Kugel als Passagierkabine zieht die Aufmerksamkeit auf sich - die Braut in ihrem ausladenden Barock-Kleid ist ein Eyecatcher.

Wie kommt eine Frau, die nun die Achse eines sich im Radius von Metern um sie herum ausbreitenden Kleides bildet, in eine Kutsche, deren Eingang nur einen Meter breit ist? Antwort: Mit viel Schieben, Drücken, Quetschen. Einige Minuten dauert das Einsteigen, dann füllt das Brautkleid das Innere der Kabine. Der Bräutigam passt nicht mehr hinein. Braut, Brautkleid und Hochzeitskutsche sind jetzt eins. Der Kutscher, im feinen Smoking und mit Zylinder von seiner Bank herabschauend, grübelt schon, wie sich die Braut und sein Fahrzeug nachher wieder voneinander trennen lassen.

Das Gesicht der Braut lässt das Gefühl der Beklemmung erkennen. Was für eine bildreiche Vorwegnahme von Gefangenschaft! Gefangen in einem pompösen Kleid, in einer kitschigen Kutsche, einem fahrenden Käfig in Rosarot - eine glückliche Braut sieht anders aus. Ohne fremde Hilfe kommt sie weder aus dem einen noch aus dem anderen jemals heraus. Möge sie diesen besonderen Tag, diesen Abschied aus einem selbstbestimmten Leben, niemals vergessen.

Zurück zum Rowen Tree, bevor es zu spät ist. Glück gehabt, es gibt noch freie Betten. Als ich einchecke, ist mein Zimmer sogar noch gänzlich leer - aber das wird an einem Samstag mitten im Sommer nicht lange so bleiben. Ich ruhe mich etwas aus, dann beginnt es heftig zu regnen. Erst später am Abend lässt es nach und ermöglicht noch einen Kneipenbummel. Entgegen allen Erwartungen an die vermeintliche Musikhauptstadt finde ich kein Pub mit Session. Noch vor Einbruch der Dunkelheit treibt mich der erneut einsetzende Regen ins Hostel zurück.


> Tulla > Feakle < Scarriff

19. Juli
Sonntag. Das Frühstücksbuffet ist dürftig, typisch Jugendherberge: Toast, Margarine, Marmelade - mehr ist für 35 Euro im Fünfbettzimmer nicht zu erwarten? Zum Glück war das Zimmer nicht voll, aber der eine junge Mann, mit dem ich es zu teilen hatte, schnarchte für fünf... Beim Frühstück treffe ich Michel, einen belgischen Radler, den ich bereits in Dunquin traf, im westlichsten Youth Hostel Irlands. Michel ist schon seit Ende Juni auf der Insel - als Rentner hat er alle Zeit der Welt, erst Mitte September will er wieder zuhause sein. Was ihn an Irland ärgert, ist, dass es ohne Kreditkarte kaum möglich sei, ein Zimmer im Voraus zu buchen. Wollen sich die Herbergen so gegen nicht eingelösten Buchungen absichern?

Mich tangiert das weniger, da ich wegen des Diebstahls meiner Geldkarten ohnehin nur mit Bargeld zahlen und also nirgends etwas im Voraus buchen kann. Tausend Euro in bar schleppe ich in der Konsequenz mit mir herum. Ich hatte keine andere Wahl - außer zuhause bleiben. Der Belgier erzählt mir vom Missbrauch seiner Kreditkarte und dass er deshalb lieber darauf verzichte. Eine Kreditkarte ist nach seiner Schilderung ein Blankocheck, etwa an ein Hotel, das dann kassieren kann, auch ohne persönliche Zustimmung des Kartenbesitzers. Wir verabschieden uns. Vielleicht trifft man sich in Galway wieder.

Abgesehen von der Küstenstraße im nördlichen Kerry sind die Straßen hier im Landesinneren die ruhigsten, die ich bisher fuhr. Der Regengott ist heute gnädig mit mir - er lässt es nur nieseln. Ich durchfahre Tulla und bereits kurz nach Mittag erreiche ich Feakle, ein Zeilendörfchen mit einem für mich legendären Pub. Am Abzweig zum benachbarten Dörfchen Kilbarron wird mittels eines Denkmales des von da stammenden Folkbarden Johnny Patterson gedacht - Mitte des 19. Jahrhunderts erlangte der über die Landesgrenzen hinaus eine Popularität als Sänger, Clown, Geschichtenerzähler. Ein Talentscout aus England hatte ihn in Cork entdeckt und von da in die englische Zirkuswelt geholt.

Als ich das Denkmal von weiten erblickte, nahm ich an, es könnte einer der Musikerlegenden der Tulla Céilí Band gewidmet sein, die ich vor 20 Jahren während einer Session in Pepper’s Bar kennenlernte. Damals kam ich völlig ahnungslos an diesen Ort, erlebte hier ein Stück ganz besonders traditionelles Irland. Die alten Männer konnten damals noch ohne das heute übliche Gejohle der Touristen spielen. Im Grunde genommen ist der Treffpunk t eine öffentliche Probe. Das Publikum war damals muxmäuschenstill, ja, man könnte sage, es hielt die Luft an. Wenn der letzte Ton eines Liedes verklang, hörte man die Menschen atmen, bevor sie geflüsterte Kommentare von sich gaben: lovely, so nice...

Als ich in Pepper’s eintreffe, essen dort alte Männer zu Mittag - na, sagen wir: sie trinken ihr Pint, vielleicht einen Whiskey oder zwei. Es ist Sonntag, gebetet hat man schon. Im ländlichen Irland hängt man - als Mann - den Rest des Tages in der Dorfkneipe ab. Heute Abend gäbe es keine Session, sagt Gary Pepper, der Wirt des Pubs, aber Livemusic gibt es zum Sonntagabend immer. Gibt es auch ein Zimmer? Nein, das nicht. Aber ich könnte es unten im Dorf versuchen, in Loughanan's Accomodation. Als ich dort ankomme, ist geschlossen, niemand da. Nach einer Weile kommt ein Mann aus einem benachbarten Haus. Es ist der Besitzer, der einigermaßen überrascht ist, dass jemand so ganz ohne Voranmeldung hier auftaucht.

Ja, klar ist was frei, das ganze Haus ist frei! Wer kommt schon nach Feakle, ein Dorf fernab aller touristischen Wege! Wenn nicht gerade das Feakle Festival stattfindet, eine der zahlreichen Musikfestivitäten irischer Sommermonate, kommen nur Leute aus der Umgebung hierher - und die fahren nachts wieder nachhause. Ich erzähle ihm, weshalb ich hierher gekommen bin: wegen früher, wegen damals, vor 20 Jahren... Bitte schreib über uns, good boy! sagt der Wirt. Die letzten Gäste übernachteten vor Wochen hier, das waren Musiker, die im Pepper’s Bar auftraten.

Bis um 10 - eher fängt auch auf dem Lande kein Musikabend an - ist noch viel Zeit. Ich nehme alles Gepäck vom Rad und mache mich auf eine Tour nach Scariff am Lough Dergh, etwa 10 Kilometer über die Hügel. In Scariff suche ich gleichfalls nach Spuren von einst. Auch hier gab es eine Kneipe mit Session, da spielte ich auf meiner geliebten Washburn, dem Replikat einer Westerngitarre des 19. Jahrhunderts. Alle anwesenden Gitarristen bewunderten damals die verhältnismäßig kleine Gitarre, spielten darauf. Ein Jahr später, auf einer Tour in Kopenhagen, wurde sie mir geklaut, der teuerste, der schmerzlichste Verlust meines Musikerlebens.

Vor dem größten Pub in Scariff spricht mich ein rauchender alter Mann an - mein Rad ist immer ein Gesprächseinstieg. Ich erzähle ihm meine Geschichte. Er meint, das von mir gesuchte Pub könne nur das Merriman Inn gewesen sein, ein paar Häuser weiter - da habe es damals Sessions gegeben und die aus meiner Erinnerung geschilderte Beschreibung des holzgetäfelten Interieurs würde passen. Ist da noch was los?

Nein, der Laden ist seit einer Weile dicht, der Besitzer ist gestorben. Aber es war mit Sicherheit dort, sagt der Mann, zu dem sich inzwischen weitere Raucher gesellt haben. Auch die anderen Männer stimmen zu. Seltsam, dass solch eine Nebensächlichkeit so viel Aufmerksamkeit bewirkt. Naja, wann kommt schon mal ein einzelner Fremder aus Deutschland angeradelt und fragt, wo hier vor 20 Jahren das Pub mit den Musikabenden war? Vielleicht ist das heute Abend noch ein Gesprächsthema am Stammtisch.

Zurück nach Feakle. Durch waldige Landschaft und wieder die Hügel hinauf. Am offenen Eingang zu einem malerischen Hof von Steinhäusern muss ich verschnaufen - Leapfield House, built 1835, steht auf einer verwitterten alten Blechtafel. Ich traue mich ein paar Schritte in den Hof, wo Katzen den Tag verdösen und Hühner gackern. Wäsche hängt auf einer Leine. Stünde da nicht auch ein älteres Auto in einer Nische, könnte man sich in jenes Jahr 1835 zurückversetzt fühlen. Am Steilhang hinter dem Hof weiden Schafe - irische Idylle.

Gegen 7 bin ich wieder bei Pepper' Bar. Ich bestelle mir eine Portion Lachs, man kann sich nicht dauern nur von Brot und Cheddar ernähren. Dann greife ich zum Taschentelefon, erstmals seit zwei Wochen. Ich rufe meiner Mutter an, denn dieser Ort ist uns beiden heilig - wir waren damals zusammen hier und hatten mit unseren Gastgebern die Mittwochabend-Session besucht. Ich erinnere mich, wie sie mich eine Woche später fragte, ob sie denn wieder mit zur Session kommen dürfe. - Klar, antwortete ich, aber zurück zum Quartier geht es erst, wenn der letzte Ton verklungen ist! Der letzte Ton verklang damals weit nach Mitternacht. Eigentlich ging es nach der Sperrstunde, wenn die Polizeistreife durch war, erst richtig los.

Der Qualm von Zigaretten, Zigarren und Pfeifen war undurchdringlich, und die Fenster blieben dicht, damit von außen nichts zu hören war… Das war wohl auch ein Grund, warum damals alles so leise zuging, kein Gejohle, kein Klatschen, nur Flüstern. Die örtlichen Ordnungshüter drückten wohl immer auch ein Ohr zu und schauten nicht so genau nach. Wollte jemand eher hinaus, warf der Wirt immer erst einen prüfenden Blick nach draußen. Bei diesen Gelegenheiten wurde auch kurz durchgelüftet, dann ging es weiter.

Damals, im April 1995, wusste ich nicht, dass die alten Herren der Tulla Ceili Band eine irische Musiklegende sind. Nicht nur die Väter und Großväter spielten da auf, auch die Söhne und Enkel, darunter der Geiger Martin Hayes, der hier in der Nähe wohnt. Derzeitig sei er auf Tournee in Montana, das ist irgendwo in Amerika, sagt Gary. Ich frage ihn nach Tony Rose, den ich damals bei der ersten Session kennengelernt und gefragt hatte, ob er mir das Bodhrán beibringen könnte. Klar, ich könne ihn zuhause besuchen. Sein Zuhause war damals ein Planwagen, mitten im Wald, wo er mit seinem Schäferhund wohnte.

Ich frage auch andere Leute nach Tony, auch im Tante Emma-Laden von Feakle. Jeder kennt ihn, aber: Nein, Tony war schon Jahre nicht mehr hier - wohin er ging, weiß niemand. Mir hatte er damals erzählt, er komme aus London und sei quasi vor dem Drogendschungel der englischen Metropole geflohen. Hier schien er damals gute Zuflucht und Frieden gefunden zu haben. Schade, dass er fort ist. Ich hätte ihn gern noch einmal getroffen - und es wäre bestimmt auch für ihn eine Überraschung besonderer Art geworden.

So erhielt ich also damals meine erste Lektion Bodhrán inmitten eines irischen Waldes, irgendwo bei Feakle, und eine zweite Stunde auf einer Wiese am Ufer des Lough Derg, bei Mountshannon. Die Trommel kaufte ich mir im kleinen Küstenort Roundstone im südlichen Connemara, wo Irlands Bodhráns in allen Bauarten hergestellt werden. Als ich Toni zwei Tage später wieder traf, fragte ich ihn, ob ich mein Bodhrán zur nächsten Session in Pepper’s Bar mitbringen könnte? Why not, sagte Tony.

Hätte ich damals schon gewusst, dass ich dort im Kreise einer irischen Musiklegende trommeln würde, wäre ich wahrscheinlich nicht so vermessen gewesen, solch eine Frage überhaupt zu stellen. Bei meinen ersten Versuchen trommelte ich vorsichtig und leise genug - wer will den alten Männern schon ins Handwerk pfuschen! Aber Tony ermutigte mich mit entsprechenden Gesten, etwas beherzter zu trommeln. Das tat ich dann auch - für den Rest des Abends war ich quasi ein Mitglied der Tulla Céilí Band. Ob Toni noch lebt? Er war schon damals ein alter Junge...

Heute ist heute - wozu in alten Erinnerungen schwelgen? Heute spielt ein Duo, aber die Musiker sind immer offen für Einlagen von Gästen, sagt Gary. In Loughanan's Accomodation singe ich mich etwas ein, ich habe ja das ganze Haus für mich. Leichte Nieselschauer erinnern mich daran, dass die Iren noch immer auf den Sommer warten und dass ich meine Ukulele für den Weg zu Pepper's wasserfest verpacken muss. Falls es an diesem - für mich so historischen - Ort doch ein Pint mehr wird, will ich lieber aufs Rad verzichten. Etwa 20 Minuten sind es zu Fuß.

Als ich um 10 eintreffe, ist der Laden voll, gerade noch ein Platz an einem Tisch mit zwei alten Damen. Sie sehen mich und bieten mir den Platz sofort an – Amerikanerinnen. Was singt der da immer von "Dollar alone"? fragt eine der Ladies. "Molly Malone", erkläre ich ihnen, der Name der im Lied besungenen Frau... Pepper's Bar ist lschon länger nicht mehr der Treffpunkt für Insider. Mit etwa zehn Tischen ist der Saal gut ausgefüllt, die kleine Bühne ist nicht für mehr als ein Duo geeignet, höchstens für drei Musiker wäre Platz.

Der Sänger lockert die Vorträge mit der gelegentlichen Frage nach dem Woher der Gäste auf. Etliche Gäste sind Amerikaner, stolz nennen sie, wie es in den USA üblich ist, den Namen ihrer jeweiligen Bundesstaaten. Haben Sie auch ein Liedchen dabei? fragt der irische Sänger. Niemand traut sich. Da lasse ich mich nicht lange betteln - wann wenn nicht jetzt! Ich trage ein heimatliches Volkslied vor: "Wenn alle Brünnlein fließen". Anschließend erkläre ich, dass es in dem Lied ums Trinken gehe - und um ein schönes Mädchen. Ach so, na dann ist es ja ein irisches Lied, sagt Seán Kelly, der Gitarrist. Der Lacher ist ihm sicher - und mir eine Zugabe. Für die Amerikaner singe ich mein seit Jahren geübtes Memphis in June.

Danach brauchte ich kein Guinness mehr bestellen. Eines bekomme ich von den Ladies an meinem Tisch spendiert, ein weiteres von den Amerikanern. Seán Kelly und Andrew McNamarra (Akkordeon) spielen noch zwei Songs und beschließen mit Dirty Old Town, der ultimative Rausschmeißer-Song. Die Gäste zahlen und brechen auch zügig auf, die beiden Plätze an meinem Tisch werden frei. Ich habe noch ein halbvolle Guinness vor mir stehen. Seán packt seine Sachen, dann setzt er sich zu mir, lädt mich auf ein weiteres Guinness ein. Wir schwatzen ein Weilchen - auch über früher, als es hier noch ohne Mikrofon ging..

The times they are a-changing... Wir spielen noch ein paar Songs am Tisch, er spielt Blues, ich begleite ihn auf meiner neuen Mundharmonika, er reicht mir seine Gitarre - ich zupfe, was ich kann: Freight Train, Candy Man. Immer im Wechsel mit ihm. Seán meint, meine Stimme erinnere ihn an Alison Morris. Ich habe absolut keine Ahnung, wer das ist, in jedem Fall wird es wohl eine Schmeichelei sein. Er seinerseits singt "Magnolia“, eine Ballade von J.J. Cale. Beides, seine Stimme wie sein Gitarrenspiel, klingt wie das Original. Dann ist es Zeit für ihn, sein Kollege ruft. Er überreicht mir sein eben erst serviertes Guinness. Ich bin dann wohl der einzige, der Pepper's Bar als Fußgänger verlässt, nach vier Pints! Und es regnet, mal wieder.

Dabei ist es noch gar nicht so spät - gerade erst 1 Uhr, als ich zurück im Dörfchen bin. In Lena's Bar brennen noch Lichter. Ich drücke die Klinke, aber die Tür ist geschlossen. Schon will ich umkehren zu meinem Quartier, da öffnet mir die Chefin und lässt mich ein. Sie hatte mich schon nachmittags mit dem Rad auf der Straße gesehen. Da hatte ich meinen späteren Besuch schon angekündigt. Außer ihr sind nur ältere Männer in der Bar, die meisten hocken um einen Tisch und spielen Karten. 45 heißt das Spiel, die Regeln überschaue ich nicht, aber es werden Stiche gemacht. Die Teilnehmer haben Kleingeld vor sich aufgehäuft. Wahrscheinlich ist es illegal, um Geld zu spielen – vermutlich war daher die Tür verschlossen. Alle starren gebannt zu den Karten. Da erlebe ich dann also doch noch einen Einblick ins dörfliche Nachtleben.

Die Insel, auf der im 20. Jahrhundert von keinem Mann ein Foto ohne Pfeife oder Zigarette gemacht werden konnte, wurde zum Vorreiter der Enträucherung - das in Irland bereits seit 2004 geltende Rauchverbot wird sogar in der entlegensten Dorfkneipe eingehalten. Und ich staune: Niemand geht zum Rauchen hinaus. Die bemerkenswerte Abstinenz wird wahrscheinlich durch die hohe Tabaksteuer begünstigt: 10,70 muss man für das Päckchen Zigaretten hinblättern, das entspricht beinahe drei Pint Guinness...


> Galway

20. Juli
Montag. Ein Blick aus dem Fenster sagt: Es ist nass. Mit dem Frühstück und dem Packen des Rades vergeht eine Stunde. Gerade als ich losfahren will, beginnt es wieder zu regnen - und das mehr als genug. Alles ist grau und finster. Ich muss warten, bis es wenigstens nachlässt. Ich nutze die Zeit, um zwei Kategorien von Regen zu beschreiben - Kategorie A sind je drei Stufen von kürzeren, mittleren, langen Huschen (kuHu, miHu, laHu), Kategorie B sind jene mit viel Wind, wobei der von vorne (vovo) noch der berechenbarste ist. Schlimmer sind seitliche Winde und auch die rückwärtigen, die einem das Regencape über den Kopf pusten. Der absolute Hammer ist der Wind von allen Seiten, der durchaus typisch zu sein scheint - manches Cottage sind nach ihm benannt: Four Winds.

Der aktuelle Regen gehört in diese windige Kategorie B. Wenn man da gerade das Glück hat, noch im Trockenen sitzen zu können, gibt es auf der ganzen Welt keinen Grund, hinaus zu gehen und seine Eigenschaften näher zu bestimmen zu wollen. Eine Stunde später lässt es nach und hört bald sogar ganz auf. Es ist schon halb 11. Für einen Abstecher zu den berühmten Cliffs of Moher an der etwa 70 Kilometer entfernten Atlantikküste ist es einerseits zu spät und andererseits reizt es mich insgesamt weniger, weil ich den Anblick bereits von meiner Fahrt vor 20 Jahren kenne. So viel dürfte sich an den Steilklippen nicht geändert haben. Der Massentourismus hingegen hat sich weiterentwickelt, weiß jedes Irland-Reisebuch zu berichten. Deshalb lasse ich den Umweg gern weg und sehe zu, dass ich es heute bis Galway schaffe, eine Stadt, die ich bereits zweimal besuchte.

Einige Berge und zwei Stunden später bin ich in Gort und fahre östlich des Burren entlang - zu wenig Holz für einen Galgen, zu wenig Wasser, um einen Mann ertränken zu können, zu wenig Erde, um ihn zu verscharren... Was der General, dem dieser makabre Ausspruch zugeschrieben ist, nicht bemerkt, sind die Vorteile der Landschaft, an natürlichem Baumaterial für Cottages mangelt es nicht. Die Gletscher der letzten Eiszeit dürften hier die Gipfel des Karstgebirges geschliffen und auf diese weise unzählbare Felsbrocken übers Land verteilt haben - die muss man nur zerkleinern und schon hat man passende Steine genug.

Im kleinen Hafenort Kinvarra bin ich wieder an der Küste, an der Galway Bay, von hier muss ich mich ein Stück auf der N 67 quälen, ab Kilcolgan auf der noch stärker befahrenen N 18, erst ab Oranmore bin ich wieder auf einer ruhigen Regionalstraße, die mich - zur Abwechslung wieder mal mit starkem Regen der Kategorie B - 4 Winds - nach Galway führt. Klatschnass komme ich in der viel besungenen Stadt an. Deshalb bin ich Sachen Quartier nicht zu wählerisch und würde das erste, was halbwegs zentral liegt nehmen. Es ist die bisher größte Stadt meiner Irland-Tour, der Speckgürtel kommt mir vor wie der einer Millionenstadt - so habe ich es nicht in Erinnerung, aber vor 20 Jahren bin ich nicht geradelt.

Der Verkehr ist hektisch und die historische Altstadt laut und voller Gewühl. Die engen Straßen im Hafenviertel sind angenehmer, da sie nur für Fußgänger frei sind, aber das Menschengedrängel ist auch geräuschvoll. Das liegt auch am Galway Arts Festival - daher ist für mich die Suche nach einem Zimmer vorrangig. In einer Fußgängerzone finde ich Barnacles Budget Accomadation - Budget hört sich immer preiswert an, ein Einzelzimmer kostet aber dennoch 45 Euro. Es geht auf 19 Uhr, da muss ich nehmen, was noch frei ist.

Das Zimmerchen liegt an der Straßenseite, die Fußgängerzone ist voller Kneipen und Lädchen. Nicht einmal ein Tischlein zum Schreiben ist vorhanden. Ich muss in den Gemeinschaftsraum, da sitzen Tussen und beschäftigen sich mit ihren iPhones. An der Wand hängen Instrumente, offenbar zur freien Verfügbarkeit, eine Gitarre und – sieh einer an! - auch eine Ukulele. Beide billigster Herkunft und schon bei flüchtiger Betrachtung sind die Spuren des "gemeinschaftlichen" Gebrauchs erkennbar.

Das Pub direkt gegenüber scheint das größte und lauteste zu sein. Ein Bluesband legt sich in Zeug, entsprechend laut ist das Publikum, viele sitzen und stehen draußen - auch um zu rauchen. Das Fenster zu öffnen wäre fatal in zweierlei Hinsicht: Lärm und Qualm. Um 2 gehe ich ins Foyer und frage den Diensthabenden, ob es vielleicht doch ein Zimmer zum Hof gibt, zur Not wäre mir sogar schon ein Gemeinschaftszimmer lieber. Nein, nichts. Dem athletisch wirkenden jungen Mann geht der Lärm ebenso auf den Nerv. Besondere Abscheu empfindet er für die ausschweifende Sauferei, er gerät regelrecht in Wut darüber.

Nicht einmal aus seiner rumänischen Heimat, wo auch viel gesoffen werde, kenne er so extreme Alkoholexzesse… Hm, da habe ich selbst Schlimmes gesehen – damals, in den frühen 80ern, bei einer Motorradreise. Als ich seinerzeit in einem rumänischen Dorf vormittags nach etwas Essbaren fragte, torkelten die Männer schon sturzbetrunken durchs Gelände. Zwei Männer versuchten ein Huhn für uns einzufangen – mit wenig Erfolg. Sie stürzten immer einen Meter vor dem Huhn zu Boden...


> Clifden

21. Juli
Gegen drei in der Nacht wird es fast schlagartig ruhig. So finde ich dann noch etwas Ruhe. Doch gegen 6 in der Frühe hat es sich ausgeschlafen - die Kehrmaschinen knattern die Straße hoch und runter. Kaum sind diese vorbei, kommt die Bierlieferung - 100 Fässer Bier werden „entladen“, das heißt: von der Ladefläche geworfen! Ebenso viele leere Fässer werden anschließend hinauf bugsiert. Ein Blick aus dem Fenster auf die offene Ladefläche des LKW versichert mir: Das kann noch ein Weilchen so weitergehen. Von allen erdenklichen Pubs hatte ich in dieser Nacht das lärmigste vor meinem Fenster.

Als ich vor 20 Jahren einmal in Galway war, empfand ich die Stadt als beschaulich. Selbst vor 15 Jahren fand ich ein gemütliches Pub, in dem ein Duo die musikalische Session leitete - ich spielte mit, sang meine Songs. Es war nicht viel los in dem Pub, für die beiden Musiker muss ich eine willkommene Abwechslung sein. Am Ende waren die beiden so frei, mir von ihrer Gage 25 Pfund abzugeben - heute entspräche das schätzungsweise der Kaufkraft von 25 Euro. Auf dem Lande gibt es dafür ein Zimmer, inklusive Frühstück! Ich glaube, Kneipen-Musiker werden in Irland besser bezahlt als in Germany.

Noch vor dem Frühstück, das in solch urbanen Absteigen nicht im Preis und wegen seiner Dürftigkeit auch entbehrlich ist, breche ich auf. Viel Verkehr und Regenschauer begleiten mich auf der Küstenstraße, hinter dem Küstenort Spiddal wird es ruhiger und auch der Regen lässt nach. Die R363 führt mich über zig Meilen an der Galway Bay westwärts, bevor sie gen Norden schwenkt.  An einer T-Kreuzung, eine Meile, nachdem die Straße rechts den Lough Nafurnace, streifte, biege ich links in die R 340, die mich weiter in den Westen Connemaras führt. Ein Wegweiser mit der Aufschrift Pierce’s Cottage zeigt nach links auf eine Landzunge zur einstigen Sommerresidenz des Dichters Patrick Pearse - der ging als Führer der irischen Unabhängigkeitsbewegung vor 100 Jahren in die Geschichte der Nation ein. Den Erfolg seines Kampfes für ein freies Irland erlebte er nicht mehr - wie viele seiner Mitstreiter wurde er hingerichtet. Sein Cottage, umgeben von einer malerischen Landschaft, ist heute ein kleines Museum.

Noch malerischer, noch grüner, noch irischer wird es nur wenige Meilen weiter. Beim Invermore Lough geht es auf eine einspurige Landstraße, die zunächst steil ansteigt. Vom Gipfel schweift der Blick in ein ausgedehntes Tal, im Norden von einer Gebirgskette begrenzt - Bilderbuch-Irland, sogar die Sonne blinzelt gelegentlich durch die Wolken. Kein Auto und kein Motor stören die Idylle - kleine Seen, Torflandschaft, Schafe. Eine Stunde lang bin ich mit meinem Rad allein in der Welt, herrlich! Wenn das keine Entschädigung für Galway ist! Am Ende des Tales, wo ich wieder auf die R340 einbiege, treffe ich einen jungen Franzosen, Bertrand. Nach Michel, dem Rentner aus Belgien, ist er, nach zwei Wochen meiner bisherigen Tour, erst der zweite Radler, der wie ich die ganze Insel umkreisen will.

Es ist spät am Nachmittag und wird Zeit, ein Zimmer zu finden - zum Zelten ist es zu nass. An einer bewaldeten Einfahrt weist ein Schild zum Castle Hotel, dann fällt der Blick auf ein kleines Landhaus, gepflegter englischer Rasen. Auf dem Parkplatz stehen noble Karossen, schicke Oldtimer darunter, meist mit dem Kennzeichen GB - für Großbritannien. Das sieht nicht nach einem  erschwinglichen Quartier aus, aber Fragen kostet noch nichts…

So viktorianisch das Ambiente, so viktorianisch diskret ist auch die Antwort des Pförtners: Yes, there is a room - for 1,90... Na, toll, für den Preis bekommt woanders nicht einmal ein Pint Guinness… You mean 190, right? - Yes! - Warum sagt er es dann nicht? Wieder was dazu gelernt: So furchtbar lange und schrecklich inflationär klingende Wörter wie „hundert“ sind in aristokratischen Kreisen wie den hiesigen verpönt und daher strikt zu vermeiden.

Das einzige B&B auf der Strecke ist leider schon besetzt, die Inhaberin bedauert sehr und gibt mir Empfehlungen, unter anderem Roundstone - dort hatte ich mir damals meine irische Rundtrommel gekauft. Aber ich bezweifle, dass der Ort an einem Dienstagabend etwas zu bieten hat. Soweit in die südliche Landzunge abzuschwenken - ohne die Gewissheit, dort ein Quartier zu finden, scheint mir riskant. Ich entscheide mich, Clifden im Westen von Connemara anzusteuern. Dazu muss ich die R341 nördlich fahren, biege links über eine Brücke ab, die führt über den Owenmore River und dann durch den Wald. In einer lichten Linkskurve ist rechts der Eingang zum Ballynahinch Castle - die vor dem dazugehörigen Hotel geparkten Karossen lassen mich ahnen, dass es mit Zimmerchen hier wohl kaum unter „1,90“ anfängt…

Der Waldweg wird dicht und dunkel, dann mündet er auf die N59 - zu dieser Abendstunde ist der Verkehr schon einigermaßen beruhigt. Erst gegen 9 erreiche ich die hübsche kleine Küstenstadt Clifden. Hier finden sich zahlreiche Herbergen, aber meine ersten Anfragen bleiben erfolglos. Im B&B Aisling House komme ich schließlich unter - nach heute knapp 100 Kilometern im Sattel. Schnell eine Dusche, dann fühle ich mich wieder fit fürs Pub.

Gleich im ersten Pub am Wege, im Lowry’s, höre ich Musik. Es ist rammelvoll, die Musik kommt vom anderen Ende des lang gestreckten Gastraumes. Bei den Musikern angekommen, werde ich mit meiner kleinen Instrumententasche sofort als Session-Teilnehmer identifiziert und auf den letzten freien Platz am Musikertisch eingeladen. Jeder stell sich mit Namen vor. Ich habe noch nicht einmal ein Bier bestellt, schon sitze ich in der Session. Über dem Tisch hängt ein Mikro von der Decke herab, ein anderes steht auf dem Tisch. Letzteres wird von Lied zu Lied im Kreise weitergedreht - und schon zeigt es auf mich und das wiederum bedeutet: Ich bin dran. Ich zupfe meine Polka - der Gitarrist steigt sofort ein, da muss ich die diversen Tonartwechsel und sonstige Raffinessen weglassen. Das flotte Stück kommt dennoch an - und ein Guinness ist inzwischen auch angekommen.

Auf dem Sims der holzgetäfelten Wand steht ein Bodhrán - ich frage, ob es nur zu Dekoration sei. Nein, ich könnte am Tresen nach den dazugehörigen Sticks fragen. Nun höre ich das erste Mal auf meiner diesjährigen Irland-Fahrt die irische Rundtrommel. Seltsam, dass ich sie selbst spiele. Ich erinnere mich an die Worte der Herbergsmutter im Gaeltacht von Dingle, sie hatte mir erzählt, dass Bodhrán-Spieler unter den Traditionalisten heute weniger Respekt genießen. Vielleicht gab es irgendwann zu viele Mittelmäßige, die nur noch wild drauflos hämmerten. Ich habe also allen Grund, sensibel und zurückhaltend zu trommeln - wie damals vor 20 Jahren…

Beim Trommeln behalte ich Peter, den Chef der Runde, und die anderen gestandenen Musiker im Auge. Da ich keine gequälten Blicke bemerke, gehe ich davon aus, dass ich es noch leidlich kann, dass mein Trommeln okay ist. Bei den traditionell à cappella vorgetragenen Liedern, die eine Frau mittleren Alters im Repertoire hat, wird auch das lebhafte Publikum aufmerksamer. Eine junge Frau bemüht sich mit der Gitarre. Als ich wieder dran bin, setze ich erstmals mein in Kenmare gekauftes Mundharmonikagestell ein: Cherry Pink & Apple Blossom White - das ist was zum Jammen und macht allen Beteiligten Spaß. Als ich am Ende des Abends meine Getränke bezahlen will, lehnt der Barkeeper ab: Thank you for the music.
 

> Kylemore Abbey > Delphi > Louisburg

22. Juli
Ich lasse mir beim Frühstück Zeit… Warum? Der gleiche Grund wie so oft: Es regnet - schon wieder! Erst halb 10 hellt es auf. Eddie, der Wirt des Aisling House, empfiehlt mir die Bóthar na Spéire, die Himmelsstraße, eine ruhige Küstenstraße, die um eine Landzunge führt, sehr schön. Wie die poetisch übertreibende Bezeichnung Sky Road vermuten lässt, sind dabei auch einige himmlische Höhen zu bewältigen. Und der Himmel, der hier schon 50 Meter über dem Meeresspiegel beginnt, ist mir hold – es bleibt trocken. Eine Katze wärmt sich auf einem Mauerstein, genießt das Sonnenbad.

Wo die Sky Road wieder auf die N56 trifft, habe ich die Wahl: Entweder der stark befahrenen Nationalstraße Richtung Westport folgen oder noch eine große Schleife in den westlichsten Zipfel von Connemara ziehen, vielleicht sogar mit der Fähre nach Inishbofin, die Inselwelt erkunden? Mir ist nach ruhigen Straßen, das spricht für den Umweg an der Küste entlang. Ein Blick aufs Chronometer - gegen 1 ist es schon - und ein Blick zum Himmel - es ziehen wieder Wolken auf - spricht dagegen. Ich folge der N56 nach Norden, die nach einer Rechtskurve leicht ansteigt.

Bei Letterfrack streife ich den Connemara National Park, der natürlich einen Besuch wert wäre - wenn es nicht gerade regnen würde… Eine halbe Stunde später bin ich an der Kylemore Abbey, die ist ein Muss. Die Sonne blinzelt, ich mache ein paar Fotos vom meistfotografierten Gebäude in Irlands Westen. Um die 50 Busse säumen den Parkplatz und lassen ahnen, dass hier alles zu fürchten ist außer Einsamkeit. Die Gemäuer des heutigen Klosters, exklusiv zwischen Berg und See platziert, sind sogar das Coverbild meines Radreiseführers. Aber will ich 13 Euro Eintritt zahlen? Um einer Benediktinerin beim Beten zuschauen zu können? Dann lieber eine große Waffel Eis! Hier die teure italienische Variante - für 3,50. Gastronomie und Souvenirläden – die Nonnen lassen arbeiten...

Es wölkt sich wieder - und bald setzt auch wieder Regen ein. Unangenehm ist, dass es entlang des Fjords keine Alternative zur N59 gibt, auf der vor allem die Reisebusse von und zur Kylemore Abbey belastend sind. Zwar fahren sie gemächlich und überholen auch vorsichtig genug, doch die Abgaswolken der Busse und die des hinter ihnen angestauten PKW-Trosses sind belastend - insbesondere bei Anstiegen, wo man tief atmen muss…

Der kleine Ort Leenaun am Südufer des Killary Fjord ist ein weiteres Tourismuszentrum, hier dürfen sich die Kylemore-Besucher mit Wollpullovern und anderen Souvenirs eindecken - nach 15 Minuten entbehrungsreicher Busfahrt stehen auch wieder etliche gastronomische Angebote zur Verfügung. Idyllisch liegt der kleine Friedhof am Ausgang des Ortes, hier schweift der Blick über steinerne „Keltenkreuze“ ins einzige Fjord Irlands.

Ein paar Meilen weiter kann ich die N59 verlassen, ich biege links auf die ruhige R335 ab. Am Ende des Fjords mündet der Erraff River, den ich über eine Brücke quere. Dahinter laden kleine Wasserfälle zum Fotostopp. Auf der Nordseite des Fjords, wieder westwärts, geht es bergan. Dann folge ich in eine nördlich Kurve und fahre am wild sprudelnden Bundoracha River entlang ins Tal von Delphi - kein Orakel kann hier befragt werden, aber ein Mirakel an landschaftlicher Schönheit bewundert lässt sich bewundern!

So abgegriffen die Metapher von der grünen Insel Irland ist, so zutreffend ist sie doch auch überall. Bis an die Gipfel der Berge zieht sich das Grün - in allen Schattierungen. Was braucht ein Schaf mehr, um glücklich zu sein. Kaum Straßenverkehr und - was braucht ein Radler mehr, um glücklich zu sein - kein Regen! Allein für diese Landschaft, für die Fahrt durch diese stillen Täler hat sich die Reise gelohnt. Mitten im weiten Tal ein einzelnes kleines altes Haus, eine Schule, 1897 erbaut. Weit und breit keine Siedlung, keine anderen Häuser - woher kamen die Kinder, die an diesem traumhaft schönen Ort zur Schule gingen? Wieder ein Stück Bilderbuch-Irland, dazu unschuldigster Sonnenschein - alle Strapazen der Fahrt sind vergessen.

In Louisburgh ist es nicht so einfach ein Zimmer zu finden. Das Hotel ist voll, nach ein paar Runden durch den Ort finde ich in einer ruhigen Seitenstraße am Ortsende ein B&B, das Louisburgh Lodge. Die ruhige Lage passt - nach all den musikalischen Abenden in Pubs kann ich mal etwas Stille gebrauchen. Im Kaminzimmer steht eine Gitarre - und eine Ukulele! Ich rühre weder das eine noch das andere an.

Der Mann der Wirtin liegt vor dem Fernseher, Fußball mal wieder. In den News ist von einem riesigen Flüchtlingslager am Eurotunnel in Calais die Rede, von verzweifelten Versuchen vieler Afrikaner, auf der Ladefläche eines Lasters nach England zu gelangen. Auch von Ausschreitungen bei Demonstrationen in Belfast wird berichtet...

> Westport > Mallaranny > Achill > Dugort

23. Juli
Beim Frühstück empfiehlt mir die Wirtin „Silver Beach - 8 miles from here“. Aber was soll ich bei dem durchwachsenen Wetter am Siberstrand? Es nieselt, ich lasse mir Zeit, studiere meine Karte. Halb 10 lässt das Nieseln nach. Ich mache mich auf den Weg, immer entlang der Westport Bay, wo ich den in Nebel gehüllten Croag Patrick passiere, der wie eine Pyramide in den Himmel ragt. Noch ist der riesige Parkplatz am Visitor Center fast leer - das wird am Wochenende anders aussehen. Dann ist der heiligste Berg Irlands für einige tausend Iren oberstes Pilgerziel, das betreute Erklimmen des Gipfels ist der Hadsch des irischen Katholizismus.

In Westport führen beschilderte Radwege, eine bemerkenswerte Rarität, durch die Stadt. Am Stadtausgang gibt es für Rad- und Fußwanderer sogar den Greenway, der bis Achill Island die N59 begleitet. Allerdings mäandert der überwiegend geschotterte Weg nicht nur in der Horizontalen, sondern oft auch vertikal. Ein junger Brite holt mich auf seinem Rennrad ein, ein Weilchen fahren wir nebeneinander und unterhalten uns. Eine Familie mit Kindern kommt uns entgegen, ein etwa 10-jähriges Mädchen stürzt beim Bremsen auf dem Schotter - das tut weh. Der Vater tröstet sein weinendes Töchterlein. Um Gefahren dieser Art zu entkommen, ziehe ich es dann vor, wieder die Hauptstraße zu nutzen.

Beim Abzweig nach Achill Island begegnet mir ein Radler, der von der Insel kommt. Er sei auf dem Heimweg nach Dublin, Jonathan nennt er sich, Mitte 30, Vollbart. Er empfiehlt mir, in Dublin Hoagan’s Pub zu besuchen. Meinen Namen tippt er sich in sein Smartphone - damit er sich unsere Begegnung besser merken könne, sagt er. Im kleinen Ort Mullranny halte ich an einem Tourist Info. Wer verirrt sich im Zeitalter von GPS-Navigation, Smartphon und Tablets schon noch in derartig altertümliche Einrichtungen? Ein Radfahrer pro Woche? Vielleicht noch ein paar Leute, die einfach Langeweile haben, oder auch die Bekannten der Angestellten.  

Endlich kommt nun also jemand herein, dem man die schönsten Wanderwege und Aussichtspunkte von Achill Island erläutern kann - die Willkommenskultur des Personals ist wohlfeil – in Union mit der allgemeinen Freundlichkeit der Iren ist das einstudierte Entgegenkommen geradezu überwältigend. Eigentlich interessieren mich zunächst nur Unterkünfte – es ist später Nachmittag, da wird es Zeit, ein Nachtlager zu suchen. Alles weitere finde sich dann schon, werfe ich ein, um den Vortrag etwas abzukürzen. Ja, klar. In Keel, dem Hauptort, fänden sich jede Menge B&B und Hotels.

Erst will ich erst die große Küstenrunde fahren, aber das zieht sich. Nach einem Viertel entscheide ich mich, querfeldein abzukürzen. Das bringt mich auf Wege, die fernab aller Beschilderungen liegen. Nach einer Stunde des Suchens finde ich zurück zur Hauptstraße. Wenige Kilometer vor Keel entscheide ich mich spontan, rechts nach Dougort abzubiegen. Im „Strand Hotel“ ist ein Zimmerchen mit Strandblick frei. Das Restaurant im Erdgeschoss ist bereits gut gefüllt, einerseits zum Dinner, andererseits sind auch schon Musiker eingetroffen. Die Wirtin und ihr Mann stellen mich gleich den Musikern vor. Woher wissen sie, dass ich was mit Musik am Hut habe? Einer der beiden muss die langhalsige Tasche auf meinem Fahrrad entdeckt haben, als ich mein Rad in den Katakomben der Wirtschaftsräume unterstellte.

Im inneren Bereich des Restaurants gibt es eine dunkle Nische - ein Kaminsims funkgiert als Schrein zu Ehren Heinrich Bölls... Ein gerahmtes Schwarz-weiß-Foto und ein Buch des Autors – „Gruppenbild mit Dame“. Das mag in den 50 Jahren, die es hier schon angebetet wird, vor allem von so manchem deutschen Böll-Verehrer entstaubt worden sein. Dazwischen viel Krimskrams wie Teelichter und Steinchen – ein bisschen wie auf Omas Fensterbrett. Während ich die Devotionalien – möglicherweise auch Mitbringsel von deutschen Touristen - in Augenschein nehme, verweist mich die Wirtin auf eine dunkle Ecke im hinterste Winkel des Pubs, wo ein weiteres Böll-Porträt sein quasi-museales Dasein fristet.

Die Musiksession beginnt schon gegen 9, für irische Verhältnisse recht zeitig. Ein großer, dicker, junger Mann spielt Gitarre, manchmal Mandola oder auch Buzouki, den Dudelsack und Blechflöten beherrscht er ebenso, noch beeindruckender ist sein Gesangsorgan. Nachdem ich meine vergleichsweise leise Sangesdarbietung - wieder mal "Memphis in June" - vorgetragen und etwas mit den Musikern vertraut geworden bin, wage ich mir, meinen Fieldrekorder auszupacken, um ein paar Tonaufnahmen zu machen.

Dermot, der Sänger, scheint keine Einwände zu haben - jedenfalls reagiert er nicht abweisend. Doch einer der anderen Musiker gestikuliert mir, meine Feldforschungsmethoden besser zu unterlassen. Ersatzweise frage ich Dermot nach einer CD. Nein, soweit sei er noch nicht... Auch ein Video im Internet gäbe es nicht - soweit er weiß. Ist das falsche Bescheidenheit oder ein Hang zum Perfektionismus? Egal, ich muss ohne ein akustisches Souvenir dieses Abends auskommen – was ich hören hier und jetzt zu hören bekomme in mein innerstes Aufnahmegerät aufsaugen.

Dooley heißt der älteste der Musiker. Auf den ersten Blick hätte ich ihn eher für jemand gehalten, der sich besser mit Traktoren, mit Fischernetzen oder Angelschnüre als mit den Saiten eine Gitarre auskennt – so kann man sich täuschen. Wahrscheinlich kann er beides. Die Gitarre spielt er jedenfalls, als hätte er sein Leben lang nichts anderes gemacht. Der schweigsame Mann könnte schon zu Bölls Zeiten hier geklampft haben. Aber vielleicht ist er gar nicht so alt wie er aussieht – ein Leben, draußen an der nordatlantischen Waterkant, ist kein Kosmetiksalon.

Ein Stück nach Mitternacht ist die Session zu Ende, die Instrumente werden eingepackt. Wir unterhalten uns noch ein Weilchen. Bei Roddy, dessen Jazzgitarre tatsächlich etwas nach Django Reinhard klingt, bin ich vielleicht mit einer Bemerkung über den Charme vom "Ende der Welt" ins Fettnäpfchen getreten. Jedenfalls reagiert er irgendwie etwas genervt und erzählt mir ausführlich, wo er überall schon gelebt hat: in Chicago, in New York! Und 1978 habe er schon in Düsseldorf gearbeitet.

Was hier zu Bölls Zeiten losgewesen sein mag? An Urlaubern dürften damals Iren überwogen haben, musikalische Abende mit viel Bier und Whisky gab es sicher immer – an Einsamkeit musste er hier sicher niemals leiden. Bölls späterer Umzug in das Cottage am Berg, an der einzigen Zufahrtsstraße, wird wohl auch Kostengründe gehabt haben. In meinem Zimmerchen direkt über dem Pub Ruhe kann ich mir gut vorstellen, wie schwer es hier auch damals schon gewesen sein muss, schriftstellerische Muße in gefüllte Schreibmaschinenseiten zu verwandeln. Die Wände sind dünn, die Dielen knarren, so schnell kehrt nach einer bierseligen Musiksession keine Ruhe ein – in einem Strandhotel ist immer was los.

Während ich in meinem Zimmerchen die Ruhe suche, erhebt sich im Pub nochmals Gesang. Am Ende des Liedes tönt Beifall. Der ewige Feldforscher in mir steigt mich nochmals hinunter ins Pub - und bestellt sich, allen guten Vorsetzen widerstehend, ein Guinness. Dermot ist nach vier Stunden Session mehr als eingesungen, seine gewaltige Stimme bringt jetzt auch die Schwatzhaftesten zum Schweigen! Oh ja, da ist noch immer etwas von dem alten Irland, dem ich vor 20 Jahren noch begegnete. Das sollte ich vielleicht gar nicht so laut sagen...


> Keem > Achill Head > Keel

24. Juli
Beim Frühstück beschließe ich, einen weiteren Tag auf der Insel zu bleiben. Sicher finde ich aber eine billigere Bleibe im Hauptort Keel, näher am westlichen Ende der Insel, wo sich die angeblich höchsten Klippen Irlands befinden. Zunächst muss ich die Straße hinauf. Da komme ich an Bölls Cottage vorbei, heute eine Stiftungsherberge. Ausgezeichnete Literaturstudenten dürfen sich hier vom Geist des Literaturnobelpreisträgers inspirieren lassen. Falls das in akademischer Gesellschaft doch nicht so ganz gelingen sollte, ist es trotzdem ein hübsches Quartier, um mal ein Weilchen auszuspannen...

Weiter oben am mächtigen Slievemore entlang finden sich ein Friedhof und das Deserted Village. Vom „verwüsteten Dorf“ stehen nur noch Fundamente aus Naturstein, vereinzelt ist eine Giebelwand noch zu erkennen. Aus der Ferne ist die einstige Struktur der Hangsiedlung am besten zu erkennen: von der leicht ansteigenden Dorfstraße zweigen kurze Gässchen ab. Bölls Beschreibung als "Skelett einer menschlichen Siedlung" ist mehr als eine poetische Metapher. Tatsächlich liegen die Reste des Dorfes wie die Wirbelsäule und Rippen eines Riesen am Hang ausgebreitet.

In Donagh, dem letzten Ort vor den Anstiegen zum Croaghaun gibt es ein B&B, aber niemand ist dort. ich warte ein Weilchen, rufe die angegebene Telefonnummer an. Nichts. Also zurück nach Keem. Doch nirgends ist etwas frei - manche der einstigen Herbergen wirken ebenso verlassen wie das Deserted Village. In Keel finde ich schließlich ein Schild mit der Aufschrift Budget Accomodation. Das winzige Zimmerchen liegt an der Straßenseite, aber nachts wird hier nicht viel los sein. Nur 18 Euro, das hilft wirtschaften.

Es ist erst Mittag. Da ich auf die höchsten Klippen Europas ohnehin nur zu Fuß komme, bleibt das Rad im Hostel. Der italienische Kuli des Hostelbetreibers zeigt mir einen alten Stall, wo ich mein Eisenschwein unterstellen kann. Die Straße bis zum Ende der Insel ist lang und steil, ich versuche es vergeblich per Anhalter. Dann hält eine junge Frau mit zwei Kindern und fährt mich bis zum Parkplatz am Sandstrand. Ausgeschilderte Wege zu den Klippen gibt es nicht, nur Trampelpfade sind erkennbar – die werden vor allem von Ziegen und Schafe genutzt. An einer archäologischen Ausgrabung erkundige ich mich nach dem günstigsten Pfad. Der Leiter des Grabungsteams zeigt mir die Richtung – immer den Schafen nach.

An den Klippen grasen die Schafe - zweibeinige Besucher sind sie gewohnt. Kommt man ihnen jedoch zu nahe, werden sie ängstlich, manche fliehen in die Nähe des Abgrundes. Sie mögen hier jeden Stein kennen, aber einige werden dennoch gelegentlich abstürzen. Ich halte Abstand, sowohl zu den Wollknäueln als auch zum Abgrund, in dessen Tiefe das blaue Meer glitzert. Am Ende der Landzunge thront eine Betonruine, ein einstiger Wachposten. Heute nutzen die Schafe die verbliebenen Betonbrocken als Versteck. Der Blick über die Klippen der Inselwelt bis zu den Steilküsten von Connemara, wo der Croagh Patrick in den Himmel ragt, ist überwältigend.

Auf dem Rückweg kommen mir vereinzelte Wanderer entgegen, ein junges Pärchen, eine Familie. Abwärts wieder durch Geröll - bloß nicht rutschen, stolpern, straucheln. Am Parkplatz zum Strand versuche ich wieder per Anhalter – ohne Erfolg. Die meisten Fahrer hier sind keine Einheimischen. Sie haben zwar Platz in ihren Autos, aber sie sind vielleicht misstrauisch. Ich muss laufen. Auf halbem Weg am steilen Berg hält dann doch ein Auto, ein alter Mann – er nimmt mich bis zu seinem Haus im nächsten Dorf mit, auch ein einstiger Düsseldorf-Gastarbeiter. Von Keem sind es zwar noch ein paar Kilometer bis Keel zu laufen, aber ohne Steigungen.

Ich übe etwas Ukulele, singe mich ein. Halb 10 begebe ich auf den Weg zum Pub: The Annexe Inn. Shay Kennedy, der Wirt der Accomodation, hat mir gesagt, er spiele da am Abend. Doch von Musikanten ist gegen 10 noch nichts zu sehen. Dafür sind viele Kinder um den Billardtisch versammelt, nicht nur durch sie ist es furchtbar laut. Die Touristen schreien sich an, es ist die Hölle. Das Gedrängel am Tresen hält mich fern. Die Luft ist stickig, ich gehe wieder hinaus, da kommt Shay mit Gitarrenkoffer. Ich erwähne meine Unlust, wieder hineinzugehen. Shay meint: Mal sehen...

Da ich schon mal hier bin, warte ich draußen ein Weilchen. Weitere Musiker trudeln ein. Schließlich ist es so voll im Pub, dass es schwer wird, zum Musikantentisch durchzudringen. Aber dort sind immerhin noch Plätze, ich nutze die Chance, auch der Sänger vom Strand Hotel aus Doogart ist da. Etwa ein Dutzend Musiker werden es schließlich - das komplette Arsenal irischer Instrumente, alles außer Bodhrán. Dermot singt wieder: Black ist the Colour of my Turue Love's Hair. Und er findet, es sei heute noch nicht so schlimm mit dem Lärm... So mitten im Zentrum der Musikerrunde ist es auszuhalten. Aber die Gäste quasseln und lachen so furchtbar laut. Weshalb sind sie hier? Draußen könnten sie sich doch viel besser unterhalten... Nach einer halben Stunde ist mir das alles zu laut - und auch zu sauerstoffarm. Ich verabschiede mich.

> Ballycroy > Bangor Erris

25. Juli
Zeitig breche ich auf, heute ohne Frühstück. Zwei Hotelruinen hat Keel - und mitten im Ortszentrum eine große Hotel-Baugrube, vermutlich aus Zeiten des Baubooms vor der Finanzkrise. Wenn ich den riesigen Caravan-Campingplatz am Ortseingang sehe, wird mir klar, dass das geplante Hotel vollendet werden wird. Und ich weiß nun, woher die Massen kamen, die gestern das Pub besuchten. Wohnwagen an Wohnwagen, vielleicht 100 oder mehr - und es ist genügend Platz für das Doppelte oder Dreifache. Nein, einsam ist Achill Island im Sommer ganz bestimmt nicht. Böll "einsame Insel“ ist längst ein Hort des Massentourismus.

Um wieder aufs irische "Festland" zu gelangen, muss ich die gleiche Strecke zurückfahren, die ich herkam – sie ist ruhig, aber man ist nicht allein... Wirklich einsam werden die Straßen ab Ballycroy - und das obgleich ich auf der einer Nationalstraße fahre. Um 4 erreiche ich den Ort Bangor, das klingt irgendwie indisch. An der zentralen Straßenkreuzung steht eine Gruppe junger Tramper und malt ihr Etappenziel auf ein Pappschild. Zu viert trampen? Wie soll das funktionieren? Viel Glück!

Aus einem Pub auf der Hauptstraße dröhnt Lärm - in diesem Kaff sind es wahrscheinlich nicht die Touristen, die sich da austoben. Wegen des Rauchverbotes stehen immer einige Männer vor der offenen Tür auf der Straße. Das ist Irland - man geht in die Kirche, betet und beichtet seine Sünden. Danach geht man in die Kneipe, um neue Sünden zu begehen. Der Alkoholkonsum im Land des Guinness und des Whiskey erscheint mir tatsächlich bedenklich – schon am helllichten Tag so viel betrunkene Männer! Ich muss an den rumänischen Nachtwächter im Hostel von Galway denken, der sich über die irische Trunksucht empörte, die er sogar für exzessiver als die seiner eigenen Landsleute einstufte.

Ein Haus weiter ist ein B&B namens Hilcrest House, doch ich halte es für keine gute Idee, so nahe neben einer Kneipe zu nächtigen, in der sich so viele betrunkene Männer anschreien. Ich suche ein anderes Quartier, finde am Ortsausgang ein weiteres B&B - die Haustüren stehen offen, weit werden die Bewohner wohl nicht sein, denke ich mir. Vielleicht sind sie bei den Nachbarn, wo ebenso die Türen offen stehen. Auch da rufe ich, aber niemand reagiert – nur ein kläffender Hund.

Ich verliere Zeit, wenn ich warte. Weitere Herbergen finde ich nicht, deshalb zurück zum Hilcrest House. Auch hier öffnet niemand, es ist inzwischen nach 5 und leichte Regenschauer verstärken meinen Wunsch auf ein trockenes Plätzchen. Ich steige wieder auf den Sattel, da öffnet sich die Tür. Und es ist ein Zimmer frei. Zum Hof hin, um den Lärm von Straße und Kneipe zu entgehen? Leider nicht. Auch der Preis überschreitet mein Budget, gestehe ich der Wirtin. Bis zum nächsten Ort nach Ballina seien es noch 27 Kilometer, sagt sie mir. Das wären - Pi mal Daumen - zwei Stunden. Ich versuche es.

Doch es geht teils bergan - und der Regen wird nun richtig heftig. Außerdem sagen mir die Verkehrsschilder, dass es noch 40 Kilometer bis Ballina sind! Die vermeintlichen 27 Kilometer dürften 27 Meilen sein - die älteren Iren sind noch den Maßeinheiten der einstigen Kolonialmacht verhaftet. Künftig sollte ich immer genau nachfragen: Meilen oder Kilometer? Nach 20 Minuten bin ich durchgeweicht und kehre reumütig um.

Das Zimmer ist noch frei und die Wirtin bietet mir sogar einen beachtlichen Preisnachlass an. Das ist sehr nett. Das Zimmer ist komfortabel und ich bekomme schon fast ein schlechtes Gewissen bei dem großzügigen Rabatt. Es gibt einen gemütlichen Salon, wo ich lesen und schreiben kann. Die Wirtin serviert mir einen Tee und Kekse. Ihr Mann liegt im Saloon vor der Glotze, Irish Football - das ist es also, was nebenan im Pub den Zapfhahn nicht trocken werden lässt.


> Ballina

26. Juli
In der Zeitung steht, der heilige Berg des Patrick sei wegen des schlechten Wetters für die Wallfahrt gesperrt geblieben, da der Einsatz von Rettungshelikoptern unter diesen Bedingungen nicht möglich sei. Tausende Pilger hätten es dennoch versucht, zum Glück habe es keine Unfälle gegeben. Wer die Ernsthaftigkeit seines Glaubens unter Beweis stellen will, wartet nicht auf Sonnenschein. Wenn ich zum Fenster hinausschaue und den strömenden Regen sehe, frage ich mich: Und wem muss ich heute was beweisen?

Wenn das den ganzen Tag so weiterregnet, habe ich ein großes Problem. Die Wirtin empfiehlt mir eine kurze Strecke, nämlich einen Abstecher auf die Quasi-Insel The Mullet, zu der es nur 20 Kilometer westwärts sind. Im Ort Bellmullet kenne sie jemand und könnte dort für mich was reservieren lassen. Ich stimme zu und sie ruft an. Auf halben Weg zu der kleinen Landzunge bin ich jedoch wieder klatschnass und stürmische Windböen der Kategorie "4 Winds" brechen meinen eisernen Willen wie einen Strohhalm. Selbst wenn ich es schaffen könnte, was will ich dort? Ich müsste den Rest des Tages im Quartier hocken. Nein. Ich kehre um!

Ich könnte in Bangor wieder am Hillcrist House klopfen. Doch es ist Sonntag, 10 Uhr - um die Zeit sind alle frommen Iren in der Kirche. Meine gute Gastgeberin war sogar gestern Abend schon in der Kirche. Ich werde sie nicht erreichen. Und ich möchte auch in diesem Kaff nicht den ganzen Sonntag verbringen. Ich muss durch den Regen, muss durchhalten wie der heilige Patrick auf seinem sturmumtosten Berggipfel! Hier unten, auf Meereshöhe, sind gerade noch 13 Grad - ich möchte gar nicht wissen, wie es jetzt dort auf dem baum- und strauchlosen heiligen Berg pfeift. Wenn man der Legende glauben will, so soll der asketische Mönch seinerzeit einige Wochen dort ausgeharrt haben. Und das vielleicht ohne Whiskey, garantiert aber ohne WLAN...

Ich muss mir nichts beweisen, aber ich nehme den Kampf auf - und zwar in einer eher zielführenden Richtung, nämlich landeinwärts, gen Osten. Es geht beständig bergan, der Regen lässt etwas nach - manchmal. Die Strecke könnte wirklich schön sein, würde es nicht regnen... Obwohl ich eine Nationalstraße befahre, gibt es kaum Verkehr, nicht einmal Schafe - das will was heißen! Hier sagen sich wirklich Fuchs und Hase Gutenacht, so verlassen wirkt die Gegend. Und es schüttet erneut aus vollen Kannen.

Nach über tausend Kilometern auf der nassen Insel, der größte Teil bisher an der Atlantikküste, habe ich schon einiges an Regen hinter mir, aber ich glaube, heute ist der härteste Tag. Dafür sind Regencapes einfach nicht gemacht - die Nässe kriecht von unten die Beine hoch. In Cross Mollina, dem ersten größeren Ort seit meinem heutigen Aufbruch, stelle ich mein Rad in den Eingang eines altes Wirthauses: Hiney's. Obwohl das gastronomische Rauchverbot in Irland schon 10 Jahre besteht, dünstet der Qualm noch aus den Holzvertäfelungen des fensterlosen Innenraumes. Es ist duster, blasse Lämpchen am Tresen bieten Orientierung. Um die Speisekarte lesen zu können, muss ich die Taschenlampe aus meiner Lenkertasche kramen.

Das Englisch der Kellnerin hat einen slawischen Akzent. Am Tresen hocken zwei ältere Damen. Der riesige Fernsehbildschirm flimmert unermüdlich: Irish Football, Rugby, Pferderennen - auf letzteres werden Wetten abgeschlossen, in  kleinen Kabinen kann elektronisch mitgezockt werden. Das erklärt die Leidenschaftlichkeit der Anteilnahme. Das deutsche Fernsehpublikum hat seine Quiz- und Kochsendungen, hier es die Omnipräsenz der Sportsendungen, die eine gleichgeschaltete Ansammlung konsumgesteuerter Trottel hervorbringt.

Ob es mir gefällt oder nicht, ich muss mich etwas ausruhen, mal etwas trockene Luft atmen. Manchmal auf dieser nassen Fahrt dachte ich an Soldaten auf dem Schlachtfeld - die können sich nicht unterstellen, wenn es plötzlich regnet. Eigentlich staune ich, wie stoisch ein Warmduscher wie ich diesen Wetterverhältnissen trotzen kann. Nur nicht zu lange ausruhen! Egal, wie es stürmt da draußen - was mich nicht umbringt, macht mich stärker... Hoffentlich. Ich sattle auf. Doch es schüttet und schüttet. Ich zögere etwas. Es ist erst um 2, nein, in diesem Ort will ich nicht versacken. Los geht's.

Mein Wille wird belohnt - es lässt nach, als ich die Stadt durchquert habe und wieder auf freiem Feld bin. Bis Ballina hört der Regen ganz auf. Das zentral gelegene B&B in einer Nebenstraße ist ausgebucht. Ich finde eine andere Herberge, ein altes Hotel. Das mir gezeigte Zimmer befindet sich direkt über dem Pub, muss ich feststellen. Ich gehe wieder hinunter, frage nach einem anderen Zimmer. Erst nach einer Ewigkeit kommt der junge Mann mit dem russischen Akzent von der Rezeption zurück und zeigt mir ein anderes Zimmer, einige verwinkelte Gänge weiter und eine Treppe höher, hell und ruhig - sehr gut. Sogar 5 Euro billiger ist es!

Endlich kommt auch noch die liebe Frau Sonne auf einen Abendgruß heraus. Da kann ich noch eine Runde durch Ballina drehen. Der Supermarkt hat geöffnet, bemerkenswert für einen Sonntagabend. Heute habe ich mir wahrlich ein grünes Fläschlein mit roter Medizin verdient. Ich komme aus dem Laden und schon beginnt es wieder zu regnen - schnell zurück ins Hotel. Ich schalte den steinzeitlichen Fernsehapparat ein - und siehe: er funktioniert sogar. Ich erwische gleich die Wettervorhersage. Die nächsten Tage soll es also nass bleiben - na toll!

Regenpause. Na gut, also doch noch eine Runde durchs Nachtleben von Ballina. Die empfohlenen Musikpubs sind öde. Im Broken Jug müht sich ein älteres Semester mit Elvis-Songs zur Klampfe - grausam. Auch die Pubs ohne musikalische Beschallung sind laut, extrem laut. Warum tun sich die Leute so einen Stress an? War ich in jungen Jahren auch so lärmsüchtig? Nein, so schlimm war das früher nicht. Die Welt ist einfach viel lauter geworden, auch in die hintersten Winkel Irlands ist die Hegemonie der Lautsprecherboxen eingekehrt. Dann lieber doch ein baldiges Rendezvous mit dem Chianti.

> Easky > Sligo

27. Juli
Montagmorgen, Regen… Der Frühstückskellner ist aus Sri Lanka, er hat wohl mein Rad bemerkt und interessiert sich für meine Tour. Noch mehr interessiert ihn der Mindestlohn in Deutschland, in Irland sei der nur 6,50.  Da würde er sich um zwei Euro verbessern - und die sind eigentlich drei Wert, denn das tägliche Futter ist hier etwas teurer. Ich rate ihm wegen der wachsenden Fremdenfeindlichkeit ab, nach Deutschland zu wechseln.

Alles ist relativ: Früher freute ich mich über gelegentliches Aufkommen von Sonnenschein, jetzt freue ich mich schon über gelegentliches Nachlassen von Regen! Mittags erreiche ich Easky, ein hübsches Kaff mit B&B und Kunstgewerbeladen. Im Tante-Emma-Laden von Seán MacGiollaratnát plaudere ich mit dem Verkäufer über die Zeitungsschlagzeile: „10.000 ignore the warning“. Tausende angereiste Pilger ließen sich demnach trotz Regens und Nebels am heiligen Berg nicht von ihrer kollektiven Gipfelstürmung abhalten - in der Masse fällt das Ausschalten gesunden Menschenverstandes sicher leichter als im Alleingang. Zum Glück habe es dennoch keine schweren Unfälle gegeben.

Auch mein Vorhaben ist eine Art Glaubensbekenntnis: Ich glaube fest daran, dass ich es schaffe, in sechs Wochen ganz Irland mit dem Rad zu umrunden - und heil wieder nachhause zurückzukehren. Ich habe mich dazu entschlossen, nicht weil es leicht ist, sondern weil es schwer ist - und das mag nur ein kleiner Schritt für die Menschheit sein, aber für mich ist es ein ganz, ganz großer...

Seán, der Tante-Emma-Laden-Inhaber, war vor Jahren auch mal auf dem heiligen Berg - zwei bis drei Stunden brauche man für den Aufstieg, sagt er. Der heilige Croagh Patrick dürfte der wichtigste Pilgerweg Irlands sein – eine Art Jakobsweg für Tagesausflügler mit Kollektivgeist. Nichts für mich. Weiter auf der ruhigen Küstenstraße - entlang der Sligo Bay habe ich leichten Rückenwind. Dann trifft die verkehrsarme Straße unumgänglich auf die N59, die vor Sligo sogar autobahnähnlich wird - an Steigungen machen mir die Abgaswolken der Dieselmotoren zu schaffen.

Im Zentrum von Sligo komme ich zufällig an die Tourist Info, wo mir die Angestellt ein Zimmer in einem Hostel vermittelt. Es ist Punkt 5, nach mir wird die Tür verschlossen. Das gefällt einem alten Mann, der wütend anklopft, gar nicht - es sei noch nicht 5. Die freundlichen Angestellten öffnen nochmals, zeigen dem mürrischen Alten die Uhr, geben nach und gewähren ihm noch Eintritt.

Im strömenden Regen suche ich die Connolly Street, eine schmale Einbahnstraße. Hinter der nächsten Kurve finde ich das Hostel: An Cruisein Lan. Im Eingang wacht hinter einem kleinen Tresen eine lebensgroße Marienfigur über zahllos ausliegende Reklamezettel. Der Wirt kommt die knarrende Holztreppe herunter und ahnt, dass ich der vom Tourist Info vermittelte Gast bin. Das Zimmer ist etwas über meinem Budget, aber ruhig zur Hofseite gelegen – für mich die angenehmste Nebensache der Welt.

Was lerne ich an diesem Montagabend in Sligo? Erstens: Ein mit viel Gemüse gefülltes Fadenbrot kostet das Doppelte wie in Deutschland. Zweitens: 22.02 Uhr kann an einer Supermarktkasse ohne Alkohol-Lizenz genau zwei Minuten zu spät sein, um eine Flasche Bier zu bezahlen. Die elektronische Totalüberwachung macht einfach keine Ausnahme. Immerhin ist Sligo eine richtige kleine Stadt und in der findet sich mehr als ein Pub.

Eine Band ist gerade beim Soundcheck, ich setze mich direkt neben der kleinen Bühne auf einen Barhocker und bestelle ein Guinness. Der Gitarrist dreht an den Reglern seines Verstärkers. Too loud, sage ich – sehr vermessen für einen Gast. Falls er mich gehört hat, ignoriert er mich absichtlich. Als die Band mit Rockklassikern der 70er Jahre loslegt, ist mir klar, dass ich hier nicht alt werde. Am meisten staune ich an diesem Abend - und das wäre drittens - über meine Wirkung auf einen jungen Mann, der gerade erst eingekehrt ist. Er tänzelt er vor der Bühne. Ohne ein Wort mit mir gewechselt zu haben, greift er plötzlich nach meiner Hand. Don’t touch me! sage ich - leise, aber bestimmt… So plötzlich wie der Mann gekommen, so schnell verschwindet er wieder - wer gedacht, dass ich so beängstigend wirken kann.

> Drumcliff > Ballyshannon > Donegal

28. Juli
Wieder beginnt ein Tag mit Regen. Gern hätte ich die kleine Stadt auch einmal bei Tageslicht erkundet, hätte gern die alten Gassen am Hafen oder die imposante Ruine der Sligo Abbey besucht. Doch ein Fluch ruht auf meiner Fahrt - Regen, Regen, Regen. Da hilft nur, das Regencape überstreifen und immer den Sattel trocken halten, am besten niemals absteigen.

Zunächst muss ich mich mit der N15 begnügen, die mich landeinwärts durch hügelige Landschaften führt, bis sie in Drumcliff wieder in Küstennähe ankommt. Ein Kirchturm wird sichtbar. Der Regen hat nachgelassen, aber nicht aufgehört - ich könnte mich bei der Kirche unterstellen, etwas ausruhen. In der Kirche schwatze ich ein Weilchen mit einer Frau. Sie sortiert Kerzen, Postkarten und Bücher, ist demnach Verkäuferin – die Kirche als Souvenirladen...

Wahrscheinlich ist die Kirche ein touristischer Pilgerort. Als ich wieder im Freien stehe, fällt mir der Besuchermagnet direkt ins Auge, das Grab von William Butler Yeats. Habe ich jemals etwas von Yeats gelesen? Nein, nicht dass ich wüsste. Sollte ich vielleicht mal nachholen, wenn mich mein Weg schon so zufällig direkt an sein Grabmal geführt hat. Als ich den Friedhof wieder verlasse, stehen auf dem Parkplatz, der bei meiner Ankunft völlig leer war, zwei Reisebusse. Der Reiseleiter führt die Businsassen direkt zum Grab des berühmten Dichters.

Jetzt bemerke ich auch das moderne Denkmal vor dem Friedhof: I HAVE SPREAD MY DREAMS UNDER YOUR FEET… TREAD SOFTLY BECAUSE YOU TREAD ON MY DREAMS… Da hockt er nun, der Dichter, in alle Ewigkeit erstarrt – und ewig hockend muss er seine eigenen Verse bewachen. Täglich wird jemand über seine Träume trampeln – hier erst recht. Und ein anderer wird ihm die Glatze polieren.

Endlich hat der Regen aufgehört! Ein Stück folge ich noch der N15 nordwärts, an einer kleinen Siedlung biege ich ostwärts auf eine schmale Landstraße ab, die mich zu einem mächtigen Tafelberg führt: Ben Bulben. An seiner Flanke durchquere ich kleine Dörfer - und genieße Momente von Sonnenschein... Bei Bundoran treffe ich wieder auf die N15. Der Küstenort scheint ein Urlauberkaff zu sein - mit Spielcasinos für Kinder. Hier können Mütter und Väter ihre Kinder spielerisch an die Welt der Feuerwaffen heranführen, mit MGs knattern – auf dass aus kleinen Terroristen bald große werden... Abartig! Nichts wie fort von hier…

Ich befinde mich nun im nördlichsten County Irlands, Donegal - die gleichnamige kleine Stadt soll mein heutiges Etappenziel sein. Auf der zentralen Straßenkreuzung des nächsten größeren Örtchens, Ballyshannon, wird einem seiner Söhne gehuldigt - eine Statue aus schwarzem Marmor stellt einen Mann mit langen, lockigem Haar und E-Gitarre dar: Rory Gallagher… Follow me, steht auf dem Sockel – wohin? In den heiligen Himmel der Rocklegenden? Aus diesem Kaff an der windigen Atlantikküste stammt der Barde also.

In Donegal beziehe ich ein Zimmer im Diamond Logins, direkt an der zentralen Straßenkreuzung. Ich bummle durch die Gässchen der hübschen alten Stadt. Und da beginnt es auch schon wieder zu regnen. Das Wetter ist wahrlich deprimierend, ich bin nun seit drei Wochen auf der Insel und hatte bis auf zwei Sonnentage jeden Tag nasse Waden. Regenschirm aufgespannt und zurück Richtung Hotel. Einen Blick werfe ich noch in ein altes Pub gegenüber dem The Olde Castle.

Doch das Lokal ist brechend voll. Die Luft ist so stickig, dass ich noch auf der Türschwelle umkehre. Über tausend Meilen bin ich durch Wind und Regen geradelt, um in viel besungenen Donegal den Abend in einem Hotelzimmer abzuhängen... Es gibt einen Fernseher, nun ja, aber das Programm ist bescheuert: Quizshow, Sport, öde Sommerlochnachrichten - und eine Wettervorhersage, die einen als Radfahrer zum Selbstmord verleiten kann. Zum Glück habe ich noch etwas vom Chianti übrig, der dürfte inzwischen mehr als gut belüftet und durchgeschüttelt sein.

> Slieve League > Glencolumbkille > Donegal

29. Juli
Ein Blick aus dem Fenster: Regen! Keine Ahnung, weshalb ich die Mühen auf mich nahm, bis hierher zu radeln. Erst mal was zum Frühstücken besorgen - Selfcatering. Zurück im Hostel treffe ich die Wirtin, deren „How are you?“ ich gern ausführlicher beantworten würde, als ihr lieb sein kann. Don’t know what to do under these bad conditions…

An manchen Tagen fahren Kleinbusse in die Highlands am Sleave League, sagt die Wirtin, nimmt einen der Flyer vom Tresen und zeigt ihn mir. Einer der beiden Tage ist Mittwoch, als heute - Abfahrt 10.30 Uhr, eine tagesfüllende Ausfahrt für 20 Euro. Soll ich da mal anrufen und fragen, ob noch einen Platz frei ist, fragt mich die gute Frau. Yes, please! Eine gute Idee. Und es ist noch ein Platz frei.

Kurz nach 10 mache ich mich auf zum Parkplatz am Tourist Info, der Kleinbus steht schon da und wartet mit seinen Passagieren au dem 50 Kilometer entfernten Letterkenny nur noch auf mich. Die Bank hinterm Fahrer ist noch frei - gut so, ich bin gern dem Lenkrad nahe. Hinter mir sitzt ein Pärchen, ansonsten bemerke ich nur allein reisende Frauen. Die beiden jüngsten sind Ende 20, die älteste könnte Mitte 70 sein - eine Einheimische, sie spricht den gleichen nordirischen Dialekt, den auch der Fahrer spricht. Letzterer ist im richtigen Leben Irish-Lehrer, ein Mann der gälischen Sprache und der lokalen Geschichte.

Seinen ersten großen Vortrag hält er in der Hafenstadt Killybegs, die einst ein Zentrum der Fischfangs war, wegen diverser EU-Gesetze aber Fangrechte an andere europäische Flotten abgeben musste. Deshalb könne hier heute niemand mehr vom Fisch leben. Ob das gut oder schlecht sei, mag er nicht beurteilen. Das Geschäft mit den Touristen, welche die Kreuzfahrtschiffe heutzutage hier an Land setzen, sei möglicherweise einträglicher. Heute ist aber definitiv kein Cruiser im Hafen - sonst läge die kleine Stadt jetzt im Schatten… 

Das Hauptziel der Tagestour sind die Klippen am Slieve League, der dem Croughaun auf Achill im County Mayo Konkurrenz macht, welcher mit seinem 664 Meter hohen Gipfel bereits den Anspruch erhebt, die höchsten Klippen Europas zu bieten. Ein Regenschleier taucht den Horizont in verschwommenes Licht, schnell zieht der Regen heran, hüllt die imposanten Klippen in Nebel. Ich kann gerade noch ein Foto machen, schon beginnt es zu nieseln. Nur die bunten Regencapes der anderen Besucher scheinen durch die Nebelschwaden. Auf halbem Wege zwingen mich Wind und Regen zur Umkehr. Am Parkplatz freut sich ein Postkartenstand auf die schnell zurückkehrenden Wanderer.

Im Vergleich zu anderen touristischen Hotspots Irlands ist das hier ganz beschaulich. Gerade ein Dutzend Autos haben sich hier eingefunden, einige mehr sind auf dem Hauptparkplatz, einen Kilometer zuvor, geparkt. Ein Grüppchen Schaffe trottet vor dem Bus her. Seltsam ist das, sage ich zu der alten Dame, die neben mir sitzt: die Schafe lassen sich nicht von den lärmenden Fahrzeugen beeindrucken - wenn ich mich ihnen aber mit dem Rad nähere, suchen sie schreckhaft das Weite. Trotz des Motorbrummens haben mich auch die Fahrgäste auf den hinteren Plätzen verstanden. Jedenfalls lachen alle, weil sie das wohl genauso komisch finden wie ich.

Die Schafe lieben auch die Wärme, die der Asphalt speichert, erläutert der Busfahrer. An den motorisierten Verkehr haben sie sich natürlich längst gewöhnt. Nächster Stopp ist ein Gasthaus mit angeschlossenem Freilandmuseum - oder umgekehrt. Im Bedarfsfall sollte man zuerst die authentische irische Kartoffelsuppe erwägen. So scheinen es auch andere Reisegruppen zu machen, die Warteschlange im Folk Village von Glencolmcille reicht bis hinaus in den Vorgarten.

Museumsdörfer hat man schon so manche gesehen. Eine wirklich irische  Besonderheit dürfte sein, dass wohl auch das kleinste Dörfchen einen Ausschank gehabt haben muss - oder wenigstens drei Barhocker an einem Tresen wie hier in einem wohnstubengroßen Tante-Emma-Lädchen, das wohl in den 60ern noch geöffnet gewesen war – ein hängen gebliebenes Elvis-Foto lässt das vermuten.

Der letzte Stopp - in der kleinen Stadt Ardara - hat dann allerdings doch auch etwas von Kaffeefahrt mit Wärmedeckeneinkaufsberatung. Denn er führt direkt in eine Weberei, das heißt: in einen Verkaufsladen mit einem alten Webstuhl. Kommt eine Reisegruppe an, setzt sich Webemeister Eddy Doherty flink an das antiquarische Gerät. Nur einen Meter schaffe man in einer Stunde, erklärt er...

Ohne Publikum geht es dann vielleicht doch etwas schneller. Keine Frage, was es hier zu kaufen gibt, hat Qualität und ist gute alte Handwerkstradition: Tweeds, Decken, Hemden, Westen, Schals und Mützen aus dem Fell irischer Schafe, drei Decken lässt sich die Amerikanerin aus meiner Reisegruppe einpacken - ihre lieben Verwandten daheim will sie damit beglücken.

Ich spaziere noch etwas durch die beschauliche kleine Stadt. An der zentralen Kreuzung steht eine Gedenkbüste zu Ehren von John Doherty, unter seinem Namen steht „Fiddler on the Road“ – aus einer „fahrenden“ Familien (pavees, tinkers, gypsies) stammend, prägte der Geiger nicht nur die irische Musiktradition. Als Überbringer von Neuigkeiten war das „fahrende Volk“ der Musiker auch versiert im Geschichtenerzählen. Konnte man als Storyteller von seinen Storys leben? Wahrscheinlich. Selbst vor 20 Jahren besuchte ich ein Haus, in dem es keine Elektrizität gab. Da sind Geschichten von Reisenden immer gefragt. Wahrscheinlich funktionierte es ähnlich wie mit Fernsehserien – ein bissel Tratsch und Knatsch als Köder und die Fortsetzung der Story scheibchenweise.

Vielleicht sollte ich dem morgendlichen Regen danken, dass er mich davon abgehalten hat, mit dem Rad in diese Highlands zu fahren. Der Glengesh-Pass wäre auch bei besserem Wetter eine unvergleichbare Schinderei geworden. Das kleine Städtchen Donegal ist eine Touristenfalle, das weiß ich seit gestern Abend. Da ist kaum noch mit einer erquicklichen Session zu rechnen - die Ukulele nehme ich gar nicht erst mit, sondern schaue nur mal in das urige Pub, das gestern Abend so überfüllt war, dass ich auf der Türschwelle schon umkehrte.

Heute Abend aber sieht es ganz anders aus. Zwar ist das Pub wieder gut besucht, aber keine Busladungen aus Mitteleuropa... Ich setze mich auf die Bank zu den Musikern, andere Plätze sind nicht mehr frei. Direkt daneben ein Tischlein mit vier Frauen reiferen Jugendalters, die glucken wie ein Grüppchen Lesben aneinander, aber dann lächeln mich zwei von ihnen so charmant an, dass ich meinen ersten Eindruck verwerfe. Eine von ihnen hat eine langen dicken, blondierten Zopf, sie spricht mich in gebrochenem Englisch an und verrät mir, dass sie mit Motorrädern aus Dänemark gekommen sind – daher wohl die Lederkluft.

Auf dem Fensterbrett steht ein Bodhrán - ich frage mal wieder nach, ob das nur zur Dekoration sei. Nein, die dazugehörigen Stöckchen gibt es an der Bar. Gut, dann kann ich dort auch gleich ein Guinness ordern. Doch die Kellnerin hat alle Hände voll zu tun - mal eben so nach den Trommelstöcken suchen geht so zwischendrin überhaupt nicht. Ein Guinness ist halt auch nicht so einfach gezapft wie ein deutsches Pilsner. Der letzte Schliff bei einem Guinness, die Schaumkrone, das braucht seine Zeit. Dennoch hat sie auch die Stöcke nicht vergessen! Jemand bringt sie mir später in ihrem Auftrag.

Ich habe das Bodhrán, ich habe die Sticks, ich habe ein Bier, was braucht es mehr. Außer mir beteiligen sich zwei weitere Gäste in der Musikrunde, eine Deutsche an der Fiddel, ein Schweizer spielt ein kleines, altes Bandoneon - die beiden sind ein gut eingespieltes Pärchen. Ich trommle nur die flotten Stücke mit, bei den ruhigen Liedern lausche ich einfach. Während ich mich zu meinem Guinness wende, prosten mir die Däninnen zu - leicht süffisant, würde ich sagen.

Der Gitarrist kündigt seine Frau an, die Wirtin – sie setzt sich mir gegenüber zu den anderen Musikern. Der Gitarrist beginnt die Saiten zu zupfen, sie greift zum Mikrofon, singt eine unendlich lange Ballade - die singende Wirtin von Donagal dankt dem Applaus und entschwindet wieder hinter den Tresen, an dem es nach der langen Gesangseinlage einen enormen Durststau gibt. Ein alter Mann am nächsten Tisch wirft mir gelegentlich skeptische Blicke zu. Ich vermute mal, dass der Mann mehr vom Trommeln versteht als ich. Aber es fällt ihm nicht ein, nach dem Bodhrán zu greifen. Am Ende des Abends - die Musiker packen schon ihre Instrumente ein und ich stelle das Bodhrán wieder an seinem Platz auf dem Fensterbrett - zuckt es ihm doch noch in den Fingern. Ich wusste es!

Ich verrate ihm, dass ich seinen skeptischen Blick sofort bemerkt hätte. Der bezog sich eher auf die vernachlässigte Spannung des Fells als auf meine Trommelei, beschwichtigt er mich. Dieses Bodhrán hat Stellschrauben, mit denen sich das Fell spannen und somit ein höherer Klang einstellen lässt. Er spannt alle Schreiben gleichmäßig nach, prüft sorgfältig den Klang - man sieht: da ist der Profi zu Gange. Dann trommelt er a cappella - ein Meister seines Faches. Da wird auch noch einmal die Blechflöte ausgepackt. Und so geht die Session doch noch etwas weiter - sehr irisch.

> Lough Mourne > Castlefinn > Lifford > Derry

30. Juli
Donnerstag. Um 9 bin ich in der Spur. Kurz hinter Donegal kommt mir ein weißer Kleinbus mit blinkender Lichthupe entgegen. Der Fahrer winkt mir lebhaft zu. Im letzten Moment erkenne ich durch die spiegelnde Frontscheibe, dass es der Fahrer von meinem gestrigen Tagesausflug ist. Ich winke zurück - und schon ist er vorbei. Das ist erstaunlich, dass der Mann, der mich gestern mehr im Rückspiegel als von vorn gesehen hat, mich jetzt - auf meinem Rad und unter dem Ragencape! - erkennen konnte, so weit aus der Entfernung. Der Mann muss Adleraugen haben!

Die N15 führt mich in die Berge hinaus. Kurz vor dem höchsten Punkt - auf der Karte sind westlich der Straße Gipfel von 500 Metern eingetragen - lädt ein Rastplatz zum Verschnaufen ein. Auf einem Denkmal sind die Namen aller Ortschaften Donegals in alphabetischer Reihenfolge eingraviert. Damit wird John O’Donovan, der im Auftrag des Landvermessungsamtes im Herbst des Jahres 1835 durch Donegal wanderte und dabei die lokalen Bräuche der Bevölkerung beschrieb. So entstand als Nebeneffekt rein geografischer Feldforschung auch eine historische Ethnografie Nordirlands, die das ländliche Leben vor der großen Hungersnot schildert.

Nach der Kurve geht es über eine Hochebene, die ist wahrscheinlich auch Wetterscheide - der Nebel bleibt an den küstenseitigen Gipfeln hängen, es ist frisch hier oben, der Wind pustet Löcher in die Wolken, das Blau dahinter könnte Momente von Sonnenschein ankünden. Die Landschaft aus Hochmooren und kleinen Gebirgsseen ist wie gemacht für ein irisches Märchen voller Feen. Im Zwischenbericht O’Donavans an seinen Dienstherren schwärmt der Expeditionsleiter vom „Gap of Danger, where Patrick stood and O Donell fought and fell.“ Welcher der berühmten Patricks? O Donell könnte ein Held des Schlachtfeldes gewesen sein - letzteres lag offenbar hier in dieser Schlucht zwischen den Gipfeln des Barnas More und Croagh Connelagh.

An diesen kargen, windumtosten Höhen darf der tapfere Pedalritter noch eine nasskalte Brise einatmen, bevor er talwärts segeln kann. Beim Blick in grüne Täler huschen Feen und Elfen durch die Phantasie des einsamen Wandersmannes. Doch spätestens wenn eine Motorrad-Klicke die N15 hinaufdonnert, ist die romantische Anwandlung vorbei. Der Verkehr ist dünn hier oben, aber länger als 5 Minuten ist man auch hier selten allein. Im Tal reiht sich wieder Dorf an Dorf. In Castlefin verlasse ich die Hauptstraße und schlage mich querfeldein nordwärts. Die schmale Landstraße ist wieder Idylle, gelegentlich schreckt mich ein Hund auf.

An einem Hügel, der mit museumsreifen Traktoren und Pflüge drapiert ist, taucht ein Nandu-Paar auf. Die exotischen Laufvögel haben dann wohl doch einen größeren Ausflug unternommen… Auf dem Hügel wacht ein rundes Gartenhäuschen wie eine Burg über das Areal. Der Besitzer der vielen alten Maschinen kommt hinter einer Mauer hervor, um seine komischen Vögel zu füttern. Dann bemerkt er mich und grüßt mich. Die Nandus haben mich auch bemerkt - mehr als an mir sind sie an der Banane interessiert, die ich gerade schäle.

Sind Sie Traktorensammler? Frage ich den Mann. Jein, er könne nur halt nichts wegwerfen, erwidert er. Aber ja, es ist schon so eine Art Sammelei… Dann beantworte ich seine Fragen. Alles mit dem Rad? - Nein, nicht alles, nur Irland. - Respectable. Und was ist das für ein Instrument, das da aus dem Rucksack lugt? - Eine Ukulele... Wir schwatzen noch ein Weilchen. Norman heißt der Mann, eine Irokesen- oder Punkfrisur krönt sein Seniorenhaupt. Barpianist sei er früher gewesen, habe sich aber hierher zurückgezogen, um als Farmer zu leben – autark sein, das ewige Experiment.

Ja, das runde Häuschen am Hügel habe er selbst gebaut, das heißt: aus Teilen zusammengesetzt, die sich irgendwo fanden – Improvisation. Einer der beiden mannsgroßen Vögel hat einen trüben Schleier am Auge. Behutsam wischt ihm Norman den Schleier weg - der Vogel scheint darum gebeten zu haben, er hält ganz still. Als Zeichen seines Dankes stolziert der Strauß anschließend mit seinem Artgenossen davon. Auch ich verabschiede mich. Good luck, wünscht mir Norman - und: God bless.

Gottes Segen braucht man vor allem auf Straßen wie der N14, auf die ich in Rossgier einschwenke, um sie bei erster Gelegenheit wieder verlassen zu können. Die Straßenführung weicht entweder von meiner Karte ab oder ich habe ein Schild verpasst. Jedenfalls lande ich in der kleinen Stadt Liford und bemerke endlich, dass ich die R265, die mich nach Derry führen soll, verpasst habe. Ein Eis an der Tankstelle, wo ich mich ein Weilchen unterstelle. Warum? Die Antwort fängt mit R an und hört mit n auf…

Dann kehre ich um, muss den verdammten Berg wieder hoch. Ein Stück hinter St. Johnson sind die Preise an der Tankstelle plötzlich in Pfund - ich habe also unmerklich die Republic of Ireland verlassen und bin im United Kingdom of Great Britain and Northern Ireland angekommen. Die Entfernungsangaben sind nun in Meilen. Blau gestrichene Mauern umfrieden einen Hof ebenso gestrichener alter Häuschen - Church of England steht auf dem Schild im Grundstück.

An der nächsten T-Junction zeigt der Wegweiser nach rechts, in Richtung ……derry - der erste Tel des Ortsnamens ist mit weißer Farbe übersprüht, aber selbige ist verblasst. Und so schimmert das ungeliebte „London“ eben doch hervor. Und damit bin ich also schon am heißen Eisen jenes historischen Konfliktes, der bis vor zwei Jahrzehnten reichlich Blutzoll forderte. Heute muss sich die Stadt offiziell mit dem Doppelnamen Derry/Londonderry plagen, einerseits um den verfeindeten Seiten gerecht zu werden, anderseits aus historisch-stadtrechtlichen Gründen. Um das aber zu ändern, müsste ein Gesetz aus dem Jahre 1663 durch königliche Anordnung außer Kraft gesetzt werden!

Ein völlig verwursteter Ortsname ist zwar nicht des Pudels Kern, aber wohl irgendwie symbolisch für die nach wie vor verzwickte Situation der Stadt. Jeder Reiseführer empfiehlt, man möge sich - um kein blaues Auge zu riskieren - bei jeglichen Diskussionen über die Zeit der Troubles besser rauszuhalten. Ich denke, es ist immer ein guter Rat für Außenstehende, sich aus Konflikten anderer herauszuhalten. Anderseits, so lese ich in meinem Reiseführer, bieten geschäftstüchtige Taxifahrer spezielle Troubles-Touren an.

Ich nähere mich der City am linken Ufer des River Foyle und kann der Skyline wenig Reizvolles abgewinnen. Aus dem Stadtzentrum erhebt sich als höchstes Gebäude der Turm einer Kathedrale, am anderen Ufer verschandeln Reihenhäuser die Hügellandschaft. Auf der Uferpromenade erreiche ich die Peace Bridge, eine moderne Hängebrücke für Fußgänger – erst vor vier Jahren wurden sie eingeweiht wurde und verbindet nun mitten im Zentrum der Stadt die feindlichen Ufer.

Ich bleibe am hiesigen Ufer, hier ist die Altstadt, in der ich nach einem Quartier suche. Erst nach einigen erfolglosen Anfragen finde ich etwas, das zu meinem Budget passt - Paddy’s Palace. Auch wenn der Name es suggerieren möchte, ein Palast ist das Hostel ganz und gar nicht, eher ein schäbiges Eckhaus an der Woodleigh Street, von der Lage her wirkt es ruhig. Das Office und die Lodge sind eins. Ein Mädchen liegt auf der Couch - in Stiefeln. Gemeinsam mit ihrem schnarchenden Boy holt sie wohl etwas Schlaf nach. Als sie aufwacht, geht sie zum Computer und tippt etwas - sie gehört demnach zum Personal. In dem Mehrbettzimmer, das ich beziehe, bin ich vorläufig der Einzige, aber es gibt weder Tisch noch Stuhl.

Zurück ins Lodge, da will ich die Eindrücke des Tages in mein Tagebuch schreiben. Ein Mit20er mit kantig gestutztem Friedrich-Engels-Vollbart erklärt einer jüngeren Frau etwas über irische Folkmusik - er will ihr imponieren, so weit so gut. Aber muss er dazu „Dirty Old Town“ von seinem Smartphone abspielen lassen? Und dann auch noch über einen kabellos verbundenen Minilautsprecher? Ich bitte ihn, das Teil leiser zu drehen. Er entgegnet, die Lodge sei halt ein „room for everybody“ und wenn mir das nicht passe… Das mag schon sein, pfeffere ich zurück: I am everybody as well as you - and you are not alone here!

Das ärgert ihn, er plustert sich auf, die junge Frau geht vorsichtshalber schon mal in Deckung. Der Musikerklärer dreht etwas leiser, etwas… Alle verlassen die Lodge, doch die kleine Lautsprecherkugel plärrt weiter. Was soll der Scheiß! Hat der Grünschnabel noch alle Tassen im Schrank? Stellt seine plärrende Geräte hier ab und macht sich davon! Ich spüre den steigenden Adrenalinspiegel in mir, greife das Teil, will es ausschalten, finde aber keinen Schalter daran. Und niemand da, den ich fragen könnte.

Ich nehme das Teil, gehe damit nach draußen, will es in der Mülltonne versenken. Da kommt mir jemand vom Personal entgegen, dem zeige ich das Teil - der junge Mann findet etwas zum Ausschalten. Danke. Dann kommt auch Friedrich Engels zurück, schaltet die Kugel wieder ein. Excuse me, sage ich: Mach den Shit aus, ich sag’s nicht noch mal... Mein Adrenalin ist am Siedepunkt. Dieser Gockel erklärt die Lodge zu seinem Partyareal. Er nimmt das Teil und geht raus. Ich weiß nicht, wie die Sache ausgegangen wäre, hätte dieser Affe nicht im letzten Moment seine plärrende Mine in Sicherheit gebracht.

Mag sein, ich stehe hier als der garstige alte Zausel da. Aber wenigstens habe ich jetzt meine Ruhe, die Lodge leert sich. Ich beruhige mich langsam, versuche die angenehmeren Erlebnisse des Tages Revue passieren zu lassen - die Begegnung mit Norman, seine ruhigen Bewegungen wie er dem Strauß den Schleier vom Auge wischt, seine leise Stimme, die Stimme eines in sich ruhenden Mannes, eines Einsiedlers. Was für ein Kontrast zu hier! Auf der Webseite des Hostels steht: Stag and hen party bookings will not be honored, no exceptions - wahrscheinlich aus guten Gründen.

Derry ist eine explosive Stadt… Die knalligen Lackfarben, in denen die hölzernen Rollläden der Geschäfte gestrichen sind, können nicht darüber hinwegtäuschen, dass es noch immer ratsam ist, selbige nach Geschäftsschluss hrunterzulassen. Ich habe gerade erst gelernt, wie leicht ein Streit um ein kleines Problem eskalieren kann. Der eine will mit seinen multimedialen Gerätschaften beeindrucken, der andere will seine Ruhe… 

Von den Höhen der komplett erhaltenen mittelalterlichen Stadtfestung fällt der Blick auf Transparente und Wandmalereien in den umliegenden Wohnvierteln. Die kämpferischen Parolen des Nordirlandkonfliktes nur für tourismusförderliche Relikte halten zu können, wäre schön. Ich glaube, sie machen deutlich, wie tief die Gräben in dieser Stadt noch immer sind. Die Straßen von „Free Derry“ sind grau und menschenleer, nur gelegentlich fährt ein Auto umher.

Es ist Donnerstagabend, wahrscheinlich hängen die Leute vor den Flachbildschirmen der Pubs oder zuhause ab. Auf der anderen Seite der Mauer, in den Vierteln der „Londonderry West Bank Loyalists“, sieht es nicht besser aus: die Fenster sind mit Jalousien verrammelt, auf den Straßen liegen Holzpaletten, als stammten sie von einer erst gestern abgerissenen Straßenbarrikade. „Noch immer unter Belagerung“, klagt ein glänzend neues Transparent auf der Seite der West Bank Loyalists: No surrender - wir geben nicht auf... Hier herrscht bestenfalls Waffenstillstand. Selbst die Gassen der Altstadt im Innern der Stadtmauern wirken wie ausgestorben - erst gegen Mitternacht, wenn die Kneipenbummler von Pub zu Pub ziehen, um das Lokal zu finden, in dem es sich am lautesten herumschreien lässt... Naja, Mister Yeats, machen Sie sich mal keine Illusionen wegen der Schonung Ihrer ausgestreuten Träume!

In meinem Zimmer bin ich allein, aber am fremden Gepäck sehe ich, dass es nicht so bleiben wird. Ich bin gerade am Einnicken, da weckt mich Poltern auf der Treppe - alkoholisierte Stimmen. Eine Weile später stört mich das Brummen einer Maschine - was zum Teufel ist das denn jetzt? Ich stehe auf und gehe dem Geräusch nach. In der Lodge pennt jemand vom Personal. Woher kommt der Lärm? frage ich. - Welcher Lärm? - Er hört nichts. - Komm mit, sage ich, eine Treppe höher. Er öffnet eine Kammer, da rödelt ein Wäschetrockner - aha. Ich versuche ihn auszuschalten. NEIN! Die Maschine könnte kaputt gehen. Better this machine than I, entgegne ich. Turn it off, please! - Er sucht die Bedienungsanleitung, probiert was, die Maschine fährt runter. Na bitte, geht doch. Aber jetzt bin ich wieder putzmunter.

> Quigley's Point > Malin > Malin Head

31. Juli
Freitagmorgen - Selfcatering. Die Küche ist eng und schmutzig - sie ist auch der Durchgang zur Raucherinsel im Hinterhof. Das Linoleum klebt bei jedem Schritt an der Sohle fest. Paddy’s Palace ist eine schäbige Herberge - ein Grüppchen Teenager, das auf muffigen Sofas im Foyer pennt, schmeißt den Laden irgendwie. Schnell den Schlüsselpfand auszahlen lassen und dann nichts wie fort von hier.

Heute will ich bis in den nördlichsten Zipfel der grünen Insel, nach Malin Head. Was sagt das Wetter dazu? Es nieselt! Aber Nieseln ist erst mal besser als Regnen, also los, bevor es schlimmer wird. Ich verlasse die Stadt nordwärts, immer am River Foyle entlang, der dann in den Lough Foyle mündet, eigentlich eine zur See offene Bucht. Bis Quigley’s Point folge ich der Küstenstraße, dann biege ich auf die R240 ab, die bis Carndonagh einige steile Anstiege zu bieten hat. Am Hinterrad klappert etwas, ich kann die Ursache nicht finden, bemerke aber das Eiern des Rades - ich habe ein 8 im Rad, eine Speiche ist gebrochen. Vielleicht finde ich in dem kleinen Städtchen einen Radladen oder eine Werkstatt...

Nichts. Vielleicht finde ich im nächsten Ort, in Malin, eine Werkstatt. Wieder nichts. Es gießt aus allen Wolken - auf offener Straße habe ich keine Chance, das Problem genauer zu untersuchen. Inzwischen klappern zwei Speichen. Im Dörfchen  Malin entdecke ich eine Autowerkstatt, wo ich mich wenigstens unterstellen könnte - es schüttet wirklich aus vollen Kannen, ich bin gänzlich durchnässt. Der Werkstatt-Chef ist freundlich, will aber mit einer Mitarbeiterin zur Mittagspause. Die Monteure sind auch schon außer Haus.

Wenn ich mir selbst zu helfen wüsste, könnte er mich reinlassen. Er führt mich samt Rad durch die Werkstadt und von dort hinaus in einen von Unkraut überwucherten Hof. Ich bin von Pfützen und Schrott umgeben, unter dem kleinen Verschlag aus Wellblech, auf den der Regen donnert, ist es so finster, dass ich kaum etwas erkennen kann. Zu allem Übel hört es sich so an, als habe der Mann die Werkstadt jetzt von innen verriegelt. Tatsächlich. Und das rostige Tor ist auch verschlossen. Verdammt ich bin komplett eingeschlossen!

So was kann ich nicht ab. Einen fremden Radler unbeaufsichtigt in seinem Betrieb lassen? Gut, die Welt ist voller Halunken - es gibt keinen Grund, einem völlig fremden Radfahrer zu vertrauen. Anderseits: Wie weit käme man mit einem Fahrrad, das schon zwei gebrochene Speichen im Hinterrad hat? Ich zerre an der Eisentür, rüttle am Eisentor… Zu! Verriegelt und verschlossen! Ich habe bestimmt keine Klaustrophobie… Aber wenn mich jemand bei dem Wetter in einen so grässlichen Hof sperrt, dann ist das für mich durchaus ein worst case.

Warum hat der Mann nicht gesagt: Sorry, komm in einer Stunde wieder. Das kleine Wellblechdach schützt mich nicht vor dem Regen, der Wind pustet mir das Regencape über den Kopf. Jemand sperrt mich in einen dunklen, dreckigen Hof - der Boden ist schwarz von Öl. Ehe ich so richtig begreife, in welcher Lage ich bin, ist der Mann längst außer Hörweite.

Das wäre dann also der zweite Aufreger innerhalb von 24 Stunden - Alexander, behalte die Nerven! 1) Adrenalinspiegel runter. 2) Gepäck runter! 3) Rad umdrehen, aufbocken, Luft ablassen, die gebrochenen Speichen wechseln. Ersatzspeichen habe ich immerhin im Gepäck - und auch einen Speichenschlüssel! Beim Wechseln der zweiten Speiche bemerke ich, dass selbige im Gewinde des Nippels gebrochen und das Reststück nicht herauszubekommen ist. Hier bin ich am Ende mit meinem Selbst-ist-der-Mann-Latein. Zu allem Übel stelle ich grade fest, dass mein Gepäck mitten in einer Pfütze steht – und als sei das nicht genug an Ärgernissen stinkt mein Gepäck plötzlich nach Katzenpisse. Ich sage es wirklich ungern, aber an dieser Stelle der Reise kann ich es mir nicht verkneifen: I am not amused...

Keine Idee, wie es jetzt weitergehen soll. Ich bin eingesperrt und kann nur warten. Niemand da, der mir helfen könnte. Endlich tut sich was in der Werkstatt. Jemand öffnet die Tür. Vielleicht ist der junge Mann ein Lehrling, jedenfalls jemand, der selbst überrascht ist, hier auf einen Fremden zu treffen. Und ich glaube, er versteht weder mein Englisch noch meine Gesten. Wörter wie Speichennippel oder Gewinde waren auch noch nie in meinem Vokabular.

Ich zeige das Problem einem anderen Monteur - der versteht mich, probiert, muss aber auch einsehen, dass da nichts zu machen ist. Ich bin nahe der Wendeschleife meiner großen Radtour - und jetzt soll alles vorbei sein? Wegen so einem winzigen blöden Nippel? Das kann doch einfach nicht wahr sein... Im Grunde brauche ich jetzt weiter nichts als ein neues Nippel, gleiche Bauart. An hundert Zäunen sah ich zu Blumenständern umfunktionierte Fahrräder - bunt besprühte alte Räder, die nie wieder jemand besteigen wird - potentielle Ersatzteilspender...

Jetzt, da ich mal ein Speichennippel von so einem Rad gebrauchen könnte, steht nirgends eines… It’s a pity, sagt der Monteur. Ja, das kann man wohl sagen - wenn man mit dem Could-be-worse-Gleichmut eines Iren ausgestattet wäre, der bei einer Autopanne im Trockenen sitzt und wartet, bis ihn jemand abholt. Eine Weile nach meinem Hinweis auf die sonst überall herum stehenden decoration bikes beginnt in einem tiefen Gedächtnisstübchen doch ein Lämpchen zu flackern.

Well, er habe da mal was im Hof stehen sehen, sagt der Monteur. Wir gehen hinaus. Und tatsächlich! Ein Stück hinter dem Wellblechverschlag, auf einer triefend nassen Wiese, auf der meterhohe Disteln wuchern, steht ein altes verrostetes Kinderrad an einen Schrotthaufen gelehnt. Bleibt die Frage: Wie kommt jetzt das rostige alte Rad zu mir, ohne das ich mir Waden und Arme an den Disteln zerkratze? Beherzt steigt der Mann durchs nasse Unkraut - Stiefel und eine geschlossene Arbeitsoverall schützen ihn. Er zerrt das Rad aus der Vegetation und bringt es mir.

Ich drehe ein Nippel heraus. Und siehe: Es passt zu meiner Speiche! Ich gestikuliere dem Mann, dass er für mich der Held des Tages ist. Ich schraube alles wieder zusammen, pumpe Luft auf den Reifen, packe das - nach Katzenpisse stinkende - Gepäck auf. Ich verabschiede mich mit innigsten Dankesworten. Dem Chef begegne ich am Ausgang auch noch. Zum Glück ist meine Verzweiflung einiger Erleichterung gewichen.

Nach dieser glücklich überwundenen undesired criticality, nach dieser Befreiung - was kann mir da schon der herabdreschende Regen anhaben, der mich nun draußen erwartet? Ich bin noch nass vom letzten Regen – viel nasser kann ich nicht mehr werden. So schnell gibt ein Ukulele-Lehrer nicht auf, wenn er schon mal an irischen Gestaden radelt. Die vier Wochen Regen haben mich abgehärtet. Die 4-Winds-Böen sind allerdings gefährlich! Ich kann kaum noch die Straße erkennen, es pustet mich vom Sattel. Ich gebe mich geschlagen - vorerst, entscheide mich zur Umkehr.

Als ich wieder die Werkstatt passiere, winke ich meinem Tageshelden zu, der rauchend unter dem Vordach der Einfahrt steht. In der Ortsmitte ist ein kleines Hotel. Das Foyer sieht nobel aus, viktorianisches Mobiliar, Kronleuchter, Bücherregale, im Kamin des Saloons knistert ein Feuerchen. Im Ohrensessel ist ein Zeitung lesender Gentleman versunken - er beäugt mich nasses Häufchen Elend geringschätzig. Nein, hier brauche ich nicht nach einem Zimmer zu fragen. Hinaus und unter das Vordach, durchatmen, warten - warten bis der Sturm nachlässt.

Nach einer halben Stunde wird es heller, der Regen lässt nach. Ich starte zum zweiten Anlauf in den nördlichsten Zipfel der nassen Insel. Gegen 6 erreiche ich endlich die verstreute Siedlung des Dörfchens Malin Head, ein Wegweiser zeigt mir die Richtung zum Sandrock Hostel, der nördlichsten Herberge Irlands. Auf den letzten Metern der Straße, die direkt an die Küste hinunterführt, hört der Regen auf. An dem bungalowartigen Haus klingle ich mehrfach und warte geduldig, wie es ein Schild an der Tür verlangt. Ein alter Mann öffnet mir, stellt sich als Rodney vor. Mittels einer Umgebungsskizze erklärt mir der gute Mann die scenic road, die landschaftlichen Reize der Küstenstraße.

Noch bevor ich weiß, ob ein Bett frei ist, lerne ich, an welcher Ranch ich mit welchem alten Kauz rechnen könnte, dem ich dann besser keine Beachtung schenken sollte. Dann kommt seine Frau und bietet mir einen Begrüßungstee an. Gerne. Bevor mir gezeigt wird, wo ich heute Nacht mein müdes Haupt betten kann, erhalte ich noch ein Hausführung und lerne, welcher der fünf riesigen Mülleimer welchen Zivilisationsrückständen vorbehalten ist - von wegen, Deutschland sei Mülltrennungsweltmeister.

Den Tee serviert das alte Mütterchen nach wenigen Minuten in dem sehr gemütlich eingerichteten Gemeinschaftsraum. Das Wasser hat sie auf einem Kaminöfchen erhitzt, in dem Torfbriketts glühen. Eine Schale Kekse stellt sie mir neben die Tasse und das Milchkännchen. Die Kekse sind meine erste feste Nahrung seit einem Kanten Brot und einem Apfel am Morgen. Als sich die Keksschale leert, legt Margaret umgehend nach. Ich glaube, ich bin an einem sehr freundlichen Ort angekommen.

Nach dem gestrigen Abend in Derry, nach dem Zoff in Paddy’s Palace, tut es besonders gut, so zuvorkommend behandelt zu werden. In einem Sessel mit Kissen anlehnen, die Beine ausstrecken - Entspannung pur. Und das nach diesem sehr verregneten Tag, nach zwei gebrochenen Speichen!! Und jetzt gesellt sich sogar noch Frau Sonnenschein dazu - strahlend blauer Himmel lässt die See vor dem Fenster schimmern. Und die Wellen schäumen leuchtend weiß.

Wenn ich mich beeile, finde ich im Dorf vielleicht noch einen geöffneten Laden. Vorher will ich noch die nördlichste Runde Irlands drehen, die nördlichste Straße fahren, die nördlichste Küste meiner großen Tour erleben. Ich bin kaum auf der Straße, schon ziehen am Horizont wieder regenschwere Wolken heran. Eine halbe Stunde später bin ich am Nordkap von Irland - von hier kann Blick über eine die Küstenlandschaft schweifen. Geschafft! Ab hier geht es mit jeder Meile wieder der Heimat entgegen.

Ein Auto hält auf dem kleinen Parkplatz - ein Mann und eine Frau steigen aus dem Auto. Sie machen Fotos, ich mache Fotos. Sie fragen mich, ob ich sie gemeinsam ablichten könnte. Anschließend frage ich sie, ob sie mich einsamen Pedalritter ablichten könnten. Wir sind die einzigen drei Menschen, die an diesem Abend staunend in die menschenlose Ferne schauen - am norwegischen Nordkap, wo ich im Sommer vor fünf Jahren stand, hatte ich die unvermeidliche Gesellschaft einiger Tausend Menschen…

Die beiden steigen in ihr Auto und fahren davon. Es ist unbeschreiblich erhebend, ganz allein an solch einem herrlichen Ort zu verweilen. Die Regenschleier ziehen vor der Abendsonne vorüber und hundert Schattierungen von Grün streifen über Moos und Wiesen. Aus der Ferne ist das einsame Muhen eine Kuh zu hören. Kein Gebrabbel von Menschen stört den Blick in die Ferne. Das Glitzern der nassen Grashalme - schön ist das.

Ich bin in der Wendeschleife meiner großen Fahrt. Ein paar Postkarten-Cottages liegen in weiten Abständen über die Hügel verstreut. Der Regenschleier ist inzwischen bei mir angekommen, deshalb spare ich mir den kurzen Abstecher zu jenem historischen Antennenmast, der die erste Langwellenfunkverbindung nach Amerika ermöglicht haben soll. Es geht auf 8 - ich sollte mich beeilen, zurück ins Dörfchen zu gelangen, falls ich noch einen geöffneten Landen vorfinden will.

Ich schaffe es gerade noch unter das Dach der kleinen Markthalle zu flüchten, als der Regen mit voller Wucht herabprasselt. Das tägliche Stück Cheddar und etwas Brot ist schnell gefunden, am Weinregal verweile ich länger - Irland ist kein Land für Freunde des Rebensaftes, die Auswahl ist beschränkt. Aber ich finde einen Chianti - alles wird gut. Der Abend am Wendepunkt meiner Reise kann würdig begossen werden. Die Regenwolke ist abgezogen, in den Pfützen um die Tanksäule schwimmt Benzin - schillernd bunt so wie ein Regenbogen…

Die Abendsonne zaubert einen Regenbogen herbei, den ersten der bisherigen Reise! Das finde ich merkwürdig für ein Land, wo es fast jeden Tag mehrfache Wechsel zwischen Regegüssen und Sonnenschein gibt – dieser Tag hielt einiges an Überraschungen bereit. Im Hostel sind inzwischen noch ein paar Gäste eingetroffen, im Schlafraum treffe ich einige Jugendliche, die sich auf deutsch unterhalten.

Im Gemeinschaftsraum sitzt eine Frau mit einem Glas Wein, sie spricht englisch, aber mit deutschem Akzent. Ich gebe meine Herkunft erst preis, als sie mich danach fragt. Anette heißt sie, stammt aus Bayern, wohnt seit Jahren in Irland, ist mit dem Auto fürs Wochenende hier, um mal von der Familie auszuspannen. Radeln sei auch eine ihrer Leidenschaften, eigentlich habe sie auch mit dem Rad anreisen gewollt, aber dann schien es ihr vernünftiger, doch erst das Terrain zu erkunden.

Der einzige Punkt, an dem ich ihre Ernsthaftigkeit bezweifeln muss, ist die Behauptung, man könne eine Strecke von Cork bis hier in zwei Tagen schaffen. Zwei Freunde hätten das jedenfalls schon gemacht und deshalb traut sie sich das auch zu. Ende 30 wird sie sein und kommt durchaus sportlich rüber. Aber in zwei Tagen mit dem Rad von Süd nach Nord durch Irland? Vielleicht auf dem kürzesten Weg – 500 Kilometer mit dem Rennrad auf der Autobahn...

In der hellen, veranda-artigen Nische des Gemeinschaftsraumes verspeist ein Mann, Mitte 30, was er sich in der Küche aufwändig zubereitet hat, etwas mit viel Gemüse. Wo vorher ein freier Platz im Sessel war, sitzt eine Gitarre. Ich frage ihn, ob es sein Instrument sei. - Ja. Dann verrate ich, dass ich eine Ukulele dabei habe: What about a little jam session?

Erst ist der Mann ziemlich wortkarg, aber als er merkt, dass ich auch Blues auf dem Kasten habe und singen kann, wird er gesprächiger. Später gesellt sich ein Pärchen dazu, eine End20erin und ein End30er. Er ist ein Mann der Farben - mit Ausstellungen von London bis New York. Marty Kelly steht auf seinem Kärtchen. Wir unterhalten uns angeregt, der Wein macht die Zungen locker. Nein, die schöne Frau sei nicht seine Frau oder Freundin, verrät er mir bei einer Zigarette vor der Tür, man kenne sich schon seit Schulzeiten.

Ein anstrengender Tag mit reichlich Regen und einer fatalen Panne liegt hinter mir, nur 50 Kilometer, aber zwischen Derry und Malin Head liegen Welten: dort Lärm und urbane Aggressionen, hier ein stilles Hippie-Refugium. Wir hocken noch Stunden nach Mitternacht zusammen. So intensiv habe ich mich auf der ganzen Fahrt nicht unterhalten. Wie die Bucht vor unserem Fenster im Schein des  Vollmondes schimmert - grandios. Die Kerzen sind gelöscht, in seiner ganzen Herrlichkeit zieht der Mond vor einem funkelten Sternenhimmel vorüber.


> Greencastle > Downhill > Coleraine > Portrush

1. August
Samstag, Regen… Ich bin zeitig wach, aber bei dem Wetter ist keine Eile angesagt. Erst um 10 lässt der Regen nach, mein Startsignal. Auf der Landstraße kommen mir vereinzelte Traktoren entgegen. Irgendwo hatte ich ein Schild gelesen: Inishowen Tractor Race, ob das heute ist? Ich beginne Schlimmes zu ahnen: Malin Head scheint der Treff- und Startpunkt zu sein.

Ich halte mich entlang der hügeligen Nordküste der Halbinsel - eigentlich eine Inselhalbinsel, die größte Irlands. Am Straßenrand stehen mit Schaulustigen gefüllte Autos - Kinder winken mir fröhlich zu. Ich werde als Vorhut eines größeren Konvois begrüßt. Eine Rückfrage bestätigt meine Ahnungen. Ich bin direkt auf der Rennpiste des Inishowen Tractor Race! Jetzt kann ich nur versuchen, so viel Vorsprung wie möglich zu gewinnen.

In den Dörfern vor Cudaff sammeln sich immer mehr Menschen am Straßenrand. Die Kinder sind völlig aus dem Häuschen. Väter und Großväter winken mir zu, Kinder imitieren die Daumen-hoch-Geste - manche können sich noch kaum auf ihren kurzen Beinchen halten, zeigen aber dem kühnen Pedalritter ihre Däumchen, als hätten sie auch nur die geringste Ahnung von all dem Trubel. Ein Blick zurück macht deutlich, dass mein Vorsprung schwindet – der Anfang des Konvoi taucht an einem Hügel am Horizont auf.

Dann sind auch die Motoren zu hören. Es dauert eine Viertelstunde, bis sie an mir vorbeiknattern – ein Konzert für Freunde des Dieseltaktes. Aus der Nähe betrachtet ist das Traktorrennen doch eher eine Traktorparade - zum Glück. Hunderte Traktoren! Als der letzte vorbei ist, kann ich als Freund von sauerstoffhaltiger Luft nicht gleich weiter, erst muss die Abgaswolke abziehen! Um eines allerdings komme ich kaum herum: das ist die endlose Ölspur, die so ein kilometerlanger Trktorkonvoi hinterlässt. Zum Glück ist die Straße überwiegend trocken, um die Regenpfützen ist der bunte Schmierfilm erkennbar. Bei dem Gedanken, dass diese Dreckschleudern normalerweise Äcker pflügen, bekommt die Bio-Kartoffel aus dem Aldi-Regal ein leicht öliges Geschmäckle.

Nach einigen steilen Up- und Downhills erreiche ich Greencastle. Hier verengt sich der Lough Foyle auf etwa 1000 Meter, eine Fähre kommt gerade vom gegenüberliegenden Ufer – dort ist Northern Ireland, United Kingdom. Auf der Fähre beginnt es wieder heftig zu regnen. Die Passagiere sitzen in ihren Autos, einen Aufenthaltsraum für Fußgänger oder Radfahrer gibt es nicht. Der Kassierer winkt mich zu Personalschutzraum. Das Interieur einer Bauarbeiterwagens aus DDR-Zeiten wäre vergleichsweise luxuriös zu nennen. Man fragt mich nach dem Ziel meiner Fahrt. - Cycling around Ireland, really? Good boy! Einer der Männer hält mir eine Handvoll Shrimps entgegen.

Der erste Landzipfel von Northern Ireland ist flach, die steife Brise von der Waterkant findet nur an mir eine Brechung, mal von vorn mal von der Seite. Im Wind segeln Regentropfen. Dann wird der Wind von meterhohen Mauern und einigen Wachtürme abgeschirmt - die erste nennenswerte Infrastruktur auf dem Terrain des britischen Königreiches ist das Maglligan Prison - ein im Zuge der blutigen Exzesse des Nordirlandkonfliktes 1972 eingeweihtes Gefängnis. Das einstige Hochsicherheitsgefängnis ist mittlerweile auf „Low-Medium Security“ herabgestuft...

In Limavady biege ich links in Richtung Coleraine ab. Von einer 100 Meter hohen Felswand ergießt sich ein Wasserfall. In einem Ort namens Downhill gibt es ein Hostel - direkt an der Küste. Hier könnte ich nach einem Zimmer fragen, doch es ist noch früh am Abend und ich habe noch Kraftreserven für die Steigung, die nun vor mir liegt. Nach einigem Schieben erreiche das von zwei Steinlöwen bewachte Lion’s Gate, Eingangstor zum Mussenden Temple – von dem einstmals herrschaftlichen Wohnkomplex mit Seeblick sind nur noch Ruinen zu besichtigen.

Quartier könnte mir der kleine Küstenort Castlerock bieten, eine schnurgerade Straße führt zu der etwa eine Meile entfernten Siedlung. Wenn ich dort nicht fündig werde, wäre der Abstecher ein beachtlicher Umweg, dann bergan. Nein, ich bleibe auf der Landstraße nach Coleraine. Doch je näher ich der Stadtkomme, desto stärker ist die Straße befahren. Deshalb biege ich auf die ruhige Ballywoolen Road ab, die küstennah verläuft und mich dann River Bann entlang in die City von Coleraine führt.

Die angeblich so lebhafte Studentenstadt ist nicht nur das Gegenteil von lebhaft, sie ist nahezu ausgestorben - auf dem zentralen Boulevard ist kaum noch ein Mensch anzutreffen, alle Geschäfte geschlossen, die Fensterrollos sind heruntergezogen. An einer Bushaltestelle sitzen zwei Mädchen - ich frage sie nach der Straße, wo laut meinem Reiseführer eine Herberge sein sollte. Die beiden scheinen sich nicht auszukennen. Ich frage einen Mann, der seinen Hund Gassi führt. Der Mann rät mir ab, den Stadtbezirk überhaupt erst aufzusuchen - dort ginge es recht kriminell zu. Er rät mir, zum nächsten Küstenort zu radeln, nach Portstewart - jede Menge B&B würde mich dort erwarten.

Tatsächlich sehe ich viele B&B-Schilder, ich klingle an etlichen Häusern. Leider sind alle Herbergen komplett besetzt. Das ist ärgerlich, zumal es zu regnen beginnt und duster wird. Eine Frau empfiehlt mir Coleraine… Nein, von da komme ich ja gerade - und dort habe ich auch nichts finden können. Dann kann ich es nur noch im nächsten Küstenort versuchen, in Portrush, empfiehlt mir eine Frau in einer Hotel-Rezeption, nachdem sie bestimmt eine Viertelstunde für mich herumtelefoniert hat. Saturday Night an der Urlaubsküste Nordirlands - und am Montag ist Bank Holiday – das wird schwierig.

Portrush erreiche ich erst nach 10, das Nachtleben hat begonnen. Im ersten besten Hotel frage ich nach einem Zimmer. Die Dame an der Rezeption fragt: One person, one night? – Yes, one man, on bike. - Ein Zimmer ist frei, aber es spiele nachher eine Band – mindestens bis zwei oder drei Uhr. Ziemlich suboptimal - gut, dass sie so freundlich ist, mir das anzukündigen. Auf der Straße tobt bereits das Nachtleben eines Urlaubsortes in der Hochsaison - Portrush scheint ein Hotspot des Wochenendtourismus zu sein...

Nach längerem Suchen finde ich etwas abgelegen ein Hostel. Ich würde auch ein Bett im Schlafsaal akzeptieren. Der Portier führt mich gemeinsam mit zwei weiteren Personen, die gerade eintrafen, die Treppen hinauf, zeigt uns das Zimmer und erläutert dann sehr ausführlich, wo man gut dinieren oder tanzen gehen könne. Dann fragt er mich, ob ich ein Bekannter der beiden anderen sei… Endlich begreife ich, dass es ein Missverständnis gibt. Der Mann hat nicht kapiert, dass ich nicht zu den beiden gehöre. Nein, es leider nichts mehr frei.

Es ist finster und wird kalt in Portrush. Auch in einem weiteren Hotel ist alles ausgebucht. Mir wird klar, dass meine Chancen, eine Unterkunft zu finden gegen null schwinden. Ich suche in jeder Nebenstraße, in jeder Sackgasse eine strapaziöse Odyssee. Einen Bahnhof, wo ich die Nacht im Warteraum verbringen könnte, gibt es in dieser Stadt nicht. Dann entdecke ich das Port Roush Hostel. Auch da ist nichts frei.

Es geht auf 11 und ich bin ohne jede Hoffnung – gestern die schwierige Panne, heute schon wieder eine „undesired criticality“… Ich bin seit gut drei Stunden auf Quartiersuche. Ich bin müde, erschöpft - ich würde mich mit dem Sofa im Foyer begnügen. Sorry, das geht aus Sicherheitsgründen nicht, sagt die Chefin des Hauses. Dann verlässt sie das Haus. Ich verlasse das Haus ebenfalls, verweile ratlos an der Eingangstreppe. Was nun? Aus dem Nachbarhaus kommt ein Mann. Wenn es mir nichts ausmachen würde, die Nacht in seinem Lieferwagen ums Eck zu verbringen, dann könne er mir den anbieten. You are my angel, antworte ich voll Erleichterung - alles ist besser als eine Nacht draußen im Regen!

Andy heißt der gute Mann. Er geht und holt den Fahrzeugschlüssel, bringt mich zu seinem Gefährt - er habe selbst schon drin geschlafen, wenn er auf Reisen keine bessere Bleibe fand. Ich habe eine Flasche Wein, die wird mir Gesellschaft leisten, sage ich, und helfen, die nötige Schwere für eine Nacht auf der Isomatte zu finden. Nein, Gesellschaft könne ich auch im Hostel haben. Und duschen könne ich auch, und frühstücken.

Wir gehen zurück ins Hostel. Andy bringt mir ein Weinglas, wir machen es uns im Foyer gemütlich. Sowohl meine prekäre Situation als auch die Notlösung haben sich schnell herumgesprochen, einige weitere Gäste haben sich am Couchtisch versammelt. Vor einer halben Stunde war ich so was von unten, jetzt bin ich gerade der glücklichste Radler der Welt. Noch nie hat ein Glas Wein so gut geschmeckt wie hier und jetzt!

Andy ist mit seiner Frau für etliche Jahre um die Welt gereist ist, auf einer Weltkarte im Foyer markieren Stecknadeln die Orte, an denen er war. Als erfahrene Globetrotter können sich die beiden gut in meine Lage versetzen. Wir tauschen ein paar Reiseepisoden. Dann greife ich, wie versprochen, zur Ukulele und singe mein Lieblingslied: „Memphis in June“. Am Ende des Liedes wandle ich Memphis spontan in Portrush um - und Andy ergänzt: in August.

Andy’s Frau bringt mir eine Matratze und Decken. Wahrscheinlich, sagt Andy, hätte ich es heute Nacht draußen im Auto sogar ruhiger als im Hostel, wo einige der Kneipenbummler erst später in der Nacht zu ihren Betten finden werden. Der Bank Holiday, ein spezieller irischer Feiertag, beschert den Pubs und Herbergen der Küstenorte ein langes Wochenende. Eine besondere Verkettung von Umständen und der gute Ruf von Portrush als friedliches Refugium zuzeiten der Troubles erkläre den starken Ansturm von Kurzurlaubern, meint Andy.

An der Küste rauscht die Meeresbrandung, auf das Autodach trommelt der Regen. Ich sitze im Trockenen, kann meine müden Knochen lang machen. Ein karges Nachtlager auf vier Rädern ist heute Nacht ein Königreich für mich. Der Wein wirkt wie ein Zaubertrank, aller Stress weicht von mir. Die letzte Neige trinke ich bei Stirnlampenlicht. Während der Wein seinen Rausch entfaltet, überwältigen mich die Tageseindrücke, schnell zieht es mir die Augen zu. Heute Nacht schlafe ich den glücklichsten Globetrotterschlaf der Welt.


> Bushmills > Ballycastle

2. August
Nieselwetter, es gibt keinen Grund zur Eile. Im Hostel kann ich mich restaurieren und frühstücken. Auch möchte ich mich nochmals bei meinen beiden Engeln bedanken. Andy ist noch nicht aufgestanden? Nein, er ist in der Kirche - es ist Sonntag. Der Regen hört auf, Zeit zu starten. Andy trifft mich noch - beim Abschied macht er ein paar Fotos von mir und meinem Rad. Ich verspreche, einen Gruß zu schicken, sobald ich wieder zuhause bin.

Ein Stündchen später erreiche ich die bekannteste Natursehenswürdigkeit Nordirlands - The Giant’s Causeway. Um zur „Dammstraße des Riesen“ zu gelangen, gilt es zunächst, mein Rad samt Gepäck am Eingang des Besucherzentrums anzuschließen - und darauf zu vertrauen, dass sich unter die Tausende von angekarrten Busreisenden keine Taschendiebe gemischt haben. Nur Fotoapparat und andere wertvolle Utensilien nehme ich mit.

Im Visitor Center erwerbe ich die Eintrittskarte, mein bescheidener Beitrag zum Erhalt des Unesco-Weltkulturerbes beträgt 8.50 Pfund Sterling – etwas über 10 Euro. Der Ticketschalter ist so eingerichtet, dass man mitten durch ein Restaurant hindurch muss – erstaunlich, dass dem verlockenden Mittagsangebot bereits so zeitig – es ist gerade erst 11 – so viele Besucher nicht widerstehen können. Als nächste Touristenfalle ist die riesige Souvenirabteilung unumgänglich. Wer hier Kinder - oder andere mit Glitzerkram zu beeindruckende Persönlichkeiten - mit sich führt, kann schon mal einen Batzen Geld ausgegeben haben, bevor man das skurrile Ensemble von Basaltsäulen, das seine Entstehung einer eruptiven Laune vulkanischer Natur verdankt, überhaupt zu Gesicht bekommt.

Eine Heerschar von Entertainern stürzt sich auf jedes Kind, Clowns umkreisen hübsche Muttis - wie die Motten das Licht. Mit Headsets ausgerüstete Animateure buhlen in 12-Stundenschichten um Aufmerksamkeit. Ein kleiner Junge weint - sofort stürzt eine Sonderabteilung von Kindertröstern auf ihn los. Ich weine nicht, aber auch mir tritt das Bespaßungspersonal grinsend in den Weg – bei so viel gekünsteltem Brimborium sinkt meine Erwartung an die eigentliche Attraktion. Am Ausgang des Eintrittskarten-Restaurant-Souvenir-Komplexes erwarten mich in blaue Uniformen verpackte Studentinnen, die sich die Sommerferien mit bezahltem Lächeln vertreiben.

Die Walkmans, die zu verteilen ihr Job ist, erläutern auf Knopfdruck den geologischen Ursprung des Naturphänomens - und sicher auch den Mythos vom verliebten Riesen, der mittels des Causeway zu seiner Flamme nach Schottland gelangt sei. Man kann die romantische Geschichte in jedem Reiseführer lesen, auf den Flyern nochmals – und wer mag, hört sie nun ein weiteres Mal per Knopfdruck – auf Englisch, Deutsch, Japanisch, Chinesisch...

Wie oft mag die hübsche Studentin ihren Text heute schon runtergenudelt haben? Schlimmer: Wie oft mag sie das heute noch vor sich haben? Tausendmal wird nicht reichen. Was für ein grausiger Ferienjob! Ein mythologisches Hirngespinst sorgt dafür, dass Tausende Menschen zu einer an sich bedeutungslosen Galerie von Steinsäulen gelockt werden und Hunderte andere Menschen ihren Tag damit vergeuden, einer stinklangweiligen Beschäftigung nachzugehen. Ich habe noch nicht eine Säule des Riesenweges zu Gesicht bekommen, aber ich lerne gerade, dass die gnadenlose Vermarktung einer Schnulze alles ist, was mich hier erwartet.

Ein kleiner Shuttlebus steht bereit. Da ich die Lenkertasche mitzuschleppen habe, nehme ich das Angebot an – mein Beitrag zum Erhalt all dieser sinnlosen Arbeitsplätze steigert sich damit um 1,50. Die Sprechgeräte von zwei Dutzend Fahrgästen plappern durcheinander - das babylonische Wirrwarr ist perfekt. Mit welchem der Knöpfe lässt sich das Gerät ausschalten? Die Busfahrerin weiß es auch nicht, aber sie kann lächeln, lächeln, lächeln. Ich staune über die Gelassenheit, mit der die Leute ihren Job ertragen – jeden Tag stundenlang diesen Irrsinn ertragen? Ich wäre nach 30 Minuten reif für die Klapsmühle.

Nach einigen Kurven und Hügeln bin ich endlich am Weg des Riesen - ich und eine gefühlte Million Besucher. Eine Hälfte davon klettert auf die Säulen, die andere Hälfte fotografiert die erstere, wie sie die Säulen erklimmt. Kinder stolpern, stürzen - schreien. Eltern trösten, schimpfen - schreien. Teenager posieren, quieken - schreien. Junge Pärchen fahren die Teleskopstangen ihrer Fotogerätschaften aus - sich selbst zu fotografieren ist der neue Volkssport. Seine Facebook- und Twitter-Freunde mit Selfies zu füttern, ist das Credo der Zeit. Die menschliche Gemeinschaft ist in ein sich gegenseitig „likendes“ und „dislikendes“ Tollhaus verwandelt und ein paar Basaltsäulen an der nordirischen Küste dienen als Abenteuerspielplatz und Fotokulisse...

Selbst dem sagenhaften Riesen Fionn McCumhail wäre hier das  Schmachten nach der Riesin seiner Träume vergangen. Nach einer anderen Version der Legende, sei der Riese lediglich vor einem schottischen Kontrahenten geflohen. Wie dem auch gewesen sein mag – die Leute glauben jeden Blödsinn und den blödesten zuerst. Nach einem einzigen Foto kehre ich zum Shuttle zurück. Die Busfahrerin mag staunen, mich so schnell wieder zu sehen. Lächelt sie mich deshalb wieder an? Ob sie mich tatsächlich an-lächelt oder eher durch mich hindurch-lächelt, weil sie gar nicht mehr anders kann, ist eine andere Frage. Keine drei Minuten sind seit meiner Ankunft an diesem Rummelplatz vergangen und ich habe nur ein Bedürfnis: Fort von hier!

Bis heute glaubte ich, Weltkulturerbe-Status sei eine Art Auszeichnung - die Unesco sorge mit ihren Ehrentiteln quasi irgendwie auch für Naturschutz, für den Erhalt besonderer Landschaften... Vergisses! Ein gegenteiliger Effekt trifft ein - die maßlose Vermarktung führt zum beschleunigten Verfall. Riesige Flächen werden asphaltiert und betoniert, um Parkplätze zu schaffen. Alles wird umzäunt, vermauert, verunstaltet – alles dreht sich ums Geld. Vergeudete Arbeitskraft, vergeudete Rohstoffe, vergeudete Lebenszeit – Selbstversklavung.

Bevor ich dem Gewühl entkomme, muss ich nochmals durchs Visitor Center - Augen zu und durch. Eine Drehtür ist die letzte Barriere, dann bin ich wieder ein freier Mann! Mein Rad steht noch da, mein Gepäck ist noch dran - alles gut. Und nun endlich fort von hier! Weiter ostwärts an der Küste entlang. Es geht auf und ab, mal über Hügel im Hinterland, dann wieder direkt an der Küste entlang. An den Aussichtspunkten halten die Autos, Fensterscheiben öffnen sich, eine Fotogerätschaft lugt kurz heraus, die Scheibe surrt wieder hoch, das Auto fährt weiter - auf den nächsten Meilen wiederholt sich die Scene ungezählte Male.

Zur Abwechslung mal ein Parkplatz mit Imbisswagen. Weil es keinen Stromanschluss gibt, lässt der Inhaber ein Stromaggregat knattern – davon erzeugter Lärm und Abgase scheinen die verfressene Kundschaft nicht zu stören. Die McDonaldisierung der Welt schreitet auch in Irland voran. In Bushmills befindet sich die angeblich älteste Schnapsbrennerei der Irlands. Mein letztes Glas Whisky liegt Jahre zurück - und das kann auch so bleiben.

Ich verlasse die Hauptstraße, eine Küstenstraße führt über Ballintoy nach Ballycastle. Jeder dritte Ortsname beginnt mit „Balli“ oder „Bally“, und die übrigen enden mit „castle“. Die Verbindung von beidem – Ballycastle – lese ich auch nicht das erste Mal. Die Küste von Antrim ist mit zu Rummelplätzen umfunktionierten Fischerdörfern gespickt. Es ist zwar erst halb 5, aber ich möchte nicht wieder in Quartiernot geraten. Deshalb klopfe ich gleich beim ersten B&B – Erfolg habe ich auch bei meinen nächsten versuchen nicht. Im Zentrum des Ortes finde ein Tourist Info. Die junge Frau am Tresen vermittelt mir ein Zimmer etwas außerhalb des quirligen Hafenstädtchens - nach all den Menschenmassen, die ich heute sah, ist mir das besonders recht.


> Cushendall > Carnlough > Ballygalley > Larne

3. August
Nachts hat es wieder reichlich geregnet. Eigentlich müssten dem irischen Himmel doch inzwischen mal die Wolken ausgegangen sein... Bank Holiday heißt der heutige Montag - einer dieser speziellen Feiertage, dem der ganze Kurzurlaubstrubel zu verdanken ist. Der heutige gilt zwar nur in der Republik Irland, aber der freie Arbeitstag lockt die Republikaner ins Vereinigte Königreich - das schafft zusammen mit der Urlaubshochsaison einen Gipfelpunkt an Nachfrage. Überall Gewühl und Quartiernotstand. Ich muss sehen, dass ich beizeiten ein Nachtlager finde.

Heute vor einem Monat, am 3. Juli, bin ich in Dresden aufgebrochen. Gut zwei Drittel Irlands habe ich umrundet, zweitausend Kilometer bin ich gefahren – bevor es weitergeht, muss ich die abgeschliffenen Bremsgummis wechseln. Ich streif nochmals Ballycastle, dann komme ich an die Küste. Der Blick schweift über die See, am Horizont erheben sich Berge - meiner Karte nach kann das nur der südliche Zipfel einer schottischen Landzunge sein – jene, wo die schottische Riesin ihren irischen Riesen erwartete.

Vor vier Jahren um diese Zeit stand ich da drüben, an jenem Leuchtturm, der seit einem Dudelsack-Ohrwurm aus den 70ern dem Rest der Welt nicht mehr ganz unbekannt ist: Mull of Kintyre. Doch das viel besungene Türmchen kann ich auch mit meinem Fernglas nicht entdecken. Weiter an der Küste entlang. Bis Cushendorn sind einige Anstiege zu bewältigen, die Landschaft entschädigt für die Anstrengungen. Plötzlich kippt der gesamte Lenkervorbau nach vorne weg - bei voller Fahrt hätte das garantiert zum Sturz geführt!

Also kann ich von Glück reden, dass es so glimpflich ausging. Das geringe Übel ist, dass ich tief in der Werkzeugtasche kramen muss, den passenden Inbus-Schlüssel zu finden. Über dem Meer leuchtet des Himmel Blau – was für ein seltener Anblick! Vom Land her ziehen einige Regenwolken herüber - ich bin wieder an der Ostküste, über den Bergen hat sich ein Teil der Atlantiktiefs abgeregnet. Die Küstenstraße zwischen Glenariff und Glenarm ist das reinste Vergnügen - direkt am Strand entlang, nur wenig Verkehr, kaum Wind.

Beschauliche Ortschaften sind der Ausgleich fürs Gewühl in den Urlaubskäffern der Nordküste. Die Namen der Hafenstädtchen beginnen mit dem Wort „Glen“ – das bedeutet Tal. Als „Glens of Antrim“ gehören sie zu den „Areas of Outstanding Natural Beauty“ – ich staune wirklich sehr, dass mir keine Kolonnen von Reisebussen begegnen. Die von Hügeln gesäumten Küstenorte sind so idyllisch gelegen, dass man Scharen von Erholungswütigen vermuten würden. In Balleygalley gibt es ein Holiday Accomodation - mit Blick aufs Meer. Hier würde ich gern übernachten.  Doch es ist niemand in der Rezeption.

Der nächstgrößere Ort ist die Hafenstadt Larne. Das im Reiseführer erwähnte Hostel ist geschlossen. Ich frage einen Mann nach einer Herberge. - Hier in Larne? Diese Stadt ist tot, antwortet er abwinkend... Aber am Hafen gäbe es noch ein Hotel, da könnte ich es versuchen. Andererseits geht vom hiesigen Bahnhof eine S-Bahn nach Belfast - mit der wäre ich in einer halben Stunde dort. Ob ich aber zu dieser Abendstunde noch ein Zimmer in Belfast finde würde, ist ungewiss. Ich versuche es erst am Hafen.

Der Wind pfeift mir um die Ohren, schwarze Wolken ziehen heran. Lagerhallen, Containerplätze, industrielle Komplexe umgeben das moderne Hotel – nicht sonderlich attraktiv. Ein Zimmer ist frei, also überlege ich nicht lange und nehme es. Es gibt ein großes Restaurant, nur vereinzelte Gäste dinieren. Die Kellnerin freut sich auf eine Bestellung, und ich freue mich auf ein frisch gezapftes Guinness.

 

> Belfast

4. August
Bitte nicht schon wieder Regen! - Mein Flehen verhallt im stürmischen Wind vor der Hoteltür. Ich habe mal wieder alle Zeit der Welt... Zögerlich beschließe ich, mit der Bahn nach Belfast zu fahren – kurz vor 10 geht die nächste. Und ich bereue den Entschluss nicht - es gießt aus vollen Kannen, erst kurz vor Belfast lässt es nach.

Die Suche nach einer Unterkunft ist schwierig, niemand kennt das im Reiseführer erwähnte „Linen Hostel“. Als ich in einer menschenleeren, sehr verfallen Gasse die Adresse endlich finde, muss ich feststellen, dass das Haus geschlossen ist - schon seit einer Weile, erklärt mir ein Passant. Auch viele andere kleine Herbergen seien geschlossen, ergänzt er – tolle Aussichten. Zurück ins Zentrum. Im stark besuchten Tourist Info, das gleichzeitig ein riesiger Souvenirladen ist, erhalte ich Adressen von Unterkünften - alles Bezahlbare liegt weit draußen am Stadtrand.

Ich mache mich auf den Weg, einer der empfohlenen Adresse zu suchen, finde aber zentral noch ein bezahlbar aussehendes Hotel, frage nach einem  Zimmer - und nach dem Preis… Für eine Stadt wie Belfast ist 60 Pfund Sterling wahrscheinlich normal. Beim Ausfüllen der Formulare soll ich meine Kreditkartennummer anzugeben. Da mir die Karte eine Woche vor Abreise gestohlen wurde, habe ich keine, erkläre ich und biete sofortige Barzahlung an. Nein, es sei Vorschrift, mit Karte zu zahlen! Und nun? Der gute Mann kann keine Ausnahme machen - Vorschrift ist Vorschrift.

Immerhin kann er mir ein weiteres Hotel nennen, in dem die Bezahlung auch ohne Karte möglich sein sollte. Das Etap Hotel liegt in einem lebhaften Szeneviertel - eine Kneipe neben der anderen, Restaurants, entsprechend viel junges Volk auf den Straßen. Das Hotel ist ein grässliches Betonsilo an einer Hauptstraße, aber welche Alternativen habe ich? Zunächst ist die Frage der Barzahlung wichtig. - Kein Problem. Aber der Preis: 88 Pfund - Achtundachtzig! Das ist irgendwas über 100 Euro – eigentlich mein Budget für drei bis vier Tage!

Und da ist Frühstück noch nicht dabei! Was soll ich machen? Ich habe keine Wahl. Das winzige Zimmer liegt immerhin in einer Nebenstraße. Allerdings surrt der Lüfter der Nasszelle im Dauerbetrieb ziemlich laut, Straßenlärm wäre in dem Fall das geringere Übel. Runter zur Rezeption, wo ich das Problem melde. - Well, das automatische Laufen des Lüfters sei Vorschrift - bis 22 Uhr... Nicht zu fassen, was es hier für bescheuerte Vorschriften gibt! Lärm ist in Kauf zu nehmen! Und das für den Preis! Für 25 Euro bekommt man in einem B&B auf dem Lande den Komfort eines guten Hotels, inklusive Frühstück, und hier habe ich ein kleine Buchte, sehr schlicht eingerichtet, aufs allernötigste reduziert und muss mir das Surren der Belüftungsanlage anhören.

Ich gehe wieder hoch, will nur meine Sachen für einen Stadtbummel holen. Da klopft es an der Tür - ein Mechaniker. Immerhin hat die Dame von der Rezeption gleich jemand in die Spur geschickt. Der Klempner fummelt etwas an der Abdeckung - die ist lose und klapprig, aber wirklich beheben kann er den Mangel nicht. Nun ja, ich muss also bis 10 durch die Stadt bummeln... Ich spaziere zurück in die City. Im Reiseführer steht, Belfast habe sich seit dem Ende der Troubles zu einer glitzernden Metropole mit noblen Geschäften und Bars gemausert. Doch um sechs schließen die meisten Geschäfte. In den verschlossenen Eingängen breiten sich Menschen mit Schlafsäcken aus, Obdachlose, Bettler.

Ich kehre um in Richtung des bunten Viertels, wo mein Hotel steht. Direkt neben dem Hotel, zum Glück nicht an der Seite meines Zimmers, ist eine Freiluftkneipe mit Beschallung – viel zu laut. Etwas weiter vom Zentrum entfernt wird es zwar ruhiger, aber auch finster – die Typen, die hier umherschleichen, wirken wenig vertrauenswürdig. Ich kehre um, versuche es in einem Pub nahe meines Hotels - es ist laut, es riecht nach Großküche. Eigentlich ist der Laden eine riesige Steak-Fastfood-Kneipe, die Tische sind schmierig, die riesigen Flachbildschirme flackern und brüllen das endlose Palaver aus Nachrichten, Sport und Konsumwerbung durch den Raum - grässlich, aber die meisten Menschen dieser Welt scheinen das zu mögen. Ein Guinness und raus hier.

Die Karte zum Öffnen der Zimmertür funktioniert nicht, ich muss wieder zur Rezeption, erhalte eine neue. In meinem Zimmer lässt sich kein Licht einschalten, ich gehe wieder zur Rezeption hinunter, muss warten, bis andere Leute bedient wurden, und lerne, dass die Plastikkarte für die Tür auch alles andere ein- oder ausschalte, sogar der Lichtschalter funktioniert mit karte - so ein Unfug! So ein himmelschreiender Unfug! Lauter störungsanfällige Elektronik, die mich zwingt, dauernd eine Magnetstreifenkarte zu benutzen, wo es ein einfacher Schalter machen würde. Ich fühle mich unwohl in diesem Zimmer, alles ist für Massenabfertigung konstruiert - keine Lampe zum Lesen am Bett!

> Dublin

5. August
Der Blick aus dem Fenster verheißt nichts Gutes - strömender Regen! Ich packe meine Sachen und checke aus, der Ausgang des Hotels ist weiträumig überdacht - hier verharre ich und starre ins plätschernde graue Nass. Eine junge Frau will mir einen Reklamezettel reichen. I am not interested, sage ich mürrisch… Gelassen nimmt sie meine schlechte Laune hin und wendet sich ab. Von hinten sehe ich nur ihr langes, pechschwarze Haar – nun möchte ich sie noch einmal von vorne sehen…

Irgendwie gelingt es mir, eine freundlichere Miene aufzulegen. Ich frage sie, ob sie statt der Flyer nicht etwas Sonnenschein im Angebot hätte - da würde ich sofort zugreifen. Sie dreht sich zu mir – und lächelt das schönste Lächeln der Welt. – Nein, mit Sonne könne sie leider nicht dienen. Mein Murren ist vergessen und vergeben. Was für ein hübsches Mädchen! Ihr Akzent klingt russisch - oder jedenfalls osteuropäisch. So ergibt sich gleich die Frage.

Nein, sie sei Irin – 100 Prozent. Wir reden übers Wetter - und über Alternativen, den Tag zu verbringen. Bleiben ist mit Blick auf die Übernachtungspreise eindeutig keine Option, ich zeige auf das Schild mit dem Preisangebot für heute. Oha, heute ist es günstiger, heute oder jetzt, in dieser frühen Morgenstunde, lautet das Angebot „70 Pounds only“… Ich erwäge, aufs radeln zu verzichten, die Bahn nach Dublin zu nehmen. Sie schlägt vor, mit dem Bus zu fahren, das sei preiswerter. Mag sein, aber mein Rad passt sicher in keinen Buskofferraum - falls doch, so würde es bestimmt extra kosten. Kann sein, davon habe sie keine Ahnung.

Wir schwatzen noch ein Weilchen, das muntert uns beide auf - und wir haben Einiges zu lachen. Ich entschuldige mich noch für mein anfängliches Murren - no problem, sagt sie. Chloe ist ihr Name, 18 Jahre jung - verdammt hübsch. - Man müsste noch mal 20 sein - natürlich nur mit aller Erfahrung von heute... Ihr freundliches Wesen und ihre Schönheit trösten mich über das miserable Wetter. Viel habe ich nicht gesehen von Belfast, aber vielleicht das Schönste: The Girl from the North Country Fair...

Dylans Song geht mir für die nächsten Stunden nicht mehr aus dem Kopf, der Text ist fragmentiert, aber Vers für Vers taucht er aus der Versenkung auf. I’m a-wandering if she remembers me at all... 10.35 fährt ein Zug in die Hauptstadt der irischen Republik: in drei Stunden von Belfast nach Dublin. Auf dem Bahnsteig viel Personal, der Zug rollt ein. Ein Schaffner spricht mich an und sagt, ich solle auf einen zweiten Zug warten, der käme auf dem gleichen Bahnsteig. Alle anderen steigen ein, das macht mich unruhig. Aber dann verteilt er auch die nachfolgenden Fahrgäste - der zweite Zug führe zudem eher, sagt er.

Der zweite Zug fährt tatsächlich eher los. Im Radabteil bin ich mit einem Rollstuhlfahrer allein. Ich sortiere das britische Kleingeld aus, meine letzten Pennys, und frage den Schaffner, ob es für einen Becher Kaffee noch reicht. Ja, sagt der junge Mann und schenkt mir aus einer bereitstehenden Thermoskanne ein. Der Schaffner ist auch für den Transport von Paketen zuständig, sogar sperrige Gegenstände hat er an einigen Stationen einzuladen - das Radabteil ist gleichzeitig Postwaggon.

Der Blick aus dem Fenster ist vom Regenwasser verschwommen, den der Wind über die Scheiben drückt – wahrlich kein Wetter für eine Radtour. If you’re traveling in the north country fair where the winds hit heavy on the borderline... Der Zug lässt das Vereinigten Königreich hinter sich und schon bin ich wieder in der Republik Irland. Ich kann nur froh sein, im Trockenen zu sitzen. Die Strecke hätte mit dem Rad zwei Tage beansprucht - ich wäre sie gern gefahren. Aber bei dem Wetter? Nein, das muss nicht sein - lieber nehme ich mir zwei Tage mehr für Dublin’s fair city where the girls are so pretty.

Als der Zug in die Vororte der Hauptstadt kommt, lässt der Regen nach, geht in Nieseln über. In Dublin klart der Himmel auf - ein gutes Omen vielleicht, auf alle Fälle passend zu meiner bevorstehenden Stadtrundfahrt. Zunächst steht die Quartiersuche auf der Agenda - zu dieser frühen Nachmittagsstunde sollte ich gute Chancen haben. Ich beschließe, das erste bezahlbare Zimmer zu nehmen - für morgen kann ich später immer noch was Günstigeres suchen. In der Guardian Street, gleich an der Ecke zur geschäftigen Talbot Street, finde ich ein B&B - Der Schriftzug Holyhead ist auf den Klinkerbau gestrichen.

Das mir gezeigte Zimmer ist zwar eine schäbige kleine Buchte im Hinterhof, noch nicht einmal mit WC und Bad, aber dafür ist es wirklich vom Lärm der Großstadt abgeschirmt. Es kostet 60 Euro - nun ja - immerhin mit Frühstück. Ich bin noch beim Ausfüllen der Formulare, da kommt der nächste Interessent. In der einen Minute, die ich an der Rezeption noch zu tun habe, kommen zwei weitere Interessenten und eine telefonische Zimmeranfrage - immer die gleiche Antwort: sorry, we are fully booked.

Ich habe also tatsächlich das letzte freie Zimmer erwischt. In der Talbot Street, einer Einbahnstraße voller kleiner und größerer Läden, findet sich ein weiteres Hostel, das „Celtic Lodge“. Ich frage nach einem Zimmer für morgen - fully booked. Etwas weiter das nächste Hostel - Pillar steht auf einem kleinen Schild am Eingang. Ja, für morgen ist ein Zimmer frei, für 50. Ich darf einen Blick hinein werfen - es sieht ordentlich aus, liegt aber an der Straßenseite. Nach Geschäftsschluss werde es hier ruhig, beschwichtigt die Wirtin. Frühstück und jederzeit Kaffee sei inklusive – ein gutes Argument, nicht zu zögern. Und für übermorgen hätte sie sogar ein ruhiges Hofzimmer für mich!

Da zögere ich nicht länger, bezahle gleich im Voraus und lasse mir eine Quittung ausstellen. Jetzt – von Quartiersuche befreit und um einiges Geld erleichtert - kann ich die Stadt erkunden. Am Ende der Talbot Street quert die Nord-Süd-Magistrale Dublins, O’Connell Street, mitten auf der Kreuzung ragt eine Säule ins Wolkengrau, the Spire - mit 123 Metern Höhe weithin sichtbar. Seit 2003 als „Monument of Light“ an die Stelle des 1966 von IRA-Terroristen gesprengte Nelson’s Pillar gepflanzt, streiten sich die Dubliner Gemüter über die Symbolkraft der überdimensionalen Stricknadel.

Die offizielle irische Bezeichnung „An Túr Solaire“ ist einprägsam - als „Turm des Lichts“ soll er die Überwindung der Troubles symbolisieren, nehme ich mal an. Einige Einheimische empfinden das Bauwerk eher als bedrohlich, als „Stiletto in the Ghetto“ - als mitten in einem Wohngebiet stationierte, startbereite russische Interkontinentalrakete. Volkstümlicher ist „Stiffy by the Liffey“, das könnte man mit „ein Steifer am Flüsschen“ übersetzen – ein monumentale Dauererektion als neues Wahrzeichen Dublins...

Ich überquere die mehrspurige Magistrale und schlendere in die kleine Henry Street entlang, biege einige Ecken weiter in die Liffey Street ab - und die führt mich direkt zu jenem Fluss, der die Stadt in eine nördliche und eine südliche Hälfte teilt. Ich quere den Fluss über eine 200 Jahre alte Fußgängerbrücke, die damals einzige Brücke der Stadt. Die einstige Brückenmaut von einem halben Penny - das mag heute nach der Hälfte von Nichts klingen – verlieh ihr den Namen Ha’penny Bridge, doch der amtliche, auf jedem Stadtplan verzeichnete Name blieb bis heute schlicht und kaum ergreifend: Liffey Bridge.

Ich überquere das schmiedeeiserne Schmuckstück und schon bin ich im Party-Viertel der Stadt - im quirlig bunten Vergnügungsbezirk Temple Bar. In den engen Gassen herrscht die Jugend - man tanzt, man singt, man trinkt, man sreitet - ein jugendliches deutsches Pärchen im Eifersuchtsstreit. Die Pubs sind voll und laut. Ich suche Hoagan’s, nach Auskunft von Einheimischen müsste ich es am südlichen Rand des Viertels finden. Jonathan, der Radler, den ich am Abzweig nach Achill Island traf, hatte mir das Pub empfohlen. Gehört ihm der Laden? Oder ist er dort Stammgast? Wird er dort sein?

Ich erkenne Jonathan sofort - er steht hinterm Tresen. Aber er ist zu beschäftigt, um mich wahrzunehmen. Das Licht ist schummrig, die Geräuschkulisse stumpft ab. Eine Barkeeperin kommt ihm zuvor, doch ich erkläre ihr leise, dass ich Jonathan überraschen will. Sie versteht und überlässt mich ihm. Jonathan steht direkt vor mir, noch immer voll mit anderen Bedienungen beschäftigt. Ich mache mich bemerkbar: One Scotch, one Bourbon, one beer!

Er braucht einige Sekunden, mich zu erkennen, doch dann hat er gleich meinen Namen parat. Die Überraschung ist gelungen, doch er hat kaum Zeit, ein paar Sätze zu wechseln wir. Ich kann ihm zwar die Eckdaten meiner weiteren Tour aufzählen, doch für mehr Smalltalk reicht es nicht. Ich will das Guinness zahlen - gleich bei Erhalt, wie es üblich ist. Jonathan winkt ab, it’s okay. Schummriges Kneipenlicht, verbrauchte Luft, ständig Gewühl und Lärm – mein Traumjob wäre das nicht. War seine Tour nur als kurzer Ausgleichsritt für den Alltagsstress gedacht? Oder ist er einfach so jung und braucht das Geld?

Es gibt natürlich schlimmere Jobs... Auf dem Rückweg quere ich die O’Connell Bridge - Autos, Motorräder, Taxis und Kolonnen gelber Doppeldeck-Busse im Stau, Tausende von Nachtschwärmern zu Fuß. Was ist der Reiz dieses hektischen Großstadtgewusels? In jüngeren Jahren wollte ich das alles auch erleben: Paris, New York, San Francisco… Was ich damals nicht wissen konnte: Solche Metropolen des Kapitalismus sind vor allem Hochburgen von Kriminalität und Drogensucht, von Prunksucht und Neid, von Egoismus, Wichtigtuerei, Rücksichtslosigkeit – man muss aufpassen, dass man nicht ins Getriebe kommt.
 
Der Einwohnerzahl nach ist Dublin nicht größer als Dresden, doch wenn ich mir anschaue, wie das Nachtleben hier sprudelt, wird mir die Provinzialität meiner Heimatstadt noch deutlicher. Zwischen Temple Bar und Irish House of Parliament ist das Gewühl erdrückend. Auf den Straßen hängt Stoßstange an Stoßstange und auf den Fußwegen muss man die Hand am Portemonnaie halten... Auf dem Rückweg zu meiner Herberge finde ich dann ein ruhiges Pub: Briody’s in der Marlborough Street. Hier labern Stammgäste, hier schweigen sich einheimische Alkoholiker gegenseitig an.

Einer der Gäste spricht mich an. Ich verrate, dass ich mich auf die letzte Etappe meiner Radreise einstelle und ernte entsprechende Respektsbekundungen. Der Chef sei Freizeit-Radler, der könne mir bestimmt noch Tipps geben, sagt einer der Gäste. Der Chef ist der Barkeeper, eigentlich hat er alle Hände voll zu tun, aber die Zeit nimmt er sich dann, kommt auf meine Seite des Tresens und empfiehlt mir, nach Wicklow zu radeln. Die Gegend liegt ohnehin auf meiner letzten Etappe, mich würde eher ein Tagesausflug in der Umgebung Dublins reizen. Da fällt ihm Howth ein, eine Halbinsel im Norden der Stadt.

 

6. August
Donnerstag. Das Frühstück im Holyhead ist dürftig, das Personal - samt nerviger Kinder - spricht spanisch, dürfte aber aus südlicheren Gefilden stammen. Irgendein familiären Konflikt wird offen ausgetragen. Wie die Kellnerin beim Servieren die Lächelmaske aufsetzt, um im nächsten Moment fluchend durch die Pendeltür in die Küche abzutauchen, entbehrt nicht der Komik. Die Küche scheint gleichzeitig das Wohnzimmer der Familie zu sein. Die Polyester-Tischdecke klebt, der Frühstücksraum hat den Charme einer Kasernenkantine, kein Sonnenstrahl dringt Souterrain. Das Fenster in die Welt sind Fernseher und Laptop - arme Kinder, die hier aufwachsen müssen.

Und draußen? Nicht direkt Sonnenschein, aber kein Regen! Umzug ins Pillar. Dort ist heute anderes Personal als gestern anwesend, dank meiner Quittung kann ich die Buchung und Vorauszahlung belegen. Eine Latino-Putzfrau schleppt Plastiksäcke mit abgezogener Bettwäsche durch die engen Gänge. Das Zimmer ist zwar noch nicht beziehbar, aber ich kann mein Gepäck im Foyer abstellen. Hoffentlich bereitet es mir heute Abend Wiedersehensfreude.

Ich radle in nordöstliche Richtung, immer an der Küste entlang. Gegenüber liegt der Hafen von Dublin, riesige Container- und Kreuzfahrtschiffe müssen auf die Flut warten, bevor sie den Hafen verlassen können. Ich passiere Bull Island, eine Sandbank mit Restaurant. In Sutton, einer Siedlung auf der Landbrücke nach Howth biege ich ab und schwenke eine Meile weiter in den Hafen der kleinen Inselortschaft - vielen Lädchen und Restaurants, am Ende der Mole singt ein jugendlicher Straßenmusiker Oldies but Goldies, die Hits der 60er – Lazing on a sunny afterternoon, in the summertime.

Dass auch noch die Sonne durch die Wolken lugt, ist ein Segen, den ich nach Tagen des Regens gar nicht hoch genug würdigen kann. In der Hafenbucht schaukeln knallig rot und blau lackierte Fischkutter auf ihren Ankerplätzen. Die Mittagszeit ist ran, heute mal ein richtiges Lunch: eine Portion Hake (Seehecht) für 23 Euro -  ziemlich teuer, aber ich nähere mich dem Ende meiner Reise, habe immer geknausert... Eigentlich habe ich nie nie Mittag gegessen, da ich um die Zeit immer im Sattel saß.

Nach dem Essen sollst du ruhen oder tausend Tritte tun. Ich umrunde die Insel - die meisten Häuschen mit Seeblick sind gepflegt, wirken aber dennoch unbelebt: Überwachungskameras und Schilder, die den Sicherheitsdienst angeben, der das Objekt per Monitor betreut, sind Standard. Vielleicht sind es nur Wochenendwohnsitze wohlhabender Dubliner, auf alle Fälle lässt sich in dieser privilegierten Inselwelt schön faulenzen, sei es an einem sunny afternoon oder auch jeden anderen Tag.

Zurück nach Dublin. Ich erreiche den Stadtrand an der Hafenseite im Osten, orientiere mich ins Zentrum, gerate zufällig auf die belebte Shopping-Meile der Grafton Street. Der Fußgängerboulevard ist das Eldorado der Straßenkünstler: Musiker, Clowns, Artisten, sonstige Vorführer. Die Kinderlein im Publikum staunen - und kapieren schnell, die aufgeklappte Instrumentenkoffer sind dazu da, dass man Kleingeld hineinwirft. Das erbetteln sie sich bei ihren Eltern, welche auf diese weise gleich zwei gute Taten in einem vollbringen können.

Lange verharre ich bei einem kleinen Gospelchor: vier junge Männer in schwarzen Anzügen - komplett mit Weste und grauem Hemd bis zum Kragen zugeknöpft. Drei junge Frauen in altmodischen grauen und dunkelblauen Faltenröcken, die bis zum Knöchel herabreichen, die gleichfarbigen Blusen bis zum Kragen verschlossen. Schminke habe die bleichgesichtigen Frauen nur an fremden Frauen gesehen. Etwa Aufwand dürfte immerhin das zum Zopf geflochtene, zum Dutt gebundene Haar machen. Die jüngste ist um die 18, die beiden anderen eher Ende 20. Eine vierte, deutlich ältere Frau steht meistens etwas abseits - sie hält Flyer und Visitenkarten bereit.

Mit insgesamt vier Mikrofonen verschaffen sich die acht Chormitglieder ausreichend Gehör. Auf der Verstärkerbox klemmt ein großes Schild mit der Aufschrift THE CHURCH OF GOD - was es alles gibt, die Kirche Gottes sogar... Bisher dachte ich immer, alle Kirchen hätten was mit Gott zu tun. Wenn es wie hier explizit im Namen verankert ist, dann scheint sich diese Gemeinde vielleicht für gottesfürchtiger als andere Konfessionen der Christenheit zu halten. Die sangesfreudige Mission ist auf alle Fälle kämpferisch: On the Battle for my Lord.

Routiniert spult der Chor sein Repertoire ab, es braucht keinen Chorleiter, keine Textblätter, keine Ansage - alles läuft am Schnürchen und ohne jegliche Eitelkeiten. Die unprätentiöse Vortragsweise hält mich im Banne - Applaus wird mit einem dezent aufgesetzten Lächeln gewürdigt - mehr Zugeständnis ans Showbiz gibt es nicht. Doch am meisten fasziniert mich der mehrstimmige Gesang.

Die Gesichter der Frauen ähneln sich – augenscheinlich nicht nur eine Familie im Glauben. Ein Jüngling tänzelt vor dem Chor vorbei, Posen für die Videokamera eines Begleiters. Der Blick des singenden Mädchens folgt der Ausgelassenheit der Passanten, über die Lippen huscht ein Schmunzeln - kein Lippenstift, keine Wimperntusche, keinerlei Schminke verfremdet die Schönheit des jungen Gesichtes.

Am Ende des Boulevards versuchen sich weite Straßenmusiker – und Bettler, gewiss auch Taschendiebe und Drogendealer. Ich quere die Kreuzung und schiebe mein Rad in den St. Stephen’s Green, eine größere Parkanlage, an deren Eingang ein Denkmal für Jeremia O’Donnovan Rossa steht. Vor ziemlich genau 100 Jahren - am 1. August 1915 - wurde dem irischen Unabhängigkeitsführer hier durch die Grabrede seines schriftstellerischen Mitstreiters Patrik Pearse gehuldigt. Eine Gruppe muslimisch gekleideter Frauen breitet sich auf dem Rasen davor aus – Kopftücher in allen Farben.

Der Park ist überlaufen, alle Rasenflächen sind belagert, auf den Wegen muss man den Gruppen von Spaziergängern ausweichen. Dann finde ich einen freien Bankplatz, wo ich mich ausruhen kann. Wochenlang war ich allein auf den Straßen, begegnete nur einzelnen Leuten. Jetzt stecke ich im endlosen Geplapper der Großstadt, umgeben von der annonymität der Touristenheere und Kitschverkäufer. Bunt und laut ist die Stadt – und suspekt an vielen orten: man sollte seine sieben Sachen immer gut im Auge behalten.

Es wird Abend und die großen Geschäfte lassen ihr Rollläden runter. Der Kampf der Obdachlosen um ein trockenes Nachtlager beginnt direkt nach Ladenschluss - in den Eingangsnischen der Kaufhäuser sichern sichern sich die ersten ihr Plätzchen. Wie lang muss eine Nacht auf der Straße sein! Ein paar Habseligkeiten schieben sie in Einkaufswagen umher oder sie schleppen sie in Plastiksäcken auf ihren Schultern. Ein junger Mann mit Gitarre schreit sich auf der O’Connell Street die Seele aus dem Hals, doch er muss unterbrechen, weil ein Dieb ihm die Münzen aus dem offenen Gitarrenkoffer stiehlt. Der Sänger versucht ihn festzuhalten, doch der Dieb kann entwischen und ist schnell auf und davon. Wie viel war es denn? – An die fünf Euro bestimmt, antwortet er.

Ich biege in die Talbot Street ab, schleppe das Rad die enge, verwinkelte Treppe des Hostels hinauf, um es auf einer Terrasse in der Hofseite anzuschließen. Ich schließe es zweimal am Metallgeländer der Außentreppe an, mit beiden Schlössern - und so eng, dass es für jeden  Bolzenschneider knapp wird. Ich zurre die Plane darüber, um es vor Regen, aber auch vor fremden Augen zu schützen - ich traue der Stadt nicht. Ich möchte einfach nicht, dass meine Tour hier zu Ende ist, nur weil jemand mein Rad für eine lohnenswerte Beute hält.

Von der Terrasse fällt der Blick in die Dachfenster eines anderen Gebäudes, eine Moschee - die Gläubigen knien sich zum Gebet. Viele Migranten leben am Ufer des Liffey: Latinos, Afrikaner, Asiaten. Am Ärmelkanal ist seit Monaten die Hölle los - die britischen Medien berichten ausführlich darüber. Ich staune, dass der Flüchtlingsstrom in Deutschland noch kein Thema ist – dabei war der Zug von Dresden nach Berlin voller junger Männer nahöstlicher Herkunft...

Ich besuche erneut das kleine Pub, wo ich gestern Abend war. Ich möchte mich für die Ausflugsempfehlung nach Howth bedanken. Der Chef ist nicht da, aber einer der Männer, die mich gestern in ihr Gespräch zogen. Der sitzt genau auf dem selben Hocker, trinkt das gleiche Bier wie gestern, blickt in den selben Fernseher. Ich grüße ihn, er schaut mich fragend an. - Ich bin der Radreisende, wir haben gestern Abend eine ganze Weile gequasselt... Ich versuche es mit weiteren Erinnerungshilfen, doch er erkennt mich wohl nicht. Aus den Augen, aus dem Hirn? Alkoholismusfolgen? Großstadtdemenz?

 

7. August
Freitag. Es ist nicht so, dass es gestern gar nicht geregnet hätte - aber für irische Verhältnisse war es wohl doch ein passabler Tag. Heute dagegen sieht es wirklich richtig nach Museumstag aus. Es steht zwar in großen Buchstaben am Haus: BED & BREAKFAST. Aber der junge Mann im Foyer, der jetzt Dienst hat, weiß nichts von Frühstück. Nein, davon könne gar keine Rede sein. Die Frau, bei der ich bezahlt hatte, sagte zu mir, Frühstück sei im Preis. - Das könne schon sein, das verspreche Jenny manchmal, aber woher er das versprochene Frühstück nehmen solle, sage sie nicht dazu.

Hmmm… Na, gut, wie wäre es wenigstens mit einer Tasse Kaffee? Er geht zum Kaffeeautomaten und stellt ihn an. Das Foyer ist quasi die Küche, der zentrale Raum der Herberge. - Wann kommt denn Jenny? Keine Ahnung… Ich räume mein Zimmer, denn für heute ist mir ein Hofzimmer versprochen. Ich stelle mein Gepäck wieder im Foyer ab. Mir bleibt nur gespannt , ob die Chefin dann vielleicht abends mal auftaucht.

Ich schnappe mir meinen Regenschirm und spaziere zum Fluss, verweile am Famine Memorial, einer Gruppe lebensgroßer Metallskulpturen erinnert an die Hungersnöte des 19. Jahrhunderts – vier dürftig gekleidete, ausgemergelte Gestalten verkörpern das Elend der historischen Tragödie. Neben einer der Skulpturen posiert eine wohlgenährte Touristin fürs Foto –  grotesker geht es nicht.

Ich überquere den Liffey über die Sean O’Casey Bridge, eine Fußgängerbrücke. In seinen Schlafsack gemummelt, hat sich ein Bettler ans Geländer gehockt. Die Lombard Street führt mich schnurstracks zur National Gallery of Ireland. Die Gemäldeabteilung ist, gemessen an den Ausstellungslabyrinthen anderer europäischer Hauptstädte, überschaubar – in vier relativ kleinen Räume können die Werke irischer, italienischer, englischer und holländischer Altmeister betrachtet werden. Eines der Bilder zeigt die Verhaftung eines Mannes - verzweifelt versuchen zwei Frauen die Soldaten um Gnade anzuflehen, ein Kind hängt am Bein des Vaters. Im Hintergrund – von Bergkulissen wie sie an meinem Wege lagen umrahmt - liegt ein Mann auf dem Weg, wahrscheinlich das corpus delicti. Der Maler stand der Seite des Täters näher – auf ihn und seinen Anhang richtet sich das Augenmerk.

Draußen regnet es, ich halte mich ein Weilchen im Museumsshop auf. Ein Büchlein mit dem Titel „LOOKS LIKE RAIN - 9,000 Years of Irish Weather“ wäre am Ende dieser recht nassen Reise eigentlich ein Muss. Doch ich sollte mich nicht mit Gepäck belasten - und dass es in Irland viel regnet, weiß ich aus eigener Erfahrung. Andererseits, ein irischer Schriftsteller, also jemand, der das irische Wetter nicht nur aus der gemütlichen Schreibtischperspektive eines Heinrich Böll kennt, könnte meine Betrachtungen über den irischen Regen zwar vertiefen. Nein, nach fünf Wochen im Regencape reizt es mich selbst, ein Essay übers irische Sommerwetter zu schreiben – das lass ich mir nicht nehmen.

An einem Büchlein im Westentaschenformat komme ich weniger leicht vorbei: William Butler Yeats - Collected Poems. Seit der Inschrift am Friedhof von Drumcliff habe ich zwei seiner Verse im Kopf: Unter deinen Schritten habe ich meine Träume ausgestreut. Schreite vorsichtig, denn du gehst auf meinen Träumen… Ich verlasse das Museum – mit dem Büchlein.

An der Oscar Wilde-Skulptur im Merrion Square lauscht eine Gruppe junger Radler den Erläuterungen ihres Stadtrundführers - lässig lümmelt die Marmorfigur auf einem drei Meter hohen Findling. Auf dem Sockel einer weiteren Skulptur lese ich Aphorismen des Dichters: Nothing that is worth knowing can be taught. Nichts, was zu wissen wert sei, könne gelehrt werden... Warum lehrt er es der Dichter dann? Die Radgeführten tragen Schutzhelme - wozu? Damit eventuelle Bildungseinschläge nicht zu hart einschlagen?

Mein persönlicher Stadtführer ist meine eigene Nase - der folge ich, wohin sie sich dreht. Nochmals streife ich durch die südlichen Bezirke der Stadt und finde mich bei Hoagan’s wieder, dem Pub, wo Jonathan serviert. Ob er schon im Dienst ist? Ein paar Schritte und ich werde es wissen. Und tatsächlich, da ist er! Mit Zapfen und Kassieren beschäftigt. Für mehr als einen Smalltalk ist da wieder keine Gelegenheit. Und über was sollten wir reden? Wir begegneten uns zufällig mittels der gleichen unzeitgemäßen Fortbewegungsart an einer Straßenkreuzung im County Mayo - mehr verbindet uns nicht.

Als ich wieder im Hostel bin, möchte ich in das versprochene Hofzimmer umziehen. Das entpuppt sich als eine enge Dachkammer - ein Loch, das nur eine Dachluke hat und die ist verschlossen! Drei oder vier Quadratmeter, mehr ist es nicht: kein Stuhl, kein Tisch - nur ein Bett und zwei Kleiderbügel an einer Garderobenstange. Die Knastzelle in einem Stasigefängnis war größer! Dafür habe ich also 50 Euro bezahlt - das kann ja wohl nicht wahr sein!

Ich gehe ins Foyer hinunter, will mich beschweren. Niemand ist da, nicht einmal der junge Mann, der mir eben erst den Schlüssel gegeben hatte und der mir heute Morgen schon klarmachte, dass ich nicht zu hohe Ansprüche an die Erfüllung von Versprechen der Chefin haben dürfte. Was nun? In dem Loch kann man sich außer zum Schlafen nicht aufhalten. Das Foyer ist geschlossen - ich gehe zum Ausgang, öffne die Tür, an der gerade eine junge Frau geklingelt hat.

Sie habe ein Zimmer gebucht, sagt sie, da sie mich für jemand vom Office zu halten scheint. Ich erkläre ihr, dass ich selbst Gast bin und das Foyer gerade geschlossen ist - ich würde selbst aufs Personal warten. Da es im Hostel keinen Aufenthaltsraum gibt, könnte ich ihr höchstens draußen auf der Straße etwas Gesellschaft leisten, bis sich jemand vom Hostel blicken ließe. Das Angebot nimmt sie zögerlich an - sie wirkt verunsichert. Was mag in der jungen Frau vorgehen? Ein fremder Mann, reiferes Jugendalter, öffnet die Tür und sagt, es sei niemand da…

Ihr bleibt nichts anderes übrig, als mir zu vertrauen. Ich kann sie nicht einfach ins Haus lassen, nur weil sie einen Rucksack hat und sagt, sie habe ein Zimmer gebucht. Und wohin auch da? Im Eingang des Hostels stehen fast immer Leute - manche suchen Schutz vor Regen, andere sehen aus, als würden sie in jedes Haus gehen, wo die Tür geöffnet ist…
Zum Zeitvertreibe erzähle ich ihr, weshalb ich selbst gerade aufs Personal warte... Vielleicht sollte ich sie nicht zusätzlich verunsichern?

Was soll’s! Sie ist Rucksackreisende - Backpacker! Ob hier in den quirligen Straßen von Dublin oder sonst wo in der Welt, irgendwo erfährt sie ohnehin das erste Mal, dass nicht alles glatt läuft auf der Reise durchs Leben. Da endlich kommt der Diensthabende. Wir folgen ihm ins Hostel, steigen die knarrenden Treppenstufen hinauf zum Küchenfoyer. Ich lasse der jungen Frau den Vortritt, damit sie nicht länger beunruhigt ist. Der Gentleman in mir ist aus pädagogischer Sicht eigentlich das falsche Signal - ich wiege die angehende Weltenbummlerin gerade in dem naiven Glauben, die Welt sei ein Hort zuvorkommender Männer.

Als sie eingecheckt hat, fühlt sie sich sichtbar erleichtert - ihr Problem ist fürs erste gelöst. Nun stelle ich den jungen Mann vom Office zur Rede. Wenn mir das Zimmer nicht passe, könne ich jederzeit das Geld zurück haben. Er hätte in wenigen Minuten einen neuen Interessenten für das „Zimmer“... Das glaube ich ihm gerne. Schon vorgestern dauert es ja nur Minuten und das letzte Loch in dem anderen Hostel wäre besetzt gewesen.

Doch jetzt ist die Lage viel schwieriger als am zeitigen Nachmittag vor zwei Tagen - hier und jetzt ist Freitagabend: Friday Night in Dublin! Er weiß sehr genau, wie aussichtslos es ist, um diese Zeit ein Zimmer zu finden. Unter diesen Umständen habe ich gar keine Wahl, erkläre ich ihm. Das Geld-zurück-Angebot sei deshalb sehr arrogant, erlaube ich mir zu bemerken. Und jede Gefängniszelle in Russland sei komfortabler als das Vier-Meter-Loch, behaupte ich.

Die Weltenbummlerin kommt wieder ins Foyer, weil sie eine Frage hat - dadurch wird sie Zeugin des weiteren Disputes. Er könne jederzeit die Polizei anrufen, die würde mich sofort rausschmeißen! Er vermittelt der jungen Frau das Gefühl, ich sei hier das Problem... Wie mag sie die Sache beurteilen? Für sie ist es besser, sich rauszuhalten, und das tut sie auch. Natürlich ist sie einfach froh, dass sie jetzt ihr Nachtquartier hat, wahrscheinlich ist ihr Zimmer in Ordnung. Gegen das Loch, das ich jetzt habe, ist eigentlich alles okay. Sie geht ohne jeden Kommentar.

Nun ja, hätte das Weib so etwas wie Charakter, würde sie jetzt bleiben und könnte mir zur Seite stehen, falls der Kerl es tatsächlich darauf ankomme ließe, die Polizei zu rufen. Aber was verschwende ich Gedanken über das solidarische Engagement einer jungen Frau, die von der ganzen Situation von vornherein überfordert ist! Die Stimmung ist geladen – sie sucht das Weite und wahrscheinlich ist das auch besser. Am Ende hält sie tatsächlich mich für das Problem und das könnte im Ernstfall noch mehr Ärger geben.

Habe ich so was schon erlebt? Klar habe ich solche bösen Kausalitäten schon erlebt - falscher Ort zur falschen Zeit und die Katastrophe ist perfekt. Natürlich gibt es die guten Seelen, gerade im Lande des heiligen Patrick! Im Moment komme ich mir erst mal von allen guten Seelen verlassen vor - ich muss das Zepter in die Hand nehmen. - Listen, man, we are not in Russia! By the way, are you from Russia? Nein, er komme aus Ungarn, antwortet er. - Aus Ungarn also! Ich glaube nicht, dass du in Ungarn damit durchkämest. Ich will mit der Frau sprechen, bei der ich gestern bezahlt habe. Ruf sie jetzt an - oder ich rufe die Polizei!

Natürlich fuchtele ich bei meiner Ansage erregt mit der Hand herum. Er greift zum Smartphone, wählt eine Nummer aus seiner Speicherliste. Ich bin gespannt. Am anderen Ende meldet sich niemand. Er legt wieder auf, sagt, Jenny sei die Freundin vom Boss, der Boss heißt Michael, und wenn der nicht zu erreichen sei, könne er auch nichts ausrichten. Soll wohl heißen, er habe eben versucht, seinen Boss oder dessen Freundin anzurufen… Vielleicht kapiert er langsam, dass ich tatsächlich ein Problem werden könnte – jedenfalls lenkt er ein und unterlässt die Drohungen.

In zwei Tagen, am Sonntagabend, sei sein Job hier erledigt, endgültig - da wolle er jetzt keinen Ärger mehr. Er holt zwei Büchsen Bier aus dem Kühlschrank, öffnet sie, serviert mir eine davon... Oha! Er wolle nur noch heim nach Rumänien… Rumänien? Vorhin sagte er Ungarn. - Ja, nein, ja! - Er sei zu seiner ungarischen Freundin nach Ungarn umgezogen, aber ursprünglich komme er aus Rumänien. Die junge Frau, die hier in der Küche herumwuselt, scheint die erwähnte Freundin zu sein, sie spricht jedenfalls ungarisch. Er hasse den irischen Regen, die Nässe, die Kälte - ein Sommer ohne baden gehen zu können, das sei doch kein Leben.

Was er hier verdiene, frage ich ihn? - Zwei Euro die Stunde. - Das ist verdammt wenig, da könne ich das Bier nicht annehmen. - Nein, nein, das sei schon in Ordnung. - Zwei Euro also? Du müsstet 25 Stunden arbeiten, um dir eine Nacht in so einem Loch leisten zu können! Der Tag hat nur 24 Stunden. Ein Bettler an der Ha’penny-Bridge hat in einer Stunde 20 oder 30 Euro in seinem Hut., behaupte ich mal so. – Ja, natürlich sei das zu Zimmer schlecht und überteuert. Ja, klar ist zwei Euro ein Bettellohn, aber immerhin habe er noch das Quartier frei.

Wie der Mindestlohn in Deutschland sei, fragt Sila - inzwischen hat er mir seinen Namen gesagt. - 8,50 offiziell, aber wie und ob das überhaupt eingehalten werde, ist eine andere Frage, gebe ich zu bedenken. - 8,50! Wow! I have to come to Germany. - Keine gute Idee, entgegne ich: Derzeitig kommen Tausende von wer weiß woher. Sich mit all denen um Jobs und Unterkünfte zu prügeln, ist wahrscheinlich auch keine Verbesserung. - Mag sein, aber das größere Hemmnis sei, dauernd eine neue Sprache zu lernen - und dann auch noch deutsch! So richtig ist dem Bürschlein nicht klar, dass er als Wanderarbeiter überall in der Welt über den Tisch gezogen wird.

Von einem Jahr Arbeit habe er gerade mal 2000 Euro sparen können, jammert Sila. Glaubt er, dass er ihm mit Mindestlohn in Deutschland mehr bleibt? Auf seinem Phone zeigt er mir Bilder von seinen Wunschfahrzeugen - Träumen ist erlaubt... Soll er weiter träumen. Ich finde mich allmählich damit ab, dass ich diese Nacht in einem schäbigen Loch verbringen werde und kaum Aussicht auf Erstattung habe. Ich könnte etwas Yeats lesen, doch es gibt noch nicht mal eine Leselampe in meinem „Zimmer“! Der Abschied von Dublin wird mir leicht gemacht, sehr leicht - da geht es mir nicht anders als Sila. Niemals wolle er hierher zurückkommen!

Eigentlich habe ich keine Lust mehr aufs Nachtleben von Dublin, aber in meinem Loch von Unterkunft kann ich den Abend auch nicht verbringen. Zwischen Ha’penny Bridge und O’Connolly Bridge ragt eine Balustrade für Fußgänger über die Ufermauer des Liffey, Bänke laden zum Verweilen, die Abendsonne taucht die Kulissen der Stadt in Gelb und Orange. Die Leuchtreklame von Kneipen flackert. Die Straßenbeleuchtung schaltet sich ein. Noch hat das Nachtleben von Dublin nicht begonnen. Drei Bänke weiter ziehen sich zwei End30erinnen einen Joint rein. Obgleich ich jeglicher Art von Feinstaub-Konsum abgeschworen habe, der würzige Geruch hat was…

Gelegentlich schauen sie zu mir herüber, manchmal kichern sie. Suchen sie männliche Gesellschaft? Vielleicht sind sie dabei, sich meine Schönheit noch schöner zu rauchen. Jetzt bloß nicht schwach werden! Ich trinke ein Guinness und beobachte das Treiben ringsumher. Ein schnieke gekleidetes Hochzeitspaar veranlasst Autofahrer die Hupe zu drücken. Ein Mann untersucht Papierkörbe auf verwertbaren Inhalt.

Der Abend ist noch jung, ich drehe noch eine Runde durch das lebhafte Viertel der Temple Bar, auf den Straßen speilen Bands, Passanten tanzen. In den Pubs ist Partystimmung, ein Solist bringt die Massen mit Songs von Ben E. King und Otis Redding zu Tanzen und Mitsingen, die Weiber flippen aus, die Kerle zücken ihre Handycams. Ich weiche dem gröbsten Gedrängel aus, streife durch Nebenstraßen und Gassen - aus einer Kellerbar dringt irisches Gefiedel und Getrommel. Ich gehe die breite Treppe hinunter und bin plötzlich mitten in einer großen Saal, wo eine Show läuft, für die Leute wahrscheinlich viel Geld bezahlt haben. Auf der Bühne heizt eine Band zwei Paaren von Stepptänzern ein, die Schuhe klacken, die Röcke fliegen, das Publikum ist begeistert – und ich staune, wie ich so zufällig und ohne jede Eintrittskontrolle in die wohl gänzlich ausverkaufte Veranstaltung kommen konnte.



> Glendalough > Rathdrum

8. August
Trotz des Lochs, das heute Nacht mein Quartier war, habe ich gut geschlafen. ich bin in aller Herrgottsfrühe ausgeschlafen und zum Aufbruch bereit. Nach kurzem Kartenstudium und der Erfahrung von drei Tagen Dublin glaube ich, die Stadt so Pi mal Daumen in südlicher Richtung verlassen zu können. Das gelingt mir anfangs mit tatsächlicher Ortskenntnis, die südlichen Außenbezirke sind mir jedoch fremd und ich habe keinerlei Karte. Ich versuche mich am Sonnenstand zu orientieren - bei überwiegend bewölktem Himmel kaum möglich.

Ich frage den Fahrer eines geparkten Reisebusses. Der studiert meine Irlandkarte, dreht sie nach allen Seiten, sagt nach längerem, eher ratlosem Schweigen etwas wie: ja, da lang… Ob der Busfahrer mich überhaupt verstanden hat? Wie er meine Karte nach allen Seiten drehte, das wirkte schon seltsam. Vielleicht ist der Mann bereits komplett GPS-gesteuert und kann eine herkömmliche Straßenkarte gar nicht mehr lesen? Ich bin seit einer Stunde unterwegs und scheine noch immer im Speckgürtel der irischen Hauptstadt zu stecken.

An einer Straßenbahnhaltestelle frage ich eine Passantin, aber auch sie scheint sich nicht auszukennen. Ich habe das, Gefühl, sehr weit von meiner Richtung abgekommen zu sein, kehre um. Eine Joggerin kommt mir entgegen, ich halte an und gebe ihr ein Zeichen, damit sie anhält. Sie nimmt ihr iPhone von der Halterung an ihrem Oberarm und zeigt mir den aktuellen Standort in einer Kartenansicht auf dem Display. Durch Vergrößern des Ausschnitts wird klar, in welche Richtung ich muss. Sie fragt mich nach meiner Tour, was mein heutiges Ziel sei. Glendalough, antworte ich. Brave, kommentiert sie.

Ich war also doch ziemlich von der Richtung abgekommen, irgendwo in westlicher Richtung, muss mich nun ostwärts halten, zur Küste hin. Wieder nahe am Stadtzentrum schwenke ich auf eine mehrspurige Hauptstraße ein - die N31 bringt mich zur Küste. Und da kommt auch die Sonne heraus. In Blackrock schwenke ich zum Strand ein. Am Horizont verunstalten die Industrieanlagen des Hafens von Dublin die Landschaft: Rohrleitungsgewirr, Schornsteine, riesige Tankbehälter – eine Ölraffinerie? Amtliche Aushänge in einem verglasten Infokasten informieren über bakteriologisch verseuchtes Wasser - vom Schwimmengehen wird abgeraten: DO NOT SWIM.

Ein hübscher Küstenort ist Dun Laoghaire. Im Hafen hat eine Fährgesellschaft ihr Büro - ich frage nach einem Fahrplan mit den Verbindungen von Rosslare nach Frankreich, doch davon weiß der Mann nichts. Er sucht im Internet, findet aber auch da nichts Konkretes. Wegen eines Straßenfestes und wegen eines bevorstehenden Radrennens ist der öffentliche Verkehr auf der Küstenstraße gesperrt.

Mich lassen sowohl die Polizisten als auch die zivilen Ordner überall passieren - was für ein Gegensatz zu den wichtigtuerischen Jugendlichen, welche die Veranstalter des Ober-Elbe-Marathon rekrutieren... Am Ende des Ortes, nahe einer gut besuchten Badestelle, staut sich das Fußvolk. Der Jamce Joyce Tower, ein kleines Museum zu Ehren des Autors, zieht weitere Spaziergänger an - es ist Sonnabend, ein Tag für unterschiedlichste Zeitvertreibungsaktivitäten.

Auf der von Villen mit Seeblick gesäumten Küstenstraße geht es auf und ab. Etliche der Anwesen sind „for sale“ - Relikte der Immobilienblase, die Irland vor Jahren in die erste Bankenkrise der Eurozone gestürzt hat. Kurz vor Bray biege ich ins Hinterland ab - vielleicht zu zeitig. Im hübschen kleinen Ort Enniskerry zeigt ein Wegweiser nach Glandalough genau in die Richtung, aus der ich komme. Das kann doch gar nicht sein – wie soll ich das denn verstehen?

Ich frage einen Ortsansässigen, der klärt mich auf. Nein, das Schild sei falsch, schon seit ewig und drei Tagen zeige das in die falsche Richtung. Also einfach weiter geradeaus auf der R755. Es geht steil bergan aus dem Ort hinaus - und weiter auf und ab. Statt in ein Tal zum Courthouse Waterfall abzubiegen, bleibe ich auf der Hauptstraße. Solche Abstecher kann ich mir heute nicht mehr leisten, sonst wird es für die Quartiersuche zu spät.

Endlich erreiche ich mein bebsichtigtes Etappenziel: Gleann Dá Loch - das Tal der zwei Seen. Bereits zu Lebzeiten des iroschotten Mönches Kevin hatte sich herumgesprochen, dass die Eremitage mehr als ein Refugium für Einsamkeitssucher ist. Das Kloster wuchs rasch zum Pilgerort an und beherbergte in seinen besten Zeiten sieben Kirchen. Anderthalb Jahrtausende später hat das immergrüne Tal in den Wicklow Mountains nur wenig an Reiz verloren, mehrere Herbergen bieten ihre Betten feil. Doch es ist Haupturlaubszeit - und Sonnabend... Der indische Empfangsdiensthabende der Jugendherberge begrüßt mich mit den Worten: Fully booked.
 
Ein kleiner Abstecher zu den Klosterruinen führt mich zu dem 33 Meter hohe Rundturm, der mit seinem Kegeldach bereits seit einem Jahrtausend wie eine Rakete in den Himmel starrt. Selbst die Wikinger, die nicht gerade den Ruf eines Weltkulturerbe-Komites hatten, verschonten das exponierte Bauwerk, in dem die Mönche angeblich ihre Bücher, Reliquien und Kelche versteckt haben sollen – eine Legende, die ich nur bezweifeln kann. Wenn ich etwas zu verstecken habe, das mir heilig und unersetzbar scheint – mauere ich das dann in ein Gebäude ein, das so leicht zum Einsturz zu bringen ist, wie ein so schlanker Rundturm nur sein kann?

Die Mönche des Mittelalters mögen weltfremde, spirituell entrückte Eremiten gewesen sein - romantische Seelen, Naturfreunde, Kräutergärtner, Erfinder hochprozentiger Getreidesäfte - aber so einfältig, ihre kostbarstes Hab und Gut einem so unsicheren „Versteck“ anzuvertrauen, waren sie gewiss nicht... Der Ort lädt zum Sinnieren über das Leben vergangener Epochen ein - doch ich muss mich sputen, wenigstens im Vorort von Glendalough ein Quartier zu finden.

An der Einmündung zur R755, wo ein altes Hotel zu finden ist, ist genau wie in den Herbergen im einstigen Klosterort alles ausgebucht. Ebenso sämtliche B&B, die ich weiter südwärts an der Landstraße noch finde. Nichts. In meinem Radführer ist eine Jugendherberge in Rathdrum erwähnt. doch ich finde keinen Wegweiser. Ein Einheimische zeigt mir, wo es sein könnte... Als ich dort eintreffe - mal wieder im Regen, wird mir mitgeteilt, dass die Jugendherberge in ein Christian Recovery Home umgewandelt wurde. Okay, vielleicht kann das Christliche Erholungsheim auch einen müden Radfahrer einen Schlafplatz bieten… Nein, sorry, da ginge leider gar nichts: God bless you...

Gottes Segen habe ich also, danke dafür - und was nun? Im Ort gibt es mehrere Kneipen, einige B&B, sogar ein Hotel, alles schon voll. Die Kellnerinnen in dem einen wie im anderen Pub telefonieren für mich in der Umgebung herum, nichts. Außer ein B&B, da ist noch etwas frei, für 140 Euro… Did you say: one hundred and forty? - Yes. - Und ich dachte schon, die Herbergen irischer Großstädte sind unverschämt teuer… Nein, das kann ich mir beim besten Willen nicht leisten. Ohne die Hundert vor der 40 wäre es gerade noch im Budget gewesen. Schon wieder Stress, weil keine Bleibe für die Nacht zu finden ist. Es wird dunkel, es wird kühl, es nieselt.

Ein angetrunkener Mann torkelt über die Straße - in meiner verzweifelten Situation frage ich sogar ihn, ob er noch ein Quartier kennt. – Falls ich ein Zelt hätte, könnte ich es unten im Hidden Valley versuchen. Tja, was soll ich machen? Hier im Ort kann ich mein Zelt nicht aufschlagen, also runter ins versteckte Tal, bevor es ganz duster ist - steil hinunter! An einer Kreuzung bemerke ich ein Schild: HIDDEN VALLEY. Aha, das ist offenbar der Wegweiser zu einem Campingplatz. Na super! Warum hat mir niemand zuvor den Tipp gegeben? So versteckt ist das Hidden Valley ja nun auch wieder nicht, dass man nur zwei Kilometer davon entfernt nichts über den Zeltplatz weiß! Die Erleichterung, endlich einen Platz gefunden zu haben, wo ich mein müdes Haupt zur Ruhe betten kann, macht alle Sorgen des Abends wett - nach knapp 100 Kilometern im Sattel bin ich heute wirklich ziemlich erschöpft

Der Platzwart gestattet mir, auf einer separaten kleinen Wiese nahe am Eingang zu kampieren. Danach hatte ich gefragt, denn drüben am anderen Ufer eines kleines Flusses drängt sich ein Zelt ans nächste. Hier muss ich zwar die Rauchschwaden, die von Grillständen und Lagerfeuern zu mir herüberziehen, erdulden - aber bei dem erneut einsetzenden Nieselregen sicher nicht mehr lange. Soll es nieseln, soll es regnen - lieber nass auf einem Zeltplatz als nass am Straßenrand! Ich krieche in meinen kleinen Polyestertempel - und bete zu den schmalen Nähten über mir.


> Woodenbridge > Arklow > Courtown

9. August
Zum Glück hat es nicht die ganze Nacht geregnet. Das Zelt ist sogar schon gut abgetrocknet, als ich es um 7 abzubauen anfange. Eine Stunde später bin ich wieder on the road – zunächst steil hinauf nach Rathdrum. Auf halbem Wege zwischen Aughrim und Woodenbridge steht eine kleine Kirchenruine, Unkraut hat die verwilderten Grabsteine fast völlig überwuchert. Während ich ein Foto mache, holt mich die joggende Frau ein, die ich vor einer Weile überholt hatte. Sie erzählt mir die Geschichte der Kirche.

Castle MacAdam sei einst verlassen worden, weil man dank Bergbau in der Umgebung zu Wohlstand gekommen sei und deshalb eine neue Kirche bauen konnte. So ist die alte einfach nur verfallen - und die Natur holt sich ihr Gelände zurück. Ich plaudere noch ein Weilchen mit der Frau. Natürlich interessiert sie sich auch für meine Herkunft - man trifft nicht jeden Tag einen deutschen Pedalritter mit Ukulele auf dem Gepäckträger...

Bei Arklow nähere ich mich wieder der Küste, auf ruhigen Landstraßen (R742) erreiche ich halb 5 den Küstenort Courtown - beschaulich, aber alles andere als ein Geheimtipp. Um später nicht wieder in Quartiernot zu geraten, frage ich besser gleich hier nach einem Zimmer. Ein freundliches altes Mütterchen empfängt mich im Harbour House B&B, alles bestens: Handtücher liegen bereit, die Dusche ruft mich – purer Luxus nach einer Nacht bei Mother Nature.

Nach mir treffen noch zwei drahtige ältere Franzosen auf ebenso drahtigen Drahteseln ein. Mit deren rudimentären Englischkenntnissen ist ein allgemeiner Erfahrungsaustausch kaum möglich, aber für eine wichtige Information reicht es: Morgen 15.30 Uhr geht eine Fähre von Rosslare nach Cherbourg - Tickets und Kabine hätten sie schon gebucht. Ob ich die auch schaffen könnte? Etwa 60 Kilometer durch hügeliges Gelände in Küstennähe – wenn ich beizeiten losfahre und nicht zu viel Gegenwind bekomme, habe ich eine Chance.
 

> Wexford > Rosslare

10. August
Vorzügliches Frühstück, doch damit darf ich mich nicht lange aufhalten. Ich verabschiede mich von den Franzosen - mit einem zversichtlichen „Au revoir à Rosslare!“ Das Wetter ist sonnig - the sunny Southeast... Der Wind bremst etwas, aber ich komme gut voran. Auf der Landstraße, beim kleinen Ort Blackwater, holen mich die Franzosen auf ihren Rennrädern ein. Einer der beiden hat das gesamte Gepäck, der andere radelt völlig unbeschwert... Au revoir à Rosslare! rufe ich ihnen erneut zu, als sie mich überholen.

Kurz nach 14 Uhr quere ich die Brücke von Ferrybank - da pfeift der Wind gewaltig. Wenn ich weiter so in die Pedalen trete, schaffe ich die Fähre. Auf der N25 haben es auch einige Laster, Wohnwagen und andere Ölverbrenner eilig – der Seitenstreifen ist breit, aber manchmal vermüllt. In Killnick erreiche ich die Tankstelle, wo ich zum Beginn der Tour den Hinterrad-Schlauch wechseln musste und die nette Autofahrerin mir Papiertücher zum Trocknen meiner Hände brachte. Auf dem letzten Stück bis zum Hafen von Rosslare ermöglicht ein separater Radweg, noch mal kräftig in die Pedalen zu treten.

Ich schaffe es! Großartig! Es bleibt sogar noch Zeit für einen kurzen Boxenstop im Supermarkt - und dort treffe ich die beiden Franzosen wieder. Die bekunden mir Hochachtung für meinen Aufholsprint und gestehen, sie hätten beim Überholen in Blackwater nicht daran geglaubt, mich wieder zu sehen. - Ja, ich staune selbst, was ich da an Kraftreserven mobilisieren konnte. Andererseits passte das Wetter gut und es gab nur harmlose Steigungen. Ich kaufe mir etwas Proviant für die Überfahrt: Brot, Cheddar, Obst und eine kleine Flasche Sauvignon – mit praktischem Schraubverschluss...

Zügig weiter zum Terminal im Hafen - noch habe ich kein Ticket! Die Prozedur dauert ein Weilchen, aber es sieht aus, als gäbe es noch genug Platz für einen einzelnen Pedalritter. Nach dem Bezahlen der Fahrkarte mache ich einen inneren Luftsprung - vor Freude, dass auch das noch klappt. Einige Minuten später bin ich auf dem Schiff. Und damit habe ich den irischen Boden verlassen, jene Insel, die für fünf Wochen die irdische Basis meines bisher aktivsten Aktivurlaubs war. Geschafft, geschafft, geschafft!

In den Eingeweiden der Oscar Wild, so heißt der große Kahn, herrscht reges Treiben - das Einsortieren von Fahrzeugen aller Art braucht seine Zeit. Außer mir sind nur die beiden Franzosen mit Rädern an Bord – letztere, die Räder, die müssen gut angeschnallt werden, damit sie bei Seegang nicht umhergeschleudert werden. Aber wie und wo festmachen? Es gibt dafür keine speziellen Vorrichtungen. Das ist vielleicht auch besser... Denn wenn es welche gäbe, wären die wahrscheinlich genauso eng wie die viel zu knapp kalkulierten Fahrradhalterungen in den Radabteilen der Fernzüge.
 
Vor einem halben Jahrhundert sind Menschen zum Mond geflogen und, wie es Kennedy damals ausdrücklich versprochen hatte, sogar wieder zur Erde zurückgekehrt - das war ein gigantischer Schritt für die Menschheit, keine Frage. Wann folgt der kleine Schritt für die christliche Seefahrt, auf einem Riesenpott, der Hunderte Autos, Busse, Laster transportieren kann, mal eine geeignete Halterung für ein paar Räder zu installieren?! Nur an ölverschmierten Rohren kann man sein Rad mit Gurten festzurren – keiner der Einweiser kontrolliert die Sicherheit dieser Provisorien...

Über schmale Metalltreppen geht es einige Etagen aufwärts. Auf dem Hauptdeck begrüßt mich die Bordkapelle, eine Two-Men-Band mit Akkordeon und Geige, mit dem Ohrwurm „Don’t worry, be happy!“ – ein Schelm, wär das sarkastisch findet. Der Kontrast könnte nicht größer sein: gerade erst den Gedärmen eines Ozeanriesen entkommen, findet man sich in der Zirkusmanege einer schwimmenden Kleinstadt wieder. Die jüngeren Leute testen als erstes die WLAN-Hotspots, besetzen die Plätze an Steckdosen, um die Akkus ihrer diversen elektronischen Anhängsel nachzuladen. Die älteren Passagiere prüfen als erstes das Angebot der gastronomischen Einrichtungen.

Ein Frau im gestreiften Matrosenpullover steht neben den Musikern - ihre angeklebten Riesenaugenwimpern hüpfen auf und ab. Sie quasselt sie mit anderen Männern, die stecken gleichfalls in nostalgischen maritimen Kostümen - das ist dann wohl die künstlerische Abteilung der Crew. Wahrscheinlich hat das schöne Fräulein mit den knallrot lackierten Lippen noch andere Aufgaben als mit knallrot lackierten Lippen zufällig auftauchende Ukulele-Lehrer anzulächeln, aber jetzt bin ich eben dran. Da jenes Lächeln und Wimpernklimpern wohl im Fahrpreis enthalten ist, nehme ich das einfach mal mit.

Dutzende Kinder strömen in die für sie vorgesehenen Schreiabteile. Wie auf inzwischen wohl jeder Fähre der christlichen Seefahrt steht ihnen und ihren Eltern eine bunte Auswahl an Spielautomaten zur Verfügung - dort dürfen sie mit Spielzeug-MGs virtuelle Rambos abschießen. Ein Vater zeigt seiner kleinen, vielleicht 9-jährigen Tochter, wie man richtig losballert. Dann übergibt er ihr die Knarre, aber so richtig Spaß scheint ihr das Ballern nicht zu machen. Deshalb übernimmt der Herr Papa wieder – verrückte, kranke Welt!

Was soll nur aus Kindern werden, die so einem Wahnsinn vorgeführt bekommen? In der Nähe dieses Tollhauses ist es vor Geknatter nicht auszuhalten. Hinter der nächsten Ecke verspricht ein Pub erholsamere Kurzweil - einige Bier- und Whisky-Sorten stehen zur Auswahl - gegen ein letztes Guinness zum Abschied von Irland ist wahrlich nichts einzuwenden. Das holzgetäfelte Abteil ist allerdings dunkel, kein geeigneter Ort, um mal eben seinen Yeats zu lesen…

Als ein Fensterplatz frei wird, mache es mir dort mit meinem neuen Büchlein bequem. Kaum habe ich eine halbe Seite gelesen, passiert eine Horde nichtlesender Kinder... Angeführt wird sie von dem Fräulein mit den roten Lippen - jetzt trägt das Fräulein allerdings lange blonde Zöpfe - eine Pippi-Langstrumpf-Perücke. Mein Versuch, auf einer 20-stündigen Schiffsreise ein paar Seiten irische Nationalliteratur zu lesen, erweist sich als bildungsbürgerliche Schnapsidee.

Flucht aufs Außendeck - zwei Mädchen lehnen an der Reeling. Das Lächeln des einen zeigt eine bunte Zahnspange, das andere ist mit seinem Phone beschäftigt. Dann zeigt das eine dem anderen etwas auf dem iPhone, da kramt das andere Girl nach seinem eigenen, nun sind beide mit ihren Gerätschaften beschäftigt und zeigen sich abwechselnd Bilder, die augenscheinlich Anlass zum Kichern geben. Das lange Haar fliegt den beiden um leicht pausbäckige Wangen. Schwarzer Rauch quillt aus den Schornsteinen - mein heutiger CO2-Beitrag kann sich sehen lassen. Warum gibt es eigentlich keine Segelschiffe mehr?

Bei dem Wind, der hier übers Meer fegt, müsste man doch auch ohne diese Rohölverbrennern gut vorwärtskommen? Auf einem Riff, das nur wenige Meter aus dem Wasser ragt, steht ein weißer Leuchtturm vor blauem Himmel. Eitel Sonnenschein, als hätte es in den fünf Wochen Irland nicht ein einziges Regenwölkchen gegeben. Eine Frau in Motoradfahrerkluft bittet mich, ein Foto von ihr zu machen - von ihr und der untergehenden Sonne. Ich bitte sie umgekehrt, mich zu knipsen - der Wind zerzaust mein Haar. Nur eine Handvoll Leute von einigen Tausend Passagieren trotzen der starken Brise, genießen den Blick über die Irische See, hinter der ein glühender Sonnenball versinkt.

Ich begebe mich zu dem Deck für die kabinenlosen Fahrgäste. Auf die sogenannten Liegesessel verzichte nicht nur ich freiwillig - im Gang haben sich bereits einige Backpacker auf Matten ausgebreitet. Ein Mann meines Alters umschlingt ein ziemlich junges Ding - es sieht nicht nach Vater und Tochter aus. Zwei minderjährige Mädchen auf einer riesigen Luftmatratze schauen sich Filme im Laptop an. Ich breite meine Minimatte vor einem Fenster aus, öffne das Fläschlein Sauvignon, dank Schraubverschluss im Handumdrehen, kippe den Inhalt in ein Glas, nippe daran, lasse den Tag, lasse Irland Revue passieren.

Trotz des Schlaftrunkes ist es nicht leicht, Ruhe zu finden - alles vibriert vom Brummen des Schiffsmotors. Es ist nicht stürmisch, aber es schaukelt und schlingert - am Heck des Schiffes erreicht das Auf und Ab etliche Meter. Wenn so ein Koloss in Seenot kommt, wie kommt man da eigentlich zu den Rettungsbooten? Und wie kämen die Boote bei seitlicher Schieflage eigentlich zu Wasser? Gesetzt den Fall, man käme überhaupt noch aus dem sinkenden Koloss heraus: Wer würde mir, wenn ich mit letzter Kraft zu einem der wenigen zu Wasser gebrachten Boote geschwommen käme, die Hand reichen?

Würde mir der Vater jener Tochter helfen, der er im Spielautomatenabteil das virtuelle Töten schmackhaft zu machen suchte, dann aber nur davon abließ, weil er das Ballern selbst so geil fand? Ganz bestimmt nicht. Und sonst? Niemand ist zum Helden geboren – ich glaube, die große Mehrheit aller Passagiere würde wie der Kapitän der Costa Concordia agieren, der einzig und allein an sein eigenes Wohlergehen dachte. Darüber muss man keine Illusionen haben. Plan B? Wie lange hält man es im kalten Wasser aus? In metertiefen Wellentälern, in völliger Dunkelheit? Welche Arten von Wal und Hai und Quallen mag es in diesen Gewässern geben? Ich bin auf hoher See und habe die ganze Nacht Zeit, darüber nachzudenken - gute Nacht.


> Cherbourg > Paris

11. August
Land in Sicht. Mit halber Kraft voraus nähert sich das Schiff dem Hafen von Cherbourg – für die Crew mag das Landen Routine sein, für die meisten Passagiere geht die Aufregung jetzt erst richtig los. Noch bevor die Fähre steht, drängeln sich die Menschen an den Ausgängen. Doch die Treppen und Aufzüge sind gesperrt – das Personal ist auf den Ansturm vorbereitet. Große starke Männer in Uniformen und im Standby rauschende Funksprechgeräte sorgen für Respekt. Eine halbe Stunde sitze ich noch dort, wo gestern Abend kein Platz frei war - dann geht es hinab in den Bauch der Oscar Wilde.

Die Ladeluke ist noch verschlossen, keinerlei Frischluftzufuhr - dennoch laufen auf dem Fahrzeugdeck bereits die Motoren. Es fehlt jeglicher Vorteil, schon jetzt die Motoren laufen zu lassen. Ich und die beiden anderen Radfahrer, wir sind dem schwarzen Feinstaub und den giftigen Abgasen schutzlos ausgeliefert. So wie diese automobilisierten Egoisten hier nicht die geringste Rücksicht walten lassen, genauso skrupellos würden sie dich erschlagen, wenn du dich auf hoher See ihrem Rettungsboot nähern würdest. Als automobilisierter Vollegoist ist das Rudelwesen Mensch besonders abscheulich.

Gegen Mittag bin ich am Bahnhof von Cherbourg, zwei Schalter sind geöffnet, eine Warteschlange von 10 Leuten steht am Schalter - das kann dauern. In der Zeit versuche ich Französisch-Vokabeln zu reaktivieren: Je veux un ticket á Paris, pour moi et pour … Was heißt eigentlich Fahrrad auf französisch? Velo-irgendwas? Egal, bicycle versteht jeder. Die schöne Schalterangestellte honoriert meinen gut gemeinten Versuch mit einem hübschen Lächeln und erläutert mir alles Weitere auf Englisch.

Als alles geklärt ist, fällt mir ein, dass es wohl sinnvoll wäre, hier gleich noch das Ticket für die Weiterfahrt - von Paris nach Strasbourg - zu erwerben. Alles kein Problem - sie nimmt die gerade erst ausgestellten Fahrscheine zurück und stellt mir neue aus, so dass mein Anschluss in Paris morgen früh geht und ich mal wieder einen Abend in der Stadt verbringen kann, die meine erstes Ziel nach dem Mauerfall war.

Sehr entspannt läuft das alles, die Geduld in der Warteschlange zahlt sich aus. Ich wiederum honoriere ihr Entgegenkommen mit einem souveränen Merci beaucoup. Danach habe ich noch eine Stunde Zeit und drehe eine kleine Runde durch die Hafenstadt. 13.37 - auf die Minute pünktlich fährt der Zug ab - und er hält in jeder Klitsche: Valognes, Capentou, Bayeux, Caen, lese ich auf den Bahnhofsschildern.

Es wölkt sich ein... Regen aus vollen Kannen! Kann ich denn nicht mal in Paris einen sonnigen Abend erleben. Die Waggons sind spartanisch ausgestattet - WC wie einst bei der Reichsbahn der DDR: kein Wasser! Der Rgen lässt nach und wenig später scheint die Sonne wieder. Gegen 5 fährt der Zug im Pariser Gare Lazarus ein. Es ist sehr warm im Bahnhof, Soldaten patrouillieren in voller Kampfmontur und mit großen Maschinengewehren - eine Folge der Anschläge auf Charlie Hebdo. Soll die waffenklirrende Präsenz der Staatsmacht Dschihadisten abschrecken oder Bahnreisende in Sicherheit wiegen? Ich glaube, beides funktioniert so nicht...

Wahrscheinlich bleibt einem nichts anderes übrig, als sich an den Anblick martialischen Anblick zu gewöhnen... Willkommen in der „Stadt der Liebe“... Ich radle durch die engen Gassen am nördlichen Seine-Ufer. Es ist wirklich sehr warm, der Kontinent ist aufgeheizt, die Stadt glüht. Dennoch - oder gerade deshalb - wirkt Paris entspannt: der Verkehr rollt ohne jede Hektik, kein Stau, kaum eine Hupe ist zu hören. Viele Einwohner sind wahrscheinlich im Urlaub und der Stadt entflohen.

Nach einer Stunde habe ich ein Zimmer gefunden, teuer, aber fürs Zentrum von Paris wohl noch günstig, ruhig zur Hofseite. An der Rezeption möchte man meine Kreditkarte sehen, damit kann ich nicht dienen. Es gehe nur um Sicherheiten, falls ichbeispielsweise einen Schaden im Zimmer anrichten würde. Die Kreditkarte fungiert demnach zur „Schadensregulierung“? Wer die Kartennummer hat, kann sich also pauschal bedienen? Das lassen sich die Menschen gefallen? Wo leben wir? Der eigentliche Grund für die Bevorzugung der Kreditkarte in der gastronomischen Branche ist die Herrschaft über das Konto des Karteneigentümers? Wer hat, dem werde gegeben - König Kapitalismus macht’s möglich!

Immerhin, der Sohnemann des Hoteliers ist ein begeisterter Radfahrer - er begnügt sich mit 50 Euro Pfand und gestattet mir, mein Rad im Salon abzustellen - Vorsicht mit der holzvertäfelten Wand! Bloß gut, dass ich eine Kreditkarte habe... Das Zimmerchen ist okay und ruhig zum Hof gelegen, die Dusche funktioniert – was will man mehr. Voila, je suis en Paris.

Meine Füße führen mich zunächst zum Mont Matre, ich kenne die Stadt seit 25 Jahren - mein sechster Besuch, einen Stadtplan zum Bummeln brauchte ich in Paris nie. Die Treppen unterhalb Sacré-Cœur sind durch ein Publikum von 200 oder 300 Touristen zu einer Zuschauertribüne umfunktioniert, vor der sich Straßenkünstler, Artisten und Musiker tummeln. Die Atmosphäre ist friedlich - kein Polizist, kein Soldat, so wünscht man sich Paris. Bier- und Jointverkäufer versuchen ihre Geschäftchen zu machen. Ich setzte mich auf eine Treppenstufe und lasse meine Augen über die Dächer von Paris schweifen.

Nachdem ich etwas ausgeruht bin, spaziere ich durch den kleinen Park unterhalb der Treppen - Square Louise Michel, von wo ich durch das Viertel streife, in dem mein Hotel liegt. Ich gelange geradezu direkt zum Louvre - die berühmte Ausstellung habe ich schon besucht, Silvester ’89... Lange her, aber das mysteriöse Lächeln der Monalisa wird wohl heute auch nicht mysteriöser lächeln als damals. Am Seine-Ufer entlang gelange ich zur Pont Notre Dame und über die Brücke auf die Ile de la Cité. Es ist bereits dunkel und Paris flimmert und glitzert so vor sich hin.

Vor der berühmten Kathedrale wuseln Reisegruppen, Pärchen machen Selfies, Souvenirverkäufer bieten Postkarten und kleine Plastik-Eifeltürme feil. Auf der Seine spiegeln sich die Lichter von Booten und Laternen - über Pont au Double gelange ich ins Quartier Latin. Die Lädchen in den Gassen blinkern mit ihren Reklameschildern, Fastfood- und Nobel-Restaurants wechseln einander ab. Mögen auch viele Einwohner der Stadt verreist sein, das Gewimmel in den Gassen könnte bunter und quirliger kaum sein. Trotzdem, Discos und Nachtbars müssen auf meinen Beitrag zur Finanzierung des Pariser Nachtlebens verzichten.


> Strassbourg > Karlsruhe

12.8.
Französisches Frühstück - na, ja, ein Croissant halt. Etwas dürftig für 9 Euro! Beim Auschecken frage ich nach meinem Pfandgeld. Ich bekomme ein Couvert, darauf steht ein anderer Name und der doppelte Betrag: 100 Euro. Kann nicht meins sein, sage ich der jungen Frau an der Rezeption. Sie sucht nach einem anderen Couvert, findet eines und darauf steht dann auch mein Name. Es dauert etwas, bis ich wieder alles auf mein Rad gepackt habe. Als ich ein Weilchen später mit meinem Rad die Rezeption passiere, bedankt sich die Frau dann doch noch...

Paris an einem Mittwochmorgen mitten im August: Kehrmaschinen fegen über die Fußwege. Obdachlose dösen auf Bänken, einige verwahrloste Gestalten schlendern umher. Ich weiche einer jungen Frau aus, die mit verdrehtem Blick auf mich zukommt. Sie stinkt nach Alkohol, nach Pisse, nach Hund - ihrem Hund macht das nichts aus. Das französische Wort Clochard mag für deutsche Ohren romantisch klingen, doch hier torkelt nur ein zerkratztes Häufchen Elend ziellos durch die Straßen – ich weiche ihm aus.

Gare de l’Est. Ich habe noch genug Zeit, doch ich halte mich lieber auf dem Bahnhof auf als unter den streunenden Bettlern. Während ich auf einer Bank sitze und diese Zeile schreibe, taucht die schmutzige Hand eines Bettlers über meinem Tagebuch auf, auch hier kann man sich nicht sicher fühlen. Alles muss ich permanent im Blick behalten: mein Rad, mein Gepäck, mich selbst. Mit einem Auge folge ich meiner schreibenden Hand, das andere kontrolliert die Umgebung...

In der Shopping-Zone des Bahnhofs steht ein Piano zur allgemeinen Benutzung: À VOUS DE JOUER! Ein junger Mann nimmt das Angebot an und klimpert leidlich darauf herum – zum Glück sind keine Kinder hier... Bis wenige Minuten vor der geplanten Abfahrtszeit muss man die elektronischen Anzeigetafel im Auge behalten, denn der Bahnsteig wird – wie in Großbritannien - erst kurz vor der Abfahrt bekannt gegeben. Aus dem Zug steigen Leute aus, auch mit Rädern, es gibt Gedrängel. Nur drei Stellplätze für Räder sind in der viel zu engen Nische des Wagens. Noch immer wollen Leute rein und raus und raus und rein - mit riesigen Koffern. Das hektische Hin und her lässt nicht nach - Stress irgendwie.

10.55, pünktlich rollt der Zug los, quietschend in den engen Kurven der City, durch die Betonghettos der Banlieues, jenen Bannmeilen der glitzernden Metropole, wo die Interpreten des Propheten das Sagen haben. Gut dass ich die Bahn-Tickets schon in Cherbourg gekauft hatte - die Besitzer der beiden anderen Räder, zwei ältere Berliner, erzählen mir nach einer Weile, dass sie eigentlich zu dritt auf Tour seien. Aber der dritte Stellplatz – also meiner - war bereits gebucht! Nun muss ihr dritter Mann später nachkommen, sich ganz allein durchschlagen...

In Strasbourg ist es noch wärmer als in Paris - der Kontinent ist von einem Hitzesommer aufgeheizt hat und die Sonne steht zu dieser vorgerückten Mittagszeit im Zenit. Fragt sich im Nachhinein, womit es sich besser radeln lässt - mit irisch kühler Nässe oder mit kontinental heißer Trockenheit? In Strasbourg verfahre mich etwas, erst am Rhein kann ich mich wieder gut orientieren - ich folge dem Fluss in nördlicher Richtung, erst am westlichen, dann am östlichen Ufer. Und damit bin ich zurück in Deutschland.

Der Rhein-Radweg verläuft hier auf dem Hochwasserdamm. Nirgends spendet ein Baum Schatten. Wegen des langsamen Fahrens auf der Schotterpiste kann der Fahrtwind die Hitze kaum mildern. An einem Abzweig steht mir ein Grüppchen radelnder Rentner im Weg. Sie grüßen freundlich, ich komme nicht an ihnen vorbei – und das soll ich wohl auch gar nicht. Warum will ein alter Mann, der bis vor einigen Sekunden noch nicht einmal von meiner Existenz wusste, plötzlich wissen, woher ich komme, wohin ich will? Aus Wissensdurst wohl kaum... Reine Neugier - und vor allem: Um mir nach meiner Antwort einen Vortrag darüber halten zu können, wie schön doch die deutsche Heimat sei und dass man überhaupt gar nicht in die weite Ferne fahren müsse...

Ich bin noch keine halbe Stunden in deutschen Landen und schon versucht ein mir völlig fremder Bürger dieses Landes, mir seinen deutschen Klugschiss aufzudrängen! Ich kenne diesen Mann nicht und ich habe ihn nicht nach seinen Ansichten gefragt - er steht mitten auf dem Weg und nutzt den dadurch erzwungenen Halt, mich zu belehren, was ich aus seiner Sicht zu tun und zu lassen habe... Jetzt muss er mir nur noch erklären, dass in der DDR jeder einen sicheren Arbeitsplatz hatte ...

Um weiteren Begegnungen mit Elektrorad-Geschwadern zu entgehen, weiche ich auf die noch geruhsame Landstraße aus, aber auch weil es sich auf der Asphaltdecke besser fahren lässt. Ein weiterer Vorteil: ab und an spendet ein Grüppchen Bäume Schatten. Auf einer Umgebungstafel kann ich den nächsten Streckenabschnitt erkunden - ich folge den grünen Flächen, zweige von der Hauptstraße ab und komme durchs Dörfchen Leutesheim. Auch der Radweg durch eine Apfelbaumplantage ist erholsam.

Ein besonders unwiderstehliches Refugium ist der an einem kleinen Badesee in einem Wäldchen versteckte Seeimbiss Honau – nach einem Sprung ins kühle Nass. Das Kleinod scheint mir bestens geeignet, um mich mit meinem alten Freund Matti zu verabreden, der nicht ganz zufällig beruflich in der Nähe zu tun hat. Mit seinem Kleintransporter kann er mich hier samt Rad auflesen. Doch bis dahin ist erfreulich viel Zeit, mich an einem frisch gezapften Kristallweizen zu ergötzen.

Auf halben Weg zwischen Karlsruhe und Bretten endet der heiße Sommertag im Ländle. Manch kühles Blonde rinnt am Abend auf der Gartenterrasse hinter unsere Kehlen. Meine Eindrücke von der größten Herumfahrerei meiner bisherigen Lebensreise sind noch frisch und unsortiert, ich erzähle ein paar Reiseepisoden. Und Matti kann mitreden! Wir teilen nicht nur die Begeisterung für irische Balladen, für Abende zwischen Banjos, Mandolinen und Geigen seit über 30 Jahren, auch er kennt die windumtosten Küstenstraßen aus eigener Radler-Erfahrung – auch er hat den täglichen Güssen des Himmels in den Bergen und Tälern zwischen zwischen Dingle und Donegal getrotzt. Da gibt es Erfahrungsaustausch im wörtlichen Sinne.

> Dresden

13.8.
Wie bei den Zügen in Frankreich sind auch bei der Deutschen Bahn die Kapazitäten an Radstellplätzen schnell erschöpft. Erst später am Nachmittag gibt es zwischen Karlsruhe und Dresden eine Verbindung mit Radmitnahme. Ein anderes leidliches Thema ist der für Räder viel zu knapp bemessene Platz im Radabteil – selbst für schlanke Drahtesel ist der Abstand zwischen den Halterungen recht eng. Mit meinem Kreuzer, mit dem ausladenden Cruiser-Lenker und den fest verbauten seitlichen Gepäcktaschen wird das Einrangieren zur Herausforderung. Nervt dann noch eine alte Zicke herum, wird es Stress. Eine Radlerin mittleren Alters stößt sich daran, dass sie sich an meinen Gepäcktaschen stößt...

Ich biete Hilfe an, ich bugsiere ihr Rad in die für sie reservierte Lücke – es ist knapp, aber irgendwie passt es schon. Alles in Ordnung, denke ich... Doch jetzt mault sie mich erst recht an - ich hätte „eben keine Einsicht“ sagt sie... Keine Einsicht??? - Hallo, ich habe Ihnen gerade geholfen, Ihr Rad einzufädeln – alles ist erledigt, es passt, wackelt und hat Luft! Wo ist das Problem? Sie könnten sich eigentlich für meine Hilfe bedanken, dann einen Sitzplatz suchen und gut... Stattdessen suchen Sie einen Streit. Gut, dann gehen Sie meinetwegen zum Schaffner und beschweren sich! Ansonsten halten Sie einfach Ihren Schnabel, verstanden!

Bemerkenswerterweise macht sie letzteres, sie geht und hält ihren Schnabel... Noch mehr staune ich aber über ihren Begleiter, der hält sich völlig raus – nicht die geringste Einmischung, weder Wuff noch Waff gibt er von sich. Vielleicht hat er gute Gründe und freut sich im Stillen, dass er selbst in Ruhe gelassen wird... Egal! Wahrscheinlich ist es gar kein psychologisches, sondern ein soziologisches Phänomen. Noch keine 24 Stunden bin ich zurück in der Spießbürgerrepublik Deutschland – und schon wieder versucht jemand völlig grundlos, mich zu belehren! Erst der pensionierte Heimatkunde-Lehrer mit dem E-Bike - und jetzt diese ewige FDJ-Leiterin mit ihrem Gefasel von Einsicht.

Im nächsten Zug ist der Wagon mit dem Radabteil wegen defekter Klimaanlage gesperrt. Man darf zwar sein Rad einstellen, muss dann aber zum nächsten Waggon durchgehen. Eine junge Frau diskutiert mit der Schaffnerin, sie habe kein Schloss und könne ihr Rad nicht anschließen, und deshalb wolle sie nicht in den nächsten Waggon durchgehen. Also entgegnet die Schaffnerin, sie habe Weisung und kann da nicht einfach Ausnahmen machen. Eine andere junge Radlerin bietet ihr an, sie könne ihr Rad zusammen mit dem ihrem anschließen - das Angebot nimmt sie erleichtert an.

Wegen des nicht nutzbaren Waggons sind im nächsten die Sitzplätze knapp, doch schließlich finden alle was. Mir gegenüber sitzt eine Frau mit russischem oder polnischen Akzent, die kommt gerade aus Tokio und zeigt befreundeten Fahrgästen ihre Japan-Souvenirs - diverse Kosmetika. Die würde sie wegen der schlechten Luft im Waggon am liebsten gleich einsetzen - ihre deutschen Bekannten können sie davon abhalten. Auf der anderen Seite sitzt die junge Radlerin, die sich noch immer sehr um ihr Rad sorgt. Während der Fahrt sieht sie sich einen Film in ihrem Laptop an, doch an jeder Station steht sie auf, um nach ihrem Rad zu sehen. Erst wenn der Zug anfährt, kommt sie zurück – ein klarer Fall von Paranoia infolge eines kürzlich widerfahrenen Diebstahltraumas... Ja, die Welt ist schlecht und voller Diebe, ich kann sie gut verstehen. An jeder Station geht sie erneut zum Radabteil - und ich vermute, sie ist selbst beim Video-Gucken in Gedanken nur bei ihrem Rad. Ich will kein Gespräch anbändeln, aber dann bin ich doch neugierig, ob ich mit meiner heimlichen „Psychoanalyse“ richtig liege.

Ja, sie sei sehr besorgt, denn erst vor einer Woche sei ihr Lieblingsrad gestohlen worden und daran habe sie sehr gehangen. Das Rennrad, mit dem sie jetzt unterwegs ist, sei zwar wertvoller, aber man hänge eben an den alten Gefährten. Dann kommen wir auch über andere Radfahrerthemen ins Gespräch. Langsam entspannt sie sich - bei der nächsten Station – wir sind noch im Gespräch - verzichtet sie sogar auf ihren Kontrollgang. Sie will wie ich nach Dresden - wegen 10 Minuten Verspätung verpassen wir in Leipzig leider den Anschluss. Man könnte es mit dem ICE versuchen, meint sie. Aber die nehmen meines Wissens keine Räder mit, gebe ich zu bedenken. Man könnte es dennoch versuchen. Wenn der Zug erst einmal rolle, gäbe es ja bis Dresden keinen Halt… Sie scheint sich auszukennen.

Kein Personal in Sichtweite, also wuchte ich mein Rad in den Zug. Kurz vor der Abfahrt, kommt ein Schaffner, der befiehlt lapidar: Raus! - Der ehemalige NVA-Offizier scheint die Masche schon zu kennen, will mit seinem rüden Tonfall klarstellen, dass er keine Diskussion duldet. Also versuche ich auch gar nicht erst zu diskutieren - er hat halt seine Weisungen und ich bin mir sicher, er liebt seinen Job. Was er nicht bemerkt hat, ist dass die Rennradlerin, die sich und ihr en Drahtesel einstweilen hinter einer Reklametafel auf dem Bahnsteig versteckte hatte, genau den Moment abpasste, in welchem er mit mir beschäftigt war! Während ich aussteige, sehe ich, wie sie ein Stück weiter vorn in einen Wagen hineinhuscht. Es folgt der Pfiff und schon rollt der Zug los - ohne mich, aber mit ihr.

Es sei ihr vergönnt. Nun habe ich viel Zeit - anderthalb Stunden auf dem Leipziger Hauptbahnhof. An einem Bäckerstand gibt es Pizza. Der Duft und der Anblick machen Appetit. Ich weiß genau, dass diese Industriepampe nicht gesund sein kann, aber der Duft siegt über das bessere Wissen, siegt über jede Vernunft. Einmal kurz in der Mikrowelle aufgewärmt und fertig ist das Schnellfutter – über die ersten fünf Minuten des erzwungenen Aufenthaltes kann ich mich mit dieser kurzweiligen Gaumenfreude hinwegtrösten. Doch was nun?

Die Bahnhofskneipe hat bis 22 Uhr geöffnet - immerhin. Im Fernseher wird ein Fußballspiel übertragen - Leipzig spielt in Dresden... Na, toll - da habe ich dann also gute Chancen, in Dresden gleich noch ins Gewühl heimkehrender Fußballfans zu geraten? Nein, beschwichtigt die Barkeeperin, bis dahin seien die Fans längst auf der Heimfahrt. Und ehe der Zug hier ankäme, sei sie erfreulicherweise selbst auch schon zuhause. Ich ertränke meine Skepsis in einem Bier - und lege später einen Espresso nach. Ich muss ja nachher noch durch Dresden radeln - durch den Großen Garten und heim nach Laubegast, wo ich vor genau sechs Wochen startete.

In diesen sechs Wochen, traf ich nur zwei weitere Radler, die das gleiche Ziel hatten: ganz Irland umrunden - einen jungen Franzosen und einen Rentner aus Belgien. Vielleicht schreibt letzterer ein Tagebuch und gibt es später seinen Kindern zu lesen - und die erzählen dann ihren Kindern von Opas tollkühnen Radtouren. Der junge Franzose führt womöglich einen Blog im Internet, es würde mich wundern, wenn er es nicht täte. Beide sind noch unterwegs, sie gönnen sich doppelt so viel Zeit. Ich schreibe auch ein Tagebuch. Nein, ich schreibe es auf meiner Fahrt - ich nenne es Fahrtenbuch. Vielleicht lasse ich das später auch andere lesen...

Ohne weitere Zwischenfälle fährt der Zug um Mitternacht in den Dresdner Hauptbahnhof ein. Die freundliche junge Schaffnerin, die mir schon bei der Fahrscheinkontrolle erläuterte, dass mir für die Verspätung Entschädigung zustünde, bietet mir an, meinen Antrag auf Fahrpreisermäßigung gleich selbst einzureichen. Wenn ich einen Moment Zeit hätte und auf sie warten würde, sie habe jetzt Feierabend, müsse noch mal schnell in ihr Büro - dort könne sie den Antrag gleich abgeben und mir nachher eine Kopie mitbringen... Oha! So schön können Dienstvorschriften sein...

Es gibt nur eine plausible Erklärung für dieses Entgegenkommen: die unwiderstehliche Wirkung eines nach großer Fahrt heimkehrenden Pedalritters auf junge Schaffnerinnen.





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Unterwegs mit der Ukulele



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